Das Literaturhaus war bis zum letzten Platz gefüllt: Viele der Besucher:innen waren schon bei Boualem Sansals erstem Besuch im Jahr 2012 dabei gewesen und erinnerten sich lebhaft daran. Damals war gerade der Arabische Frühling im Gange, der im Westen euphorisch begrüßt wurde, während sich Boualem Sansal skeptisch äußerte. Etliche von Boualem Sansals damaligen nüchternen Einschätzungen haben sich seither als zutreffend erwiesen.
Der Autor, der mehr als die Hälfte seines Lebens als Wissenschaftler (Physiker, Mathematiker, Ingenieur und Ökonom) und hochrangiger Beamter verbracht hat, kam erst mit ca. 50 Jahren zur Literatur, weil er gewisse sehr komplexe Zusammenhänge in der Gesellschaft nur über den Roman darstellen konnte. Mit seinem ersten Roman Le serment des barbares (Der Schwur der Barbaren) wurde er aufgrund seiner scharfen Kritik an den Mächtigen und den herrschenden Verhältnissen in seiner Heimat sofort zur persona non grata – machte sich aber international einen Namen, der inzwischen durch eine lange Reihe von Preisen bestätigt wurde. Boualem Sansal, der noch immer in Algerien lebt, ist jemand, der sich kein Blatt vor den Mund nimmt und der Machtverhältnisse, die Rolle der Religionen und das Kippen einer Gesellschaft vom friedlichen Zusammenleben in die Gewalt – wie er es ab 1991 in seiner Heimat mit dem Bürgerkrieg erlebt hat – präzise und unbarmherzig analysiert. Er ist sehr religions-skeptisch, warnt eindringlich vor dem Islamismus (aber auch vor anderen Auswüchsen der Religionen) und sieht eine große Gefahr in den alles gleichmachenden Nationalstaaten, während er in der Globalisierung, wenn diese nicht nur ökonomisch verstanden wird, und in Integrationsprojekten wie der EU Möglichkeiten zum Anderssein zu erkennen glaubt. Trotz der zahlreichen gegenwärtigen Krisen ist er überzeugt, dass Frieden möglich ist und dass es wert ist, sich für ihn einzusetzen.
Gekommen war er nach Innsbruck, um sein Buch Abraham ou la cinquième Alliance (Gallimard 2020), auf Deutsch Abraham oder der fünfte Bund (Merlin 2022) vorzustellen. „Dieses Werk“, betonte Doris Eibl in ihrer Analyse, „ist ganz anders als die bisherigen Romane von Boualem Sansal. Die Geschichte, die erzählt wird, spielt im Nahen Osten und nicht in Algerien, und beginnt im Jahr 1916, als die großen Imperien zusammenbrachen. Die Figuren des Romans und deren Schicksale entsprechen aber exakt jenen der Genesis, die auch im Anhang zitiert wird.“ Seltsam genug, so dass die Diskussion (die übrigens von Birgit Mertz-Baumgartner brillant übersetzt wurde), neben den oben angesprochenen politisch-anthropologischen Themen auch intensiv um das Warum des Buches und um die Interpretation seines Titels kreiste. Die Genesis, so Boualem Sansal, habe bisher viermal einen Bund zwischen Gott und den Menschen begründet: einmal mit Abraham, einmal mit Moses, das dritte Mal mit Jesus und das vierte Mal mit Mohammed. Derselbe Text könne auch ein fünftes Mal zu einer Allianz führen, entweder auf religiöser Ebene oder vielleicht – wie das vielleicht bereits in der Vergangenheit der Fall gewesen sein könnte – zu einer Allianz mit den Menschen intellektuell und sozial überlegenen Außerirdischen …
(Eva Lavric)