Der Himmel verfinstert sich, es blitzt und donnert, plötzlich setzt starker Niederschlag ein: Wer sich diese Wetterereignisse vor Augen führt, denkt eher nicht an die kalte Jahreszeit, sondern an heiße Sommertage. „Das ist auch berechtigt, denn die Mehrheit der Blitze – darüber werden Gewitter in den meteorologischen Daten hauptsächlich dokumentiert – findet im Sommer statt. Prinzipiell können Gewitter aber zu jeder Jahreszeit auftreten“, erklären Deborah Morgenstern und Isabell Stucke vom Institut für Statistik. Die beiden Atmosphärenwissenschaftlerinnen befassen sich bereits seit ihrer Studienzeit mit Gewittern und untersuchen im Rahmen des Projekts „Wintergewitter in Europa“ Blitze in der kalten Jahreszeit. Sie sind selten, ihr Anteil beträgt im Winter nur rund drei Prozent an allen gemessenen Blitzen. Dennoch: Sie richten teilweise großen Schaden an der Infrastruktur wie etwa in Windenergieanlagen an. Welche meteorologischen Mechanismen in einer für Gewitter eigentlich „ungünstigen“ Zeit dennoch zu ihrer Entstehung führen, ist in Europa bislang nicht gänzlich erforscht. „Hier setzen wir an: Wir arbeiten datenbasiert mit statistischen Methoden daran, die Wetterbedingungen von Wintergewittern und ihren Blitzen zu untersuchen und somit die Grundlagen von Blitzschutznormen auch für den Winter zu optimieren,“ erklären die Doktorandinnen, die auch Teil der Arbeitsgruppe „Atmospheric Dynamics“ des Instituts für Atmosphären- und Kryosphärenwissenschaften sind.
Drei Zutaten
Die Entstehung eines Gewitters erfordert zahlreiche Voraussetzungen, die in gewisser Weise zusammenwirken müssen. „Es ist jedenfalls sehr viel los in der Atmosphäre, wenn sich ein Gewitter bildet“, sagt Deborah Morgenstern. Das „Rezept“ für Gewitter beinhaltet drei Zutaten: Genügend Feuchtigkeit, eine labil geschichtete Atmosphäre und die so genannte Hebung. Gerade im alpinen Bereich werden die Luftmassen oft „gehoben“, wenn sie auf Berge treffen. Dadurch kann es zu Gewitterwolken kommen, die sich dann kräftig als Blitz und Donner entladen. In den besonders im Sommer entstehenden großen, sich auftürmenden Wolken sind die Voraussetzungen für Gewitter daher leichter gegeben. „Im Winter entstehen diese aufgetürmten Wolken eher nicht und die Atmosphäre ist stabiler geschichtet“, beschreibt Morgenstern die Herausforderung ihrer Arbeit. Es gibt viele Gründe, warum es im Winter selten Gewitter gibt, ergänzt auch Stucke, sie seien zudem auch „unauffälliger“: „Sehr wahrscheinlich hat jede und jeder von uns auch schon einmal ein Wintergewitter erlebt, aber eher als Wintereinbruch oder Schneesturm wahrgenommen. Im Sommer ist die Abgrenzung zum schönen Wetter viel deutlicher, daher wird das Gewitter leichter auch als solches erkannt.“ Im Winter bauen sich die erforderlichen Wolken nicht wie ein Turm auf, sondern breiten sich eher wie eine große Decke aus. „Zu dieser Jahreszeit haben wir es oft mit starken Stürmen und sehr starken horizontalen Bewegungen zu tun. Daher gibt es die Vermutung, dass diese Faktoren bei Wintergewittern im Vordergrund stehen.“
Blitze wie Baumkronen
Besonderes Augenmerk legen die Forscherinnen auf Blitze – erst ab zumindest einem Blitz handelt es sich laut Definition der Weltorganisation für Meteorologie um ein Gewitter. Prinzipiell sind Blitze gut messbar, besser als alle anderen genannten Eigenschaften. Ihr Auftreten wird europaweit in Blitzortungsnetzwerken erfasst. „Es gibt Wolke-Wolke-Blitze, die sich innerhalb der Wolke entladen, Wolke-Erde-Blitze die sich zur Erde hin entladen –Abwärtsblitze – und Erde-Wolke-Blitze, die sich von der Erde zur Wolke entladen - die Aufwärtsblitze. Letztere sehen in ihrer Verästelung eher aus wie Baumkronen, während Abwärtsblitze an Baumwurzeln erinnern“, erklärt Isabell Stucke. Für die Einschätzung der Gefahren und die entsprechende Ausarbeitung von Blitzschutznormen sind Auf- und Abwärtsblitze von Relevanz. Für den Winter hat sich gezeigt, dass vor allem Aufwärtsblitze eine Rolle spielen. Sie entstehen an hohen Objekten wie etwa an der Spitze von Masten oder Windrädern und bringen ein hohes Schadenspotenzial mit sich. „Aufwärtsblitze führen etwa 10 Mal länger Strom als andere Blitze und können beispielsweise Windturbinen regelrecht zum Schmelzen bringen“, verdeutlicht Isabell Stucke. „Wir sehen einen Zusammenhang zwischen der Entstehung von Wintergewittern und hoher Infrastruktur: Es gibt Regionen, in denen bisher im Winter kaum Blitze gemessen wurden. Erst als ein Windpark errichtet wurde, traten gehäuft Wintergewitter auf“, so die Forscherinnen. Zusätzlich zu den umfassenden Daten aus den Blitzortungsnetzwerken verwendet das Team auch Daten von einer speziellen Messstation am Salzburger Gaisberg, sowie europaweite detaillierte atmosphärische Daten. Dafür sind leistungsstarke Rechner erforderlich, die Infrastruktur dafür steht über den Supercomputer LEO 4 der Universität Innsbruck sowie über den Vienna Scientific Cluster zur Verfügung. „Wir können hier mit modernsten Methoden der Statistik und des Machine Learning hinter die Kulissen eines komplexen meteorologischen Phänomens blicken und freuen uns darauf, unsere Ergebnisse für die praktische Umsetzung im Blitzschutz zur Verfügung stellen zu können“, betonen Deborah Morgenstern und Isabell Stucke.
Das Projekt „Wintergewitter in Europa“ wird von der Österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft FFG finanziert. Projektleiter sind Georg Mayr vom Institut für Atmosphären- und Kryosphärenwissenschaften sowie Thorsten Simon und Achim Zeileis vom Institut für Statistik. Dafür werden Blitzmessungen am Gaisberg (Salzburg), Daten des österreichischen Blitzortungssystems ALDIS sowie des europäischen Blitzortungsnetzwerks EUCLID (bereitgestellt durch Siemens BLIDS) verwendet und mit meteorologischen Daten des europäischen Erdbeobachtungsprogramms COPERNICUS verbunden. Die Auseinandersetzung mit Gewittern hat an der Universität Innsbruck bereits eine lange Tradition. In den letzten Jahren wurden interdisziplinär viele Fortschritte im Verständnis von komplexen Wetterphänomenen wie Gewittern erzielt.
Dieser Beitrag ist in der Dezember-2021-Ausgabe des Magazins „wissenswert“ (PDF) erschienen.