Durch die Auswertung historischer Luftbilder konnten Archäologinnen der Universität Innsbruck und der Firma monumentGUT die räumliche Struktur des Lagerkomplexes Reichenau bzw. der nachkriegszeitlichen Notwohnsiedlung digital rekonstruieren. Darauf aufbauend erfolgte vergangenen Herbst eine Untersuchung mit Bodenradar. Die zweiwöchigen Grabungsarbeiten im Mai dieses Jahres wurden im Auftrag des Stadtarchiv/Stadtmuseum im letzten noch unbebauten Wiesenbereich am südlichen Ende des Recyclinghofes in der Trientlgasse durchgeführt.
„Die Messungen mit Bodenradar hatten Hinweise auf mögliche zeitgeschichtliche Spuren ergeben. Deshalb wurde ein Grabungsschnitt angelegt, der den historischen Luftbildern zufolge quer durch eine der einstigen Unterkunftsbaracken führt. Allerdings wurde das archäologische Team erst in tieferen Schichten fündig“, zieht Kulturstadträtin Mag.a Uschi Schwarzl ein Resümee über die Grabungen.
Schlechte Lebensbedingungen
Die schwachen, linearen Strukturen, welche sich bei den Bodenradar-Messungen im Untergrund abgezeichnet hatten, konnten nicht mit dem einstigen „Arbeitserziehungslager“ der Gestapo (kurz AEL) in Verbindung gebracht werden. Sie entpuppten sich als moderne Wasserleitung, die auf keinem Leitungsplan eingezeichnet war. Darunter befand sich ein massives Paket von Planierschichten, in denen nur wenig Fundmaterial aus der Nachnutzungszeit des Lagers als Notwohnsiedlung entdeckt werden konnte.
„Erst unter diesen Planierschichten sind wir auf Reste der Baracken-Unterkonstruktion gestoßen“, erläutert Ass.-Prof.in Dr.in Barbara Hausmair vom Institut für Archäologien der Uni Innsbruck. „Das zeigt deutlich, dass bei der Entfernung der südlichen Lager-Bebauung in den 1960er Jahren sehr gründlich vorgegangen wurde und das heutige Geländeniveau deutlich höher – etwa eineinhalb Meter – liegt als die Oberfläche der NS- bzw. Nachkriegszeit.“
Bei der Unterkonstruktion im Innenbereich der Baracke handelte es sich um einen Pfahlrost. Dieser bestand aus angespitzten Holzpflöcken und war in einem „regelhaften Raster“ angeordnet. „Die Außenseite der Baracke war auf einer Kombination von betonierten Punktfundamenten und massiven Holzpfählen errichtet worden“, führt Barbara Hausmair weiter aus. „Bei einem aus dem Raster fallenden Pfosten im Barackeninnenraum dürfte es sich um eine Ausbesserung der Unterkonstruktion bzw. des Fußbodens aus der Zeit der Notwohnsiedlung gehandelt haben. Das deutet auf eher marode Zustände der Unterkünfte in den 1950er und 1960er Jahren hin.“ Bei der Barackenunterkonstruktion handelt es sich um die materialsparendste Variante für RAD-Baracken. Dieses offensichtliche Einsparen von Baumaterial bei der Errichtung des AEL sei eine von vielen Facetten des NS-Lagerssystems, wodurch die bewusst herbeigeführte Mangelökonomie und die schlechten Lebensbedingungen in den Zwangslagen generiert wurden.
Historischer Hintergrund
Das untersuchte Areal, auf dem sich heute unter anderem der städtische Recyclinghof Rossau befindet, war in der NS-Zeit Teil des Arbeitserziehungslagers der Gestapo. Bis in die 1960er Jahre wurde das Areal unterschiedlich genutzt, zuletzt als Notwohnsiedlung. Für den Bau des Recyclinghofs wurde diese Siedlung in den 1960er-Jahren aufgelassen und abgerissen.
Im „Arbeitserziehungs- und Zwangsarbeiterlager Reichenau“ wurden zwischen 1941 und 1945 circa 8.500 Menschen, darunter zahlreiche politische Gefangene, inhaftiert, gefoltert und zur Zwangsarbeit verpflichtet, 114 Menschen wurden dort nachweislich ermordet. Durch die laufenden Forschungen konnten zahlreiche neue Erkenntnisse gewonnen werden.
Ein 1972 auf dem ehemaligen Gelände des Lagers in der Rossaugasse errichteter Gedenkstein erinnert als Mahnmal an die Opfer. Dieser entspricht aber nicht mehr dem aktuellen Forschungsstand. Daher erfolgte vor Kurzem die Auslobung eines Wettbewerbes zur Neugestaltung der Gedenkstätte. Die Stadt Innsbruck folgt damit der Empfehlung einer vom Kulturausschuss des Gemeinderates eingesetzten ExpertInnenkommission, die nach intensiver Vorarbeit die Errichtung einer neuen Gedenkstätte an einem Standort nördlich des Lagers zwischen Geh- und Radweg am Inn vorgeschlagen hat. Das geplante Projekt soll ein würdiges, allen Opfern individuell gedenkendes Erinnern ermöglichen.