Österreich hat eine niedrige Impfquote, zahlreiche Menschen demonstrieren gegen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie, manche sprechen daher von einer „gespaltenen Gesellschaft“. Und das, obwohl auf wissenschaftlicher Ebene in Bezug auf das Virus breiter Konsens zu seiner Gefährlichkeit besteht. In der Eurobarometer-Umfrage von September sticht Österreich im EU-Vergleich besonders hervor: 29 Prozent der Österreicher*innen glauben etwa, dass Wissenschaftler*innen nicht ehrlich sind, knapp ein Viertel ist unentschieden. Durch die Pandemie wurde besonders deutlich: Viele Menschen zweifeln an wissenschaftlicher Erkenntnis und an der Glaubwürdigkeit von Expert*innen. Warum?
Leonhard Dobusch: Prinzipiell kämpfen alle Länder damit, die Menschen zum Impfen zu bewegen. Beim Vergleich der Industrieländer, wo der Impfstoff auch verfügbar ist, fallen Österreich, Deutschland und die Schweiz auf. Dafür gibt es sicher viele aktuelle wie historisch gewachsene Ursachen, die es noch genau zu erforschen gilt. In Österreich wäre es meiner Ansicht nach besser gewesen, die Impfdebatte möglichst frei von Parteipolitik zu halten. Was die Eurobarometer-Daten aber auch zeigen: Die Wissenschaftsskepsis geht weit über Corona hinaus. Sie hat hierzulande eine mehr als 100-jährige „Tradition“, die weit in die Gesellschaft hineinreicht. In Österreich gibt es beispielsweise mehr bei der Wirtschaftskammer gemeldete Energetiker*innen als niedergelassene Ärzt*innen. Weit verbreitete esoterische Strömungen wie die Anthroposophie sind im deutschsprachigen Raum entstanden. Die Homöopathie ist trotz fehlender bewiesener Wirksamkeit in Apotheken erhältlich oder wird sogar von Ärzt*innen verschrieben. Hier wurde jahrzehntelang nicht gegengesteuert, sondern Geld mit Aberglauben verdient. Was alle eint, ist die weitgehende Ablehnung sogenannter „Schulmedizin“ und der Pharmaindustrie. Die jetzt so stark spürbare Skepsis kam also keineswegs aus dem Nichts und wird durch das digitale Umfeld, in dem wir uns alle bewegen, potenziell noch verstärkt.
Social Media spielen nicht erst seit der Pandemie eine große Rolle in der Verbreitung von (Des-)Informationen. Oft sind es falsche Inhalte, die viele Menschen auf ihren Accounts oder Messenger-Diensten wiederfinden. Tragen Facebook, Telegram und Co. zur Wissenschaftsskepsis bei?
Leonhard Dobusch: Ja. Die Verbreitung von Desinformationen beispielsweise zu Impfungen wurde von großen Plattformen wie Facebook über Jahre kaum bekämpft – auch schon vor Corona. Ähnliches beobachten wir bei Leugnung des menschengemachten Klimawandels. Hier wurde meiner Ansicht nach viel zu spät reagiert. Ich bin überzeugt davon, dass viele Menschen erst dadurch in das „Lager“ der Wissenschaftsskeptiker*innen geraten sind. Das Problem der Desinformation im Kontext digitaler Plattformen wurde unterschätzt. Erst mit der Wahl von Donald Trump gerieten die negativen Dynamiken der sozialen Netzwerke stärker in den Fokus, da war alles aber bereits sehr fortgeschritten und schwer umkehrbar.
„Algorithmen können wie Brandbeschleuniger wirken.“
Hat sich der Umgang mit Desinformationen in diesem Rahmen inzwischen verbessert?
Leonhard Dobusch: Das Management digitaler Öffentlichkeiten ist mit großen Herausforderungen verbunden. Plattformen wie Facebook unterliegen nicht dem klassischen Medienrecht, da sie ja nicht selbst Inhalte erstellen. Das ist ein Dilemma. Wird gegen Desinformation vorgegangen, müssen zunächst legitime Meinungsäußerungen von solchen getrennt werden, die es nicht sind – und das ist ein Grenzbereich, der schwer automatisierbar ist und für den es noch unzureichende Instrumente gibt. Dennoch gibt es auch eine Plattform-Verantwortlichkeit, besonders wenn es um Inhalte geht, die über Automatismen befördert werden. Was den Nutzer*innen empfohlen wird oder nicht, basiert zum Beispiel auf inhaltsblinden Kennzahlen wie der Wiedergabezeit von Videos. Und dadurch kann ein Algorithmus zum Brandbeschleuniger werden. Neue technologische Möglichkeiten für Informationsverarbeitung bringen immer neue Chancen und neue Probleme mit sich: Das war schon bei der Erfindung des Buchdrucks so. In einem ersten Schritt wäre es einmal wichtig, dass mit Desinformation auf diesen Plattformen nicht auch noch Werbeumsätze gemacht werden können. Verbreitung von Desinformation darf sich nicht auch noch auszahlen.
Was könnte dazu beitragen, dass das Vertrauen wächst?
Leonhard Dobusch: Eine offenere Wissenschaft könnte dazu einen großen Beitrag leisten. Ein offener Zugang zu wissenschaftlichen Veröffentlichungen und Datensätzen ermöglicht eine kritische Auseinandersetzung über Disziplinen hinweg – nicht nur für Expert*innen, sondern auch für Journalist*innen. Gerade in Krisenzeiten ist Transparenz und schneller Zugang zu Forschungsergebnissen wichtig. In den letzten Monaten haben viele Menschen mit dem Begriff „Preprint“ Bekanntschaft gemacht, dabei handelt es sich um wissenschaftliche Publikationen, die über frei zugängliche Server öffentlich gemacht werden, aber noch nicht den Begutachtungsprozess – die „Peer Review“ – durchlaufen haben. Alle Interessierten haben so Zugriff und können sich ihre Meinung bilden, Expert*innen haben in der Corona-Pandemie oft Preprints entsprechend eingeordnet und interpretiert. Natürlich hat das auch Schattenseiten, da auf diesen Servern auch unseriöse Studien landen, die wissenschaftsskeptische Narrative sogar noch nähren können. Und auch wenn Studien schnell widerlegt werden, bekommt häufig die Widerlegung weniger Aufmerksamkeit als die „steile These“. Dennoch: Die Vorteile offener Wissenschaft überwiegen meiner Ansicht nach dennoch eindeutig, da durch mehr Offenheit Falschbehauptungen auch leichter identifiziert werden können. Nicht zuletzt ist das eine gängige Praxis in der wissenschaftlichen Community. Durch mehr Offenheit wird eine Art öffentlicher Peer Review ermöglicht, die Wissenschaft und auch wissenschaftliche Abläufe transparenter und greifbarer macht.
Gibt es Beispiele, wo das schon gut funktioniert?
Leonhard Dobusch: Wenn man mich fragen würde, wo es im Moment die solidesten und aktuellsten Informationen zur Corona-Pandemie gibt, dann würde ich sagen: in der Wikipedia. Dort wird Wissen in einem kollaborativen und transparenten Prozess auf Basis eines gemeinsamen Wertefundaments erarbeitet – und durchaus auch erstritten. Die Wikipedia ist meiner Ansicht nach das Wissenstransfer-Medium unserer Zeit. Ich denke, eine stärkere Orientierung an dieser Herangehensweise könnte viel dazu beitragen, das Vertrauen in die Wissenschaft wieder zu stärken.
Das Interview führte Melanie Bartos.
Dieser Beitrag ist in der Dezember-2021-Ausgabe des Magazins „wissenswert“ erschienen. Eine digitale Version ist hier zu finden (PDF).