Für die DGAVL-Tagung versammelten sich Literaturwissenschaftler*innen aus aller Welt sowie Zuhörende im virtuellen Raum, um gemeinsam Phänomene der Verblendung in Literatur und Kunst zu diskutieren. In diesem Sinne wurden Doppelstrukturen aufgedeckt und Illusionen auf komparatistische Weise analysiert. Die Themenfelder der Vorträge reichten von klassischer Literaturwissenschaft über Film, Kunst und Kultur bis hin zu Mathematik und Politik. Das Organisationsteam aus dem Institut für Vergleichende Literaturwissenschaft (Sebastian Donat, Martin Sexl, Brigitte Rath, Beate Eder-Jordan, Petra Gasparini, Katrin Rauch, Livia Sojer und Nora Valentina Winkler), welche die Tagung aus coronabedingten Gründen bereits um ein Jahr verschieben mussten, stellte ein spannendes Online-Event auf die Beine. Dabei wurde auch das 50-jährige Jubiläum des Innsbrucker Instituts für Vergleichenden Literaturwissenschaft im vorigen Jahr gefeiert. Das Organisationsteam hatte für die Tagung an alles im Detail gedacht: Technischen Support, Kaffeepausen in Form eines virtuellen Get-togethers und ein spannendes Rahmenprogramm. Die Tagung wurde am Dienstag mit einer kurzen Vorstellung des Organisationsteams, gefolgt von Video-Grußworten des Rektors der Leopold-Franzens-Universität Tilmann Märk, eröffnet. Kurz darauf fand eine Einführung in die technischen Aspekte der Veranstaltung statt, moderiert von Brigitte Rath. Claudia Blümle war am selben Nachmittag die erste Vortragende ihrer Keynote „‘…und ich lasse einen Vorhang über dieses Gemälde fallen.‘ Zur Aldobrandinischen Hochzeit in Goethes Weimarer Junozimmer“ vor einem Publikum von nahezu 100 Menschen.
Am Mittwochmorgen starteten dann pünktlich um 9 Uhr die ersten Vorträge in zwei parallelen Räumen, A und B. Während sich die Themen von Raum A im Laufe des Tages von Rahmungen, Raum und Materialität bis hin zu Vampiren bewegten, wurde in Raum B mit Maskierungen und Überblendungen begonnen und am Nachmittag mit Beiträgen zu Mimikry und Theater abgeschlossen. Donnerstag ging es los mit einem Workshop des „Fachinformationsdienstes Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft“, in dem verschiedene Themengebiete rund um die Digitalisierung in der Komparatistik näher behandelt wurden. Etwas später startete auch zeitgleich eine interaktive Livestream-Führung zum Goldenen Dachl von Innsbruck. Mit seinem goldenen Glanz passt das Wahrzeichen Innsbrucks wie die Faust aufs Auge zu einer Tagung, die im Zeichen der Verblendung stand. Von der Couch zuhause konnte man also gemütlich den Erzählungen Christian Kayeds lauschen, der einen historischen Einblick in die Geschichte Innsbrucks und des Goldenen Dachls bot. Mittels Chat war es dennoch jederzeit möglich, Fragen zu stellen und auf diese einzugehen. Am Nachmittag ging es dann weiter im Programm. Wiederum aufgeteilt auf zwei Räume ging es in Raum A zuerst um visuelle, erzählerische und kognitive Unschärfen, während man sich im Raum B der Politik und in zwei Blöcken der Literaturwissenschaft im Allgemeinen widmete.
Am Freitag rückte die Tagung auch langsam immer mehr dem Ende zu. Aufgeteilt in drei Blöcke wurde in Raum A über Literatur und reale Fiktionen referiert, während in Raum B der Fokus auf Natur-Konfrontationen, Sinnestäuschungen und Welterklärungssystemen lag. Abschließend traf man sich noch kurz auf einige Schlussworte, bevor die Tagung zu Ende ging.
Zwischen den Vorträgen war es möglich, sich im virtuellen Pausenraum „wonder.me“ zu treffen und gemütlich zu plaudern. Aufgrund des strengen Zeitplans war es nach einer Präsentation nicht immer möglich, alle Fragen sofort zu klären, und so hatten Interessierte im Pausenraum die Möglichkeit, das Gespräch zu suchen und etwaige Diskussionen weiterzuführen.
Die Tagung in Präsenz an der Universität erleben zu können, wäre für viele Interessierte ideal gewesen. Nicht nur aufgrund des persönlichen Kontaktes, sondern auch, um das fünfzigjährige Bestehen des Instituts angemessen nachzufeiern. Die herrschenden Umstände konnten dennoch niemanden daran hindern, das Beste aus der Situation zu machen. Es war eine Premiere, die so nicht mehr vergessen wird und dank der perfekt durchdachten Organisation erfolgreich funktionierte. Selbst wenn wir in naher und ferner Zukunft wieder zur gehofften Normalität zurückkehren, ist es vorstellbar, dass die positiven Einflüsse der Technik auf diese Weise weiterhin genutzt und weiter ausgebaut werden. Wer weiß, vielleicht wird ein virtueller Vorlesungsraum in Zukunft bei Tagungen parallel zum realen Vorlesungssaal Interessierten, die nicht vor Ort sein können, die Teilnahme ermöglichen.
Rückmeldungen von Teilnehmer*Innen zur 18. Tagung
Lisa Aicher: Frau Dr. Claudia Blümles Eröffnungsvortrag am Dienstag gehört zu meinen persönlichen Favoriten. Die Professorin berichtete über die Funktion des grünen Bildvorhangs, der das Gemälde in Goethes Junozimmer verdeckt. Das Wandgemälde ist die Kopie eines römischen Freskogemäldes aus der Antike. Die gängigste Erklärung von Goethes Bildvorhang bildet der Schutz von Kunstwerken von äußeren Einflüssen wie beispielsweise Licht. Allerdings behauptet Dr. Blümle, dass dies nicht den eigentlichen Sinn des grünen Vorhangs widerspiegelt, sondern vielmehr eine Strategie der Enthüllung sowie Verhüllung des Bildes dahintersteckt. Einerseits sei dies auf die im Gemälde dargestellte Szene der Hochzeitsnacht zurückzuführen, um somit den Betrachter vor diesem erotischen Inhalt zu schützen. Andererseits wollte Goethe damit eine sinnlich ästhetische Kunsterfahrung schaffen. Obwohl Bildvorhänge bis zum 19./20. Jhd. stark verbreitet eingesetzt wurden, war keiner beidseitig angebracht. Goethes Vorhang erinnert an einen Theater-Vorhang, in dem er auf beide Seiten geschoben wird. Außerdem verwandelt er den ganzen Raum in einen Ort der Antike und erweitert mit der gemalten dominanten Farbkombination von Lila und Grün die Bildszene auf das ganze Junozimmer. Die Wahl des Bildes als eine Kopie eines römischen Freskos, die Wandgestaltung und die Innenausstattung stellen Bezüge zur Antike her, allerdings eine kreierte Version der Antike. Mit der Öffnung des grünen Vorhangs entsteht eine gewisse Ruhe, die die Konzentration auf das Bild lenkt und theatralisch als eine antike Inszenierung wirkt. Somit entsteht ein lebendiges Sehen, das als ein theatrales Ereignis inszeniert wird. Das Bild selbst wird in seiner Darstellungsweise als lebendig betrachtet.
Veronika Gasser: Auch wenn es bei der Tagung hauptsächlich um Bücher und alles Drumherum ging, beschäftigt sich der Beitrag von Dejan Lukovic unter dem Titel „‘You Must Always Make More Than Just the Part You Want Them to See‘ – Verblendung als ästhetische Praxis in der Raumkonstruktion von Videospielen“, mit der Verblendung der Raumkonstruktion im digitalen Spiel. Wer sich auskennt, weiß, wie gerne Videospiele damit werben, dass es unendliche Möglichkeiten gibt, obwohl sich diese dann doch auf ein enges Korsett an Möglichkeiten beschränken. Vor allem die technischen Voraussetzungen der Hardware sind begrenzt, und so muss man als Entwickler*in oft auf einen kreativen Umgang zurückgreifen. Ob es sich dabei nun um Nebel handelt, der zwar das eigene Sichtfeld beschränkt, aber gleichzeitig viel zur düsteren Atmosphäre des Spiels beiträgt, wie in Silent Hill (1999), oder darum, dass ständig nur das eigene Sichtfeld „gerendert“, also grafisch dargestellt wird, um Rechnerleistung zu sparen, wie in Horizon Zero Dawn (2017). Als Entwickler*in muss man immer über die Grenzen des Spielers hinausdenken und auch das darstellen, was man eigentlich nicht zu sehen bekommt. Durch Fehler im Code kann es gelegentlich dazu kommen, dass Spielende in sogenannte „Out of bounds“-Areale gelangen, wo einem erst bewusst wird, dass man sich in einer virtuellen Welt befindet, in der der Schein einer vollständigen Welt trügt und man eigentlich von Verblendungen umgeben ist.
Juliane Christianus: Es ist nicht gerade leicht, aus den zahlreichen und interessanten Vorträgen einen Favoriten zu wählen. Ich muss aber gestehen, dass ich den Vortrag von Stefan Lessmann mit dem Titel „Visualität als doppeltes Strukturprinzip: La visión de los vencidos von Miguel León-Portilla und die Komparatistik“ besonders spannend fand. Darin macht er uns mit einem Epos vertraut, das Miguel León-Portilla 1959 herausgab. Es handelt sich um eine Sammlung von Texten, die León-Portilla verschiedensten kolonialen Codices aus dem 16. Jahrhundert entnahm, aus der indigenen mexikanischen Sprache Nahuatl ins Spanische übersetzen ließ und zu kohärenten Kapiteln formte. Dadurch war es möglich, die Geschichte der Eroberung Mexikos im 16. Jahrhundert, mithilfe einer europäischen Leseart, aus der Sicht der eroberten Azteken / indigener Perspektive zu erfahren. Interessant ist hier besonders die Art der Übersetzung. Und zwar hat sich León-Portilla bewusst dazu entschieden, das Werk in Form eines Epos zu verfassen, um den universalen Sinn des Textes der ganzen Welt zugänglich zu machen. Ein genanntes Übersetzungsbeispiel, welches versucht, die Geschichte der Eroberung Mexikos durch die Spanier zu dekolonialisieren, ist die Veränderung eines bestimmten Wortes. Als der Aztekenherrscher Moctezuma auf den spanischen Heerführer Hernán Cortés trifft, wird Cortés‘ Sprache als „undeutlich“ (Nahuatl: popolotza) beschrieben. In León-Portillas Epos wird dieses Wort mit salvaje ins Spanische übersetzt, was „wild“ oder „barbarisch“ bedeutet. Die Leseart dieses geschichtlichen Ereignisses wird somit mithilfe der Übersetzung umgedreht, wodurch Nahuatl sprachpolitisch nutzbar gemacht wird und über dem Spanischen steht. Somit kann die bisher einseitig vermittelte Geschichte der Eroberung durch die Spanier anhand ihrer eigenen Sprache neu umgeschrieben und durch einen weiteren Blickwinkel erfahren werden.
(Juliane Christianus, Lisa Aicher, Veronika Gasser – Studierende der Vergleichenden Literaturwissenschaft)