Den Auftakt machte die mehr als 35-stündige Zugfahrt von Innsbruck nach Moskau. Ein Direktzug brachte die Gruppe direkt von Innsbruck über Wien, Warschau, Brest und Minsk sicher nach Moskau, wo wir am 11. Februar im Schneegestöber am Weißrussischen Bahnhof ankamen. Die Aufenthalte im Speisewaggon nutzten wir für Referate und Diskussionen.
Die Anreise mit dem Zug aus Innsbruck nach Moskau brachte zwei wesentliche Erfahrungen mit sich: Einerseits galt es, die Strecke und den Raum zu ermessen und dabei auch zu erkennen, wie sich die Landschaft von Österreich über Polen nach Weißrussland und Russland markant verändert. Auch konnten wir erleben, wie Mitten in der Nacht an der Grenze zu Weißrussland (Brest) die Waggons in kürzester Zeit auf die größere Spurbreite der russischen Bahn umgehoben wurden. Die zweite – nicht weniger wichtige Erfahrung – betraf die Grenze selbst. Innerhalb der Europäischen Union sind wir es mittlerweile gewohnt, Grenzen zu überschreiten, ohne es zu merken. Hier konnten wir erleben, welche Hindernisse und Schwierigkeiten politische (und technische Grenzen) für den Alltag der Menschen mit sich bringen können.
Gleich am ersten Tag führte uns die Exkursion in das eineinhalb Stunden mit dem Zug außerhalb Moskaus gelegene Kloster Neu-Jerusalem, das erst vor wenigen Jahren (2017) wiedereröffnet werden konnte, nach dem es im Dezember 1941 von deutschen Truppen weitgehend gesprengt worden war. Heute zählt die nahezu exakte Kopie der Jerusalemer Grabeskirche zu den wichtigsten Kunstdenkmälern in der Umgebung von Moskau. Es ist nicht nur ein wichtiger Ort für Pilger sondern zugleich auch weithin sichtbarer Ausdruck des politischen Willens und der überaus engen Verbindung von Staat und Kirche im heutigen Russland.
Freundlicherweise wurden wir während der Exkursion in der Residenz des Österreichischen Botschafters (SE Dr. Johannes Eigner) in Moskau empfangen. Das Gebäude – unweit des Kremls – blickt auf eine vielseitige Geschichte zurück. Gebaut Anfang des 20. Jahrhunderts wurde es Ende der 1920er Jahre der jungen Republik Österreich als Botschaftsgebäude zugewiesen. Nach 1938 fungierte es bis zum Kriegsausbruch 1941 als Gästehaus des Deutschen Reiches um dann nach 1945 wieder der Republik übergeben zu werden. Während der Staatsvertragsverhandlungen in den 1950er Jahren traf sich hier regelmäßig die österreichische Delegation für Gespräche.
Das Rundgemälde der Schlacht von Borodino 1812. Der (erste) Vaterländische Krieg nimmt in der kollektiven Erinnerung Russlands seit jeher einen gewichtigen Platz ein. Das Museum geht in seiner Ausführung (ähnlich dem Innsbrucker Bergisel) auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück. Nach den Wirren der Revolution wurde das Rundgemälde erst in den 1960er-Jahren wiedereröffnet. Somit schloss die UdSSR in gewisser Weise an die vorrevolutionäre Erinnerungstradition an. Das Museum liegt mit dem Poklonnya Gora und dem Triumphbogen am Kutuzow-Prospekt in einer Linie entlang jener Straße, die sowohl im 19. als auch im 20. Jahrhundert das Einfalltor für Invasoren bildete.
Mithin zu den ‚Höhepunkten‘ des Moskau-Besuchs gehörte der Besuch des Friedhofs beim Jungfrauenkloster. Auf dem Prominenten-Friedhof kann man nicht nur die Gräber des ersten Präsidenten Russlands (Boris Jelzin), von berühmten Schauspielern und Sängern besuchen. Es liegen hier auch zahlreiche Revolutionäre und während der Jahre des großen Terrors unter Stalin Ermordete begraben. Wir suchten das Grab eines gebürtigen Innsbruckers (Peter Demant 1918-2006) auf, der während des Krieges als Zwangsarbeiter ins Innere der Sowjetunion in den GULag verschleppt worden war. Nach seiner ‚Befreiung‘ 1956 blieb er – mittlerweile unfreiwillig sowjetischer Staatsbürger geworden – bis Ende der 1970er Jahre an der Kolyma, über 6000 Kilometer östlich von Moskau. Im Jahr 2006 fand er im Grab seiner Schwiegereltern, einem Generalleutnant der Roten Armee (!) seine letzte Ruhestätte.
Das Mitte der 1990er Jahre eröffnete Museum am Poklonnaya Gora in Moskau thematisierte von Anfang an den Großen Vaterländischen Krieg (nicht den Zweiten Weltkrieg!), in den die Sowjetunion erst im Juni 1941 eintrat. Die Darstellung eines der zentralen Narrative des heutigen Russlands folgt zunehmend geschichtspolitischen Gesichtspunkten, die den größeren Kontext weitgehend ausspart und bewusst eine ganz bestimmte Perspektive einnimmt. Damit bleiben viele Leerstellen und Fragen offen. Am 23. Februar feiert man in Russland traditionell den Tag der Streitkräfte, anlässlich des nahenden 75-Jahr-Jubiläums des Kriegsendes gab es hier etwa am 13. Februar, der Befreiung Budapests einen Ehrensalut sowie ein Feuerwerk.
Die NGO Memorial bemüht sich seit über 30 Jahren um die Menschenrechte in der Sowjetunion und die Dokumentation staatlicher Repression. Die Studierendengruppe aus Innsbruck konnte nicht nur die derzeit laufende Ausstellung über Antisemitismus in der Sowjetunion nach 1945 informieren, sondern auch einen Vortrag mit anschließender Diskussion der wissenschaftlichen Leiterin Irina Schtscherbakowa hören. Die Organisation sammelt und archiviert vor allem Ego-Dokumente von Repressierten, darunter auch zahlreiche Österreicher, die v.a. während der Stalin-Zeit in die Lager des GULAG verschleppt wurden.
Neben der Holocaust-Foundation und der Basilius-Kathedrale am Roten Platz stand ebenso das Staatliche historische Museum der Stadt Moskau auf dem Besuchsplan, wo wir vom stellvertretenden wissenschaftlichen Direktor empfangen wurden. Danach hatten wir als besondere Gäste die seltene Möglichkeit, zwei Sammlungsdepots zu besichtigen. Im Bild die Abteilungsleiterin der Möbelsammlung, die uns die Lebkuchen (sic!)-Kollektion des Museums zeigt. Darunter vergoldete Exemplare vom Beginn des 20. Jahrhunderts.
Am Sonntag, den 17. Februar spätabends, kehrte die Gruppe, nach einem üppigen Abendessen mit russischer und georgischer Küche – mit dem Flugzeug – wieder wohlbehalten, aber voller Eindrücke, nach Innsbruck zurück. Die vielen Erfahrungen und Gedanken sowie die zahlreichen zu Fuß in der weitläufigen Stadt zurück gelegten Kilometer werden uns wohl noch über Wochen hinweg beschäftigen. Nicht alles konnte vor Ort diskutiert und verarbeitet werden. Jedenfalls sollten diese Impressionen für das weitere Studium auch die Basis für eine kritische Auseinandersetzung mit Geschichtsschreibung, ihrer Umsetzung und Diskussion in der Gesellschaft bereitstellen.
Kurt Scharr & Gunda Barth-Scalmani