Eine Woche zuvor war der französische Partner, Alexandre Kostka, am Wort. Und nun, am 27. Mai 2021, präsentierten Christiane Weber und Tobias Möllmer vom Innsbrucker Institut für Baugeschichte das neueste binationale Projekt, über Johann Knauth und seine „Rettung“ des Straßburger Münsters vor ziemlich genau 100 Jahren.
Historische Bauforschung kann tatsächlich spannend sein wie ein Krimi – oder besser noch, wie ein Heldenepos: Stellen Sie sich vor, Sie leben in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts in Straßburg, im Elsass, das seit dem Krieg 1870 gemeinsam mit Lothringen Teil des deutschen Reiches ist. Stellen Sie sich weiters vor, überall in Deutschland ist die Rede davon, die teilweise unvollendet gebliebenen gotischen Kathedralen nun endlich fertigzustellen (was übrigens in Köln, in Ulm und anderen Städten tatsächlich verwirklicht werden sollte), und Straßburg ist dabei selbstverständlich ein heißer Kandidat. Stellen Sie sich schließlich vor, vor ein paar Monaten ist gerade der Campanile in Venedig mir nichts, dir nichts eingestürzt. Und dann wird auf einmal ruchbar, dass der einsame Nordturm des Straßburger Münsters auch nicht mehr lange stehen wird. Er zeigt gefährliche Risse, was daran liegt, dass die Fundamente ihren Dienst aufkündigen. Es ist also, um eine besonders unpassende Metapher zu bemühen, eindeutig „Feuer am Dach“!
Das ruft die Stadtverwaltung auf den Plan, die sich (gemeinsam mit den Bürgern, die sich in einem Münsterverein organisieren) auf die Suche nach einem Retter macht. Einem, der sowohl von Kathedralen etwas versteht als auch die allerneuesten Baumaterialien und -verfahren im kleinen Finger hat. Damals ist Eisenbeton der letzte Schrei, ganz besonders das Hennebique-System des gleichnamigen französischen Ingenieurs. Verschiedene Firmen werden angeschrieben, und die Stelle des Münsterbaumeisters geht schließlich 1905 an den deutschstämmigen Johann Knauth.
Die Rettung des Nordturms ist eine technische Meisterleistung, die ohne Johann Knauth, aber auch ohne die ihn umgebenden Netzwerke, nicht möglich gewesen wäre. Beim Abschluss der Arbeiten und der feierlichen Wiedereröffnung im Jahr 1926 ist Knauth aber weder anwesend, noch wird überhaupt sein Name genannt. Was ist geschehen? Schuld ist natürlich der Erste Weltkrieg, durch den das Elsass wieder zu Frankreich kam und der Graben zwischen den beiden Nachbarländern sich noch mehr vertiefte. Knauth, der im Krieg auf deutscher Seite zwei Söhne verloren hatte, wollte nicht die französische Staatsbürgerschaft annehmen. Er wurde 1921 ausgewiesen und musste Straßburg verlassen. 1924 starb er, nicht als gefeierter Baumeister, sondern als ein Opfer der Geschichte, gekündigt, ausgewiesen, arm und zur Vergessenheit verdammt, ohne den Abschluss seines Restaurierungswerks zu erleben und ohne die Lorbeeren dafür zu ernten.
Als versöhnlicher Abschluss mag gelten, dass Knauths Werk auch nach seinem Ausscheiden in seinem Sinne weitergeführt wurde, unter der Leitung eines Elsässers, eines gewissen Clément Dauchy, und weiterhin mit der grenz- und nationenübergreifenden Kompetenz ausgestattet blieb, die das Projekt von Anfang an gekennzeichnet hatte. Das Elsass ist eben seit jeher eine Stätte der Begegnung, des Wissens- und Technologietransfers, wenn auch im Nachhinein die jeweils dominierende Partei den Anteil der anderen tunlichst herunterzuspielen versucht.
Noch versöhnlicher ist die jüngste Entwicklung, die deutsch-französische Annäherung und die Aufarbeitung der Vergangenheit, dank derer inzwischen am Münster eine Gedenktafel an Johann Knauth erinnert. In dieselbe Kerbe schlägt auch die gemeinsame Forschung, für die das neu begonnene Projekt zum Straßburger Münster und seinem Retter ein schönes Beispiel ist. Als Ziele nennen die Beteiligten unter anderem die Rehabilitierung des Münsterbaumeisters, aber auch die technische Beschreibung der Restaurierung, die in einem Baustellen-Tagebuch 1907-1925 und einem dazugehörigen Fotobuch dokumentiert ist, sowie die Beschreibung des Kontexts und des Netzwerks, in dem das Rettungsprojekt und sein Leiter agierten. Den WissenschaftlerInnen der österreichisch-französischen Projektgruppe bleibt dabei noch sehr viel zu erforschen, auf gut Französisch gesagt: „il y a du pain sur la planche!“
Deswegen rief auch die Vortragende, Prof. Christiane Weber, die Studierenden auf, über Master- und Diplomarbeiten zu dem Projekt beizutragen: „Teil eines so großen Projekts zu sein, bedeutet, gut betreut und mit vielen ForscherInnen der Arbeitsgruppe vernetzt zu sein, als Teil eines größeren Ganzen, das einen trägt und bereichert.“ Und die Leiterin des Frankreich-Schwerpunkts, Prof. Eva Lavric, bemerkte abschließend: „Um alle Facetten dieses Themenbereichs zu erforschen, bedarf es eines mindestens gleich beeindruckenden Netzwerks, wie es Johann Knauth damals für sein Turm-Rettungs-Projekt zusammenstellen musste.“
(Eva Lavric)
Links
- Frankreich-Schwerpunkt der Universität Innsbruck
- Institut für Architekturtheorie und Baugeschichte
- Veranstaltungsreihe „Elsass – Alsace“