Zwei Personen stehen vor einem großen Eiscliff

Eiskliffe an Land wie die bis zu 25 Meter hohen Red Rock Icecliffs in Grönland können nur durch ein komplexes Zusammenspiel bestimmter Bedingungen bestehen. Ein Forschungsteam aus Österreich untersucht das sensible System im Kontext der Erderwärmung.

Grön­lands Eis­wände als Früh­warn­sys­tem fürs Klima

Gletscher, die an Land durch senkrechte Eiswände begrenzt sind, sind rar. Diese Eiskliffe reagieren besonders sensibel auf Veränderungen von Umweltbedingungen. Forschungsteams aus Tirol und der Steiermark untersuchen die Eisformationen an einem Standort hoch im Norden Grönlands. Sie wollen anhand der Veränderungen der Gletscherwände Rückschlüsse auf die Entwicklung des arktischen Klimas ziehen.

Es gibt nur wenige Orte weltweit, an denen Gletscher an Land in Form eines Eiskliffs enden. Eisschilde, die im Meer auslaufen, produzieren durch das Kalben – also das Abbrechen großer Eisstücke – vergleichsweise oft senkrechte Eismauern. An Land müssen hingegen ganz bestimmte Bedingungen existieren, um langfristig stabile Eismauern hervorzubringen. Der überwiegende Teil läuft in flacher werdenden Gletscherzungen aus, die beispielsweise auch für die Alpen typisch sind. Nur am Gipfel des Kilimandscharo, in den Trockentälern der Antarktis sowie in Nordwestgrönland und der kanadischen Arktis gibt es diese raren Eiskliffe an Land.

Die Gletscherforscher Rainer Prinz von der Universität Innsbruck und Jakob Abermann von der Universität Graz wollen in einem vom Wissenschaftsfonds FWF finanzierten und vor Kurzem erst gestarteten Projekt die Eiswände in Grönland näher untersuchen. Ihr Ziel sind die bis zu 25 Meter hohen Red Rock Icecliffs, die Teil der Nunatarssuaq-Eiskappe im nördlichen Landesteil Avanersuaq sind. Der Standort vereint für die Wissenschaftler:innen zwei große Vorteile: Einerseits ist es das einzige Eiskliffvorkommen auf Grönland, das bereits in den 1950er- und 1960er-Jahren, damals von US-amerikanischen Forschenden, umfassend untersucht wurde. Andererseits hilft die Lage der Eisformationen, die per halbstündigen Helikopterflug von der US-Militärbasis Pituffik Space Base erreicht werden können, den logistischen Aufwand der Expeditionen zu mindern.

„Die Idee zu dem Projekt entstand bereits vor vielen Jahren im Zuge von Forschungen über die Gletscher am Kilimandscharo-Gipfel. Eine erste Gelegenheit für Untersuchungen in Grönland ergab sich 2017. Damals konnten wir bereits eine kleinere Expedition zu den Red Rock Icecliffs ausrüsten“, blickt Rainer Prinz zurück. „Nun wollen wir im Zuge zweier längerer Grönlandaufenthalte die Arbeit vertiefen. Dabei sollen nicht nur die Einflussfaktoren für eine weitere Entwicklung der Gletscher näher erforscht werden. Wir wollen die Formationen, die besonders sensibel auf die Veränderung von Umweltfaktoren reagieren, als Instrument benutzen, das uns das lokale grönländische Klima im Kontext der globalen Erderwärmung besser verstehen lässt.“

Gletscher im Gleichgewicht

Damit ein Eiskliff an Land auf Dauer stabil bleiben kann, muss die Massenbilanz des Kliffs sehr ausgeglichen sein. Eiszuwachs und Bewegung des Gletschers sowie alle Schmelz- und Ablationsprozesse, die die Masse reduzieren, stehen dabei in Balance. Einflussfaktoren wie Luft- und Eistemperatur, Luftfeuchtigkeit und Strahlungseintrag dürfen nicht zu stark variieren. Das Vorkommen der Eiswände in generell trockenem und sehr kaltem Klima verweist auf eine hohe Empfindlichkeit gegenüber Faktoren, die über die Luftfeuchte gesteuert werden, wie Bewölkung und Niederschlag, die wiederum Wirkung auf die Strahlungsflüsse haben.

In einer Studie, die Prinz und Kolleg:innen nach der Expedition von 2017 in der Fachzeitschrift Journal of Glaciology veröffentlichten, konnte gezeigt werden, dass es neben einem allgemeinen Trend zu einer Abnahme der Eisdicke des Gletschers auch immer Vorstöße der Eiskliffe gab. Diesem auf den ersten Blick widersprüchlichen Verhalten wollen die Forschenden durch die Untersuchung der verschiedenen Einflussfaktoren auf den Grund gehen.

Expedition 2024

Im Zuge der ersten Expedition im Rahmen des neu gestarteten Projekts, die 2024 stattfinden soll, werden die Eiskliffe genau vermessen. Gleichzeitig wollen die österreichischen Forschungsteams widerstandsfähige Instrumente und Wetterstationen installieren, die die Polarnacht überdauern können. Aus Bildaufnahmen mit Kameradrohnen, die bei der Expedition angefertigt werden, lassen sich exakte Oberflächenmodelle der Geometrie des Kliffs errechnen. Gegen Ende des Projekts werden diese Messungen im Rahmen einer weiteren Grönlandreise erneut durchgeführt.

Die Vor-Ort-Messungen der Forschenden werden mit Satellitendaten, weiteren Messungen des dänischen Programms PROMICE zur Beobachtung des Grönländischen Eisschildes und neuen hochauflösenden metrologischen Daten, die mithilfe des europäischen Erdbeobachtungsprogramms Copernicus erstellt wurden, kombiniert. Mit diesen Daten sollen unter anderem Energie-, Massenbilanz- und Fließmodelle der Gletscher optimiert werden. Sie tragen dazu bei, die Energieflüsse – sowohl auf der Gletscheroberfläche als auch am vertikalen Kliff – besser zu verstehen und Sensitivitäten auf Umwelteinflüsse zu erkennen.

Klimasignale identifizieren

Können die Modelle der Gletscherforscher:innen das Verhalten der Eiskliffe aufgrund dieser Auswertungen gut abbilden, lassen sich daraus wichtige Erkenntnisse gewinnen. „Veränderte Klimasignale wirken sich sehr schnell auf das Gleichgewicht der Gletscher aus“, erklärt Prinz. „Wenn wir verstehen, in welcher Weise das Eis auf Veränderungen der Umweltfaktoren reagiert, können wir Rückschlüsse auf eine aktuelle Entwicklung des lokalen Klimas ziehen.“

In der Klimaforschung geht man etwa davon aus, dass im Zuge der Erderwärmung die Arktis insgesamt wärmer, aber auch feuchter wird. Die Veränderungen der sensiblen Eiskliffe könnten dabei als Klimasensor und Frühwarnsystem für die arktische Region dienen, die im Kontext der globalen Klimaentwicklung besonders relevant ist. Denn sie lassen maßgebliche Veränderungen im arktischen Klima viel schneller und einfacher erkennen als aufwendige Klimamodellierungen, deren Auswertungen langwierig sein können und die kleinräumige Phänomene nur vereinfacht oder gar nicht wiedergeben können. „Wir wollen die Eiskliffe als Instrument eichen, das uns einen unmittelbaren Einblick in die Entwicklung des grönländischen Klimas gibt“, fasst Prinz zusammen.

Zur Person

Rainer Prinz studierte Geografie und Atmosphärenwissenschaften an der Universität Innsbruck und leitet dort das glaziologische Freiluftlabor Hintereisferner. In seiner Dissertation zeigte er, dass Gletscher in den Tropen besonders empfindlich gegenüber Schwankungen des Niederschlages und der Luftfeuchte sind und sich als Messinstrumente zur Klimarekonstruktion eichen lassen. Bei Prinz’ Postdoc-Aufenthalt an der Universität Graz entstand die Kernidee zum Projekt Eiskliffe in Grönland (LATTICE) (2023–2027), das vom Wissenschaftsfonds FWF mit 399.000 Euro gefördert wird.

(scilog.fwf.ac.at)

Publikationen:
o   Steiner J. F., Buri P., Abermann J., Prinz R., Nicholson L.: Steep ice – progress and future challenges in research on ice cliffs, in: Annals of Glaciology 2023
o   Abermann J., Steiner J. F., Prinz R. et al.: The Red Rock ice cliff revisited –six decades of frontal, mass and area changes in the Nunatarssuaq area, Northwest Greenland, in: Journal of Glaciology, 2020

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