Tirol ist aufgrund seiner Topographie – Tallandschaften, damit verbundene lange Fahrtwege, wetterbedingte Verkehrseinschränkungen – für Schülerinnen und Schüler im Laufe ihrer Bildungskarriere herausfordernd. Jede Schülerin und jeden Schüler bestmöglich auf seinem oder ihrem Bildungsweg zu begleiten, unabhängig vom sozialen oder finanziellen Hintergrund der Eltern oder dem spezifischen Wohnort: Das umzusetzen und zu begleiten war Ziel in der „Modellregion Bildung Zillertal“ (siehe unten). Seit dem Schuljahr 2014/15 haben Forscher*innen der Universität Innsbruck die Schulen dabei unterstützt. „Angefangen haben wir mit den sieben Mittelschulen im Zillertal, heute sind alle Schulen der Region in der einen oder anderen Form an der Modellregion beteiligt“, erklärt Univ.-Prof. Christian Kraler vom Institut für LehrerInnenbildung und Schulforschung. „Wissenschaftliches Ziel dabei war auch, Bildungswege prototypisch zu beforschen.“ Der Zugang der Bildungsabteilung des Landes Tirol als Initiatorin des Projekts war dabei stark ressourcenorientiert: Welche Ressourcen braucht es für die Lernenden in der Region, um Bildungswege bestmöglich zu gestalten? „Diese Ressourcenorientierung war ganz zentral und ein sichtbares Ergebnis ist das neue allgemeinbildende BORG in Zell am Ziller, das sich mit den Tourismusschulen ein Gebäude teilt, aber als Oberstufengymnasium erstmals diese Form der Ausbildung im Tal selbst ermöglicht. Davor hieß die Entscheidung für eine allgemeinbildende Oberstufe für Zillertaler Schülerinnen und Schüler entweder, in ein Internat zu müssen oder zumindest lange Schulwege in Kauf zu nehmen“, sagt Livia Jesacher-Rößler, PhD, die im Rahmen des Modellregion-Projekts ihre Doktorarbeit verfasst hat.
Übergänge beachten
Die Forscher*innen haben sich im Projekt in mehrfachen Befragungsrunden auch aktuelle schul- und bildungsbezogene Fragen näher angesehen; dazu haben die Wissenschaftler*innen Kohorten von Schüler*innen regelmäßig befragt und deren Antworten ausgewertet. Besonders in den Blick genommen wurde dabei auch der Übergang von einem Schultyp auf einen anderen, wie Ass.-Prof. Claudia Schreiner aus dem Projektteam erläutert: „Das Zillertal ist eine räumlich klar abgrenzbare Region. Schüler*innen wechseln tendenziell schon aus geographischen Gründen eher innerhalb der Region die Schule, so konnten wir diese Übertritte genau verfolgen. Die Ergebnisse sind vielschichtig, aber kurz auf einen Punkt gebracht kann man sagen: Die Schüler*innen profitieren stark davon, wenn Schulen untereinander stärker vernetzt sind.“ Vernetzungsstrukturen wurden durch die Modellregion neu eingerichtet, Lehrer*innen und Schulleiter*innen tauschen sich im Zillertal eng über konkrete pädagogische Fragen und Konzepte aus.
Gemeinsam mit Kolleg*innen des Instituts für Erziehungswissenschaft, Univ.-Prof. Alfred Berger, Univ.-Ass. Wolfgang Hagleitner und Univ.-Ass Susanne Roßnagl, führten die Bildungswissenschaftler*innen besonders in der Pandemie auch mehrfach Befragungen der Schüler*innen zu ihrem Wohlbefinden und anderen Fragen durch, wie Alfred Berger erläutert: „Im Zentrum standen hierbei neben dem Wohlbefinden der Schüler*innen auch Fragen zur Bedeutung von familiären, schulischen und persönlichen Ressourcen für die Bewältigung des Distanzlernens, zum Schulübertritt und zur Bildungsungleichheit während der Pandemie.“ Die Ergebnisse dieser Studien wurden jeweils an die Region zurückgespielt; die Schulen konnten individuell darauf reagieren und, wenn angezeigt, Schlüsse daraus ziehen. „Ganz allgemein hat die Pandemie auch ein Brennglas auf bestehende Probleme geworfen – diese wurden verstärkt, individuelle Abstimmung und konkrete Betreuung einzelner Schüler*innen wurde dabei noch wichtiger“, sagt Claudia Schreiner.
Stärkenorientiert
Von Beginn an standen in der Modellregion neben der engen Vernetzung der Schulstandorte untereinander auch die Sichtbarmachung der Stärken der einzelnen Schüler*innen im Vordergrund: „Wir verfolgen in der Modellregion das Ziel, den jungen Menschen neben fachlichen Kompetenzen auch ein Bewusstsein über ihre eigenen Stärken z.B. im Bereich der Soft Skills zu vermitteln“, erklärt Livia Jesacher-Rößler. Die Schüler*innen erarbeiteten im Zillertal ab der 1. Klasse der Mittelschule ein sogenanntes Stärkenportfolio, in dem ihre Stärken und Potenziale systematisch dargestellt werden. Dieser Prozess wurde von den Lehrer*innen begleitet, die entsprechend darin geschult wurden. An schulübergreifenden Stärketagen präsentierten die Schüler*innen ihre Portfolios einem breiten Publikum in der Region. Dadurch erlebten die Schüler*innen sowohl Wertschätzung ihrer Fähigkeiten als auch positive Rückmeldungen durch Personen außerhalb ihrer alltäglichen Schulwelten.
Die Vernetzung der Schulen im Zillertal im Rahmen der Modellregion betrifft viele Aspekte: „Die Abstimmung von Weiterbildungsangeboten für Lehrkräfte, konkretes Wissen um die vorangehende bzw. folgende Schule bei anstehendem Schulwechsel sowie die schulübergreifende Zusammenarbeit auch mit Gemeinden und Jugendeinrichtungen hinsichtlich der Möglichkeiten der Freizeitgestaltung, insbesondere für ältere Jugendliche, haben sich in der Modellregion deutlich verbessert“, sagt Christian Kraler. Und es gibt gute Aussichten auch nach Ende des Projekts mit Ende 2022: „Während der Projektlaufzeit haben wir das jeweils begleitet und organisiert und boten auch wissenschaftlichen Input an. Das Projekt endet nun, aber wir wissen bereits, dass die Schulleiter*innen großes Interesse daran haben, diese Treffen auch unabhängig von der Universität weiterzuführen. Das ist ein ausgesprochen gutes Signal und zeigt für mich auch, dass wir hier etwas ganz Besonders mit nachhaltigen Strukturen geschafft haben.“
Modellregion Bildung Zillertal
Die sieben Mittelschulen im Zillertal, zwei in Fügen und je eine in Stumm, Zell am Ziller, Hippach, Mayrhofen und Tux, waren seit dem Schuljahr 2014/15 (damals noch als „Neue Mittelschulen“) Teil der Modellregion Bildung Zillertal. Später wurden sukzessive alle 39 Schulen (Volksschulen, Polytechnische Schulen, Sonderschulen und die Tourismusschulen) der Region eingebunden. Viele Unterrichts-Instrumente, die mit der Einführung der Neuen Mittelschule ermöglicht wurden, konnten im Rahmen der Modellregion prototypisch und erstmals systematisch umgesetzt und von der Universität Innsbruck wissenschaftlich begleitet werden; das Projektteam der Universität Innsbruck (siehe Foto) bestand aus Forscher*innen des Instituts für LehrerInnenbildung und Schulforschung und des Instituts für Erziehungswissenschaft. Im Steuerungsteam der Modellregion waren neben der Universität Innsbruck die Bildungslandesrätin sowie die Abteilung Bildung des Landes Tirol (finanzielle/bildungspolitische Verantwortung) und die Bildungsdirektion Tirol (pädagogische Verantwortung und Koordination der begleitenden Fortbildungs- sowie Beratungsangebote für die beteiligten Schulen) verankert. Zentraler Ansatzpunkt des Projektes war und ist die Arbeit mit den Schulen und ihren Schüler*innen, den Lehrer*innen, Schulleitungen sowie den Eltern und Erziehungsberechtigten. Eine enge Kooperation gab es außerdem mit den Volksschulen und weiterführenden Schulen der Region. Zudem waren Gemeinden, politische Institutionen und Wirtschaftsbetriebe der Region eng eingebunden. Mit einer Laufzeit von acht Schuljahren war die Modellregion zugleich das am längsten kontinuierlich laufende Kooperationsprojekt von Universität Innsbruck und Land Tirol im Bildungsbereich.
Dieser Artikel ist in der aktuellen Ausgabe von wissenswert erschienen. Eine digitale Ausgabe finden Sie hier.