Gegenstand der Tagung in Bozen waren einerseits die Themen Naturgefahren, Verhalten im alpinen Gelände und Risikowahrnehmung bei Ausübung sportlicher Aktivitäten am Berg, andererseits die Untersuchung strafrechtlicher Haftungsfragen, die bei Bergunfällen auch und v.a. in Bezug auf diese Themen auftreten. Zentral ist dabei insbesondere die Frage, ob ein eigenverantwortliches Verhalten des verunglückten Bergsportlers zu einem Ausschluss strafrechtlicher Verantwortlichkeit von etwaigen Dritten führen kann.
Die rege Teilnahme vor Ort und über Online-Streaming zeigten, wie aktuell und brisant das Thema ist. Unter den Teilnehmer*innen befanden sich insbesondere Rechtsanwälte, Alpinisten, Geologen und Ingenieure aus dem In- und Ausland, sowie schließlich zahlreiche Bergbegeisterte. Es zeigt sich, dass Haftungsfragen am Berg längst nicht mehr nur ein in juristischen Fachkreisen diskutiertes Thema sind, sondern das Thema auch von ganz allgemeinem Interesse ist.
Der erste Tagungstag war technisch-alpinistischen und juristischen Inhalten gewidmet. Vertreter*innen verschiedener Organisationen und Projektpartner setzten sich mit den Gefahren am Berg in den verschiedensten Situationen auseinander und schilderten dabei Erfahrungen aus erster Hand. Im Zuge der am Runden Tisch stattfindenden Diskussion wurden schließlich zentrale Aspekte der Risikowahrnehmung aus den verschiedensten Blickwinkeln genauer diskutiert, auch anhand spannender Fälle aus der Rechtspraxis und im grenzüberschreitenden Kontext.
Wesentlicher Bestandteil des ersten Tagungstages war darüber hinaus die Vorstellung erster Ergebnisse einer im Sommer/Herbst 2021 immer im Rahmen des Projekts durchgeführten empirischen Untersuchung zur Risikowahrnehmung am Berg. An den Umfragen, von denen eine vor Ort im Raum Sexten (Südtirol) und die andere mittels Online-Fragebogen im EUREGIO-Raum durchgeführt wurde, nahmen insgesamt knapp 4.000 Personen teil. Diese kombinierte Untersuchung ist von grundlegender Bedeutung, da sie direkt auf das Verhalten und die Entscheidungsprozesse von Personen bei Ausübung von Bergsportaktivitäten abzielt und als solche eine rechtlich präzisere Analyse von Unfällen am Berg ermöglicht.
Am zweiten Tag dominierten juristische und rechtsvergleichende Fragestellungen. Insbesondere wurde das Thema der Eigenverantwortung und der möglichen Einordnung des eigenverantwortlichen Verhaltens der verletzten Person im Strafrechtsaufbau analysiert. In der österreichischen Rechtslehre und Rechtsprechung ist das Prinzip der Eigenverantwortung (auch Autonomieprinzip genannt) als Strafausschließungsgrund mehrheitlich anerkannt. Die Diskussion beschränkt sich daher in erster Linie auf die Voraussetzungen bzw. die Grenzen der Anwendbarkeit dieses Prinzips. In Italien ist man davon aktuell noch relativ weit entfernt, wenn sich auch gerade in den letzten Jahren zeigt, dass das Prinzip der Eigenverantwortung von einem Teil der Rechtslehre und in einzelnen Gerichtsentscheidungen durchaus anerkannt wird und dessen vermehrte Berücksichtigung fordert. In diesem Zusammenhang wichtig zu erwähnen ist, dass die bislang zögerliche Haltung Italiens sich dadurch erklären lässt, dass diese einerseits auf den unterschiedlichen Aufbau der Strafrechtssysteme im deutsch- und italienischen Rechtsraum zurückzuführen ist. Andererseits resultiert das Bestehen teils gegensätzlicher Meinungen zum Thema in einer Unsicherheit über die korrekte dogmatische Einordnung des Eigenverantwortlichkeitsprinzips im italienischen Strafrecht.
Wie sich im Zuge der Tagung gezeigt hat, ist gerade der interdisziplinäre Austausch zur Haftung am Berg sehr interessant und insbesondere lohnend für die weitere Projektarbeit mit Abschluss Ende 2022, in die auch die Datenauswertung der Umfragen und deren rechtliche Einordnung fallen wird. Die Komplexität der Risikowahrnehmung im alpinen Raum bleibt dabei zentrales Thema. Denn wie sowohl in den gehaltenen Vorträgen als auch in den stattgefundenen Diskussionen hervorgehoben wurde, hängt diese von einer Reihe von Variablen ab (wie z.B. der Persönlichkeit, der Ausbildung und der Erfahrung des Bergsteigers oder etwa auch davon, ob der Sport einzeln oder in der Gruppe ausgeübt wird). Darüber hinaus scheinen die im Rahmen der empirischen Untersuchung erhobenen Daten darauf hinzudeuten, dass Unterschiede in der Risikowahrnehmung vor Ort (während der sportlichen Betätigung) und jener außerhalb des spezifischen Kontextes der Ausübung einer bestimmten Sportart (z.B. zu Hause bei der Planung einer Wanderung usw.) bestehen. All dies ist einerseits aus rechtlicher Sicht von grundlegender Bedeutung, denn nur unter Bezugnahme auf die tatsächlich bestehende Risikowahrnehmung kann ein Bergunfall rechtlich korrekt eingeordnet und bewertet werden. Andererseits ist es auch aus praktischer Sicht wichtig zu verstehen, wie das Risiko bei Ausübung von sportlichen Aktivitäten am Berg wahrgenommen wird, um daran anknüpfend auch die Art der Information und Aufklärung über Risiken noch effizienter zu machen. Gerade das Wissen um Wahrnehmungsverzerrungen vor Ort ist wichtig, um hier anzusetzen und präventiv tätig zu werden, um noch gezielter die Sicherheit am Berg zu erhöhen und Bergunfälle weiter zu verringern.
Die Gesamtanalyse der erhobenen Daten und die daraus erzielten abschließenden Forschungsergebnisse werden im Herbst auf der Abschlusstagung des Forschungsprojekts am 10.-11. November 2022 an der Universität Innsbruck vorgestellt werden.
Das Forschungsprojekt „Naturgefahr Berg: Risikomanagement und Verantwortung“ wird von der Autonomen Provinz Bozen-Südtirol - Abteilung Innovation, Forschung, Universität und Museen über die Ausschreibung „Research Südtirol/Alto Adige 2019“ gefördert. Projektpartner sind, neben zahlreichen technischen Partnern, die Universitäten Innsbruck, Bozen und Trient sowie das Forschungszentrum EURAC Research.