Wer sich schon immer gefragt hat, was denn die „wirkliche“ Identität des Elsass ist, ob in Sprache und Kultur die deutschen Einflüsse oder die französischen überwiegen und wie die Region, die historisch im Konfliktfeld zwischen den beiden Ländern hin und her gerissen wurde, mit diesem doppelten, aber eben auch als antagonistisch empfundenen Erbe umgeht, der hätte sich den Online-Vortrag von Jean-Marie Woehrling am 22.4.2021 unter dem Titel „Die Besonderheiten des Elsass innerhalb des französischen politischen Systems“ anhören sollen. Organisiert wurde der Abend vom Frankreich-Schwerpunkt der Universität Innsbruck in Zusammenarbeit mit dem Institut für italienisches Recht und dem Institut für Europarecht; er fand im Rahmen einer Veranstaltungsreihe des Frankreich-Schwer¬punkts zum Thema „Elsass – Alsace“ statt, die von Soziolinguistik bis Architekturgeschichte die verschiedensten Aspekte dieser Ausnahme-Region beleuchtet.
Eine Ausnahme ist diese Region u.a. deshalb, weil sie eine Reihe von rechtlichen Besonderheiten für sich in Anspruch nimmt, die keine andere Region Frankreichs für sich beanspruchen kann: u.a. einige (noch aus „deutschen“ Zeiten vor 1918 stammende) bemerkenswerte lokale Gesetze, insbesondere die Abweichung von der für die Identität der „République française“ so wichtigen „laïcité“, wie die Möglichkeit der Behörden, mit Kirchen kooperative Beziehungen zu haben (ähnlich wie in Österreich oder Deutschland) sowie die Bezahlung der Priester durch den Staat.
Abgesehen von diesen rechtlichen Besonderheiten, die heute angesichts der Säkularisierung des Alltags nur mehr symbolische Bedeutung haben, erklärt sich die Ausnahmestellung des Elsass aus dessen Geschichte: Im Hochmittelalter war es Teil eines Raumes „Oberrhein“ und daher tatsächlich eine Verbindung, eine Brücke zwischen dem deutschen und dem französischen Kulturkreis; Zeugen dieses „goldenen Zeitalters“ sind der Dichter Gottfried von Straßburg, der mit „Tristan und Isolde“ einen keltischen Erzählstoff für die deutsche Literatur fruchtbar gemacht hat, und das Straßburger Münster, an dem Bildhauer aus der Ile de France mit Architekten aus Deutschland zusammengearbeitet haben.
Die Besitzverhältnisse ändern sich erst nach Ende des 30-jährigen Krieges, als 1681 Straßburg, und um dieselbe Zeit auch das ganze Elsass, de facto französisch werden. Der Großteil der Bevölkerung behält ihre deutsche Sprache und Kultur, aber die Eliten assimilieren sich und das Französische gewinnt an Bedeutung.
Erst die französische Revolution wird Französisch und die französische Kultur teilweise mit Gewalt durchsetzen. Trotz der Existenz widerständiger Eliten, die die Beziehung zu Deutschland aufrechterhalten wollen, gibt es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts keine politischen Forderungen diesbezüglich. Wenn Frankreich den Krieg von 1870 nicht verloren hätte, hätte das Elsass sich innerhalb Frankreichs assimiliert.
Aber es kam anders, und die Region wurde 1871 Teil des Deutschen Reichs, in Form des Reichslandes Elsass-Lothringen, das eine gewisse Autonomie hatte und eine eigene Identität auszubilden begann. Sprachlich wurde das Deutsche verstärkt, die Dialekte florierten; aber die französische Sprache wurde dadurch nicht geschwächt. Auch dies hätte ohne große Widerstände zu einem Dauerzustand werden können.
Wenn – ja, wenn es nicht den Ersten Weltkrieg gegeben hätte, der dem Elsass eine politische Diktatur und eine repressive Germanisierung brachte. Daher war der Großteil der Elsässer 1918 sehr wohl bereit, wieder Franzosen zu werden; die Autonomiebestrebungen waren eine Antwort auf den Zentralismus und den Antiklerikalismus des französischen Staates. Deren Forderungen waren moderat, wurden aber von der Zentralregierung als Verrat gewertet. Die Tatsache, dass einige autonomistische Führer mit den Nationalsozialisten sympathisierten, war einen Vorwand, um nach dem Krieg die autonomistischen Bestrebungen ganz generell schlechtzumachen.
1940 erfolgte die De-facto-Annexion des Elsass an Nazi-Deutschland. Zur sprachlich-kulturellen Unterdrückung und Deportation Frankophoner kam in der deutschsprachigen Bevölkerung der hohe Tribut an Gefallenen dazu, die für die Deutsche Wehrmacht und die Waffen-SS als „Volksdeutsche“ zwangsrekrutiert worden waren (und von denen etliche in einem Prozess 1948 gleichsam stellvertretend für das ganze Elsass schuldig gesprochen wurden).
Nach dem Krieg war daher das Ansehen nicht nur Nazi-Deutschlands, sondern auch der deutschen Sprache und Kultur auf einen Nullpunkt gefallen; dazu betrieb der französische Staat bis in die 70er-Jahre und darüber hinaus eine radikale Assimilierungspolitik. Die unterschwellig als Kollaborateure verdächtigten Elsässer wünschten sich angesichts dessen nichts anderes, als „ganz normale Franzosen“ wie alle anderen zu werden und den deutschen Anteil an ihrer Sprache und Kultur abzuschütteln.
Erst in jüngerer Zeit wird wieder die Elsässische Identität mit ihren französischen und deutschen Anteilen und ihrer jahrhundertelangen Brückenfunktion beansprucht. Ein Auslöser dafür war die 2015 im Rahmen der Territorialreform erfolgte Auflösung der Region Elsass und deren Aufgehen in einer größeren Region „Grand Est“. Es kam zu Protesten und zu einer Rückbesinnung auf die ganz besondere Eigenheit der Region, worauf der französische Staat mit der Bildung eienr „Collectivité Européenne d’Alsace“ reagierte, die zwar nur eine Zusammenlegung der zwei bestehenden Départements Ober- und Unterelsass darstellt, die aber gesetzlich berufen ist, die Zweisprachigkeit und die grenzüberschreitenden Initiativen zu fördern.
Besonders interessant, ja richtig verzwickt, ist die soziolinguistische Situation des Elsass als zweisprachiger Region. Bis zum Zweiten Weltkrieg bedeutete Zweisprachigkeit, dass die Verbindung von Französisch und Deutsch die elsässische Identität ausmachte, wobei jede dieser Sprachen aus einer (geschriebenen und bei offiziellen Anlässen verwendeten) Hochsprache und den (im Alltag und in informellen Kontakten praktizierten) Dialekten bestand. Durch die deutsche Besetzung von 1940 bis 1945 wurde das Deutsche allerdings diskreditiert, es wurde danach regelrecht verteufelt und alles Deutsche, insbesondere die Sprache, mit der Nazi-Ideologie gleichgesetzt. Der Unterricht in Deutsch war auf die Sekundarstufe beschränkt und hatte einen negativen Beigeschmack, die Dialekte hielten sich zwar, wurden aber nicht mehr weitergegeben, so dass sie heute bestenfalls „Großmuttersprachen“ geblieben sind. Seit den 80er-Jahren werden die Dialekte als Teil einer regionalen Identität unter der Bezeichnung „Elsässisch“ wieder aufgewertet. Hochdeutsch hat im Schulsystem grundsätzlich den Status einer Fremdsprache. Der Bezug der Dialekte zu diesem Standard wird oft heruntergespielt. Einige Kreise möchten eine eigene Hochsprache daraus eintwickeln. Aber die meisten Verbände, die sich für die Zweisprachigkeit einsetzen, definieren die Sprache des Elsass als Deutsch in der Form der Dialekte und des Standarddeutschen. Von einer ausgeglichenen Sprachlichkeit wie in Südtirol, wo die deutsche Sprachgruppe sowohl ihre Dialekte als auch die dazugehörige Dachsprache Standarddeutsch für sich beansprucht und in Schule, Verwaltung und Medien mit vollem Recht verwendet, können die Elsässerinnen und Elsässer nur träumen – falls sie nicht diesen Traum bereits vergessen und für sich ad acta gelegt haben.
Die derzeitige Situation fasste Jean-Marie Woehrling wie folgt zusammen: „Diese Identität des Elsass, Frucht seiner Geographie und Geschichte, geprägt durch die gegenseitige Beeinflussung französischer und deutscher Traditionen, hat Mühe, im Rahmen der französischen Institutionen einen geeigneten Ausdruck zu finden. Sie entspricht weder eine Region mit Sonderstatus noch einer nationalen Minderheit. Ihre rechtlichen Besonderheiten sind begrenzt und ihre kulturellen Besonderheiten, unter anderem die Existenz einer Regionalsprache, verblassen. Paradoxerweise ist es die Auflösung der Region Elsass, die zu einer erneuten Bejahung einer regionalen Identität geführt hat, die insbesondere durch das Streben nach Zweisprachigkeit und eine stärkere grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Rahmen des Oberrheins gekennzeichnet ist.“
Der Vortragende, Jean-Marie Woehrling, ist (u.a.) Elsässer, „Énarque“ (= Absolvent der Elitehochschule ENA), ehemaliger Präsident des Verwaltungsgerichts Straßburg, Europarat-Experte für Minderheits¬sprachen und grenzüberschreitende Zusammenarbeit sowie Experte für das lokale Recht in Elsass-Lothringen und Verfasser eines Kommentars der Europäischen Charta für Regional- oder Minderheits¬sprachen.
Bei Interesse an weiteren Online-Gastvorträgen der Reihe „Elsass – Alsace“ (beide auf Deutsch, beide veranstaltet vom Frankreich-Schwerpunkt gemeinsam mit dem Institut für Architekturtheorie und Baugeschichte), hier die genauen Angaben:
Do., 20.05.2021, 17:00-18:30 Uhr
„Denkmäler aus den Perioden deutscher Verwaltung im Elsass: Verständnis und Umgang (19.-21. Jahrhundert)“
Alexandre Kostka, Université de Strasbourg
Zoom-Meeting-ID: 895 8654 7447 Kenncode: 7gdcpP
Link: https://us02web.zoom.us/j/89586547447?pwd=WTZUVmJzNDBnZ0cyd0ZjcHJXNmk0UT09
Do. 27.05.2021, 17:00-18:30 Uhr
Projektvorstellung: „Engineering Nationality – Johann Knauth (1864-1924) und die Rettung des Straßburger Münsters in technischer und kulturwissenschaftlicher Hinsicht“
Christiane Weber & Tobias Möllmer, Universität Innsbruck
Zoom-Meeting-ID: 878 7733 1284 Kenncode: Qdv9ES
Link: https://us02web.zoom.us/j/87877331284?pwd=aGpER0RVWEdWbE1ZZFJNV2dWYkRoQT09
(Eva Lavric)