Warum können manche Tiere ganze Körperteile nachwachsen lassen, andere aber nicht? Diese Frage bleibt in der Biologie noch weitgehend unbeantwortet. Um zu testen, welche Prinzipien der Evolution hinter der Regenerationsfähigkeit stecken, hat ein Team von Wissenschaftler:innen Planarienarten aus der ganzen Welt untersucht. Diese Tiere aus dem Stamm der Plattwürmer sind meist nur wenige Zentimeter groß. In der Forschung wird vor allem die Art Schmidtea mediterranea als Modellorganismus verwendet, weil fast jedes Körperteil ein vollständiges Tier nachwachsen lassen kann.
Geleitet wurde die Studie von Jochen Rink und Miquel Vila-Farre vom Max-Planck-Institut für Multidisziplinäre Naturwissenschaften in Göttingen, wo über 40 Planarienarten untersucht wurden. Auch die Universität Innsbruck steuerte fünf Arten ihrer umfangreichen Planariensammlung bei. Bernhard Egger und Alexandra Grosbusch vom Institut für Zoologie untersuchten zudem zwei Arten von nahen Verwandten der Planarien, bei denen die Regeneration nur schwach ausgeprägt ist- diese sind ab einer bestimmten Körperstelle nicht mehr dazu in der Lage, sich wieder herzustellen.
Beteiligt waren weitere Forschungseinrichtungen aus Deutschland, Spanien, Brasilien und Australien. Die Ergebnisse der Studie wurden in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift Nature Ecology & Evolution veröffentlicht.
Hinten wird Vorne
Die Untersuchung an den verschiedenen Planarienarten ergab, dass ein starker Zusammenhang zwischen dem Wnt-Signalweg und der Regenerationsfähigkeit besteht. Ein Signalweg ist in der Biologie ein Ablauf von chemischen Prozessen, durch die ein Organismus auf äußere Reize reagiert. Der Wnt-Signalweg ist dabei ein sehr alter Mechanismus, der für zahlreiche Funktionen in Organismen zuständig ist, unter anderem die Bildung der Körperachsen.
Wurde die Herstellung einer bestimmten Komponente des Wnt-Signalwegs gehemmt, nämlich des Proteins Beta-Catenin1, konnten Planarienarten mit schlechter oder gar nicht vorhandener Regenerationsfähigkeit plötzlich ihren Kopf wiederherstellen.
„Beta-Catenin1 ist vor allem im Schwanz der Tiere stark vertreten“, erklärt Egger. „Wird es ausgeschaltet, dann verliert das Hinterende seine Schwanzidentität und stattdessen kann dort ein Kopf entstehen.“
Daraus folgt, dass die Fähigkeit zur Regeneration des Kopfes bei allen Planarien im Grunde vorhanden ist, aber durch Beta-Catenin1 gehemmt wird. Warum aber sollte eine Art ihre Regenerationsfähigkeit wieder aufgeben? Das hängt mit einer wichtigen Funktion von Beta-Catenin zusammen.
Ein „nice to have“
„Auf den ersten Blick ist Regeneration etwas sehr Praktisches. In der Natur ist es allerdings ein vergleichsweise seltenes Ereignis, den Kopf zu verlieren“ sagt Egger. „Deswegen ist eine Hypothese, dass die Regenerationsfähigkeit in der Evolution neutral behandelt wird - wie ein „nice to have“, das nicht unbedingt notwendig ist. Das kann man sich vorstellen wie bei Tieren, die in lichtlosen Höhlen leben. Für diese ist es egal, ob die Augen funktionieren oder nicht, und so geht diese Fähigkeit entweder verloren oder sie bleibt.“
Beta-Catenin1 blockiert jedoch nicht nur die Kopfregeneration, sondern ist gleichzeitig auch der Dotterbildung förderlich. Im Fall mancher Planarien stand also die Fähigkeit, den Kopf zu regenerieren im Wettbewerb mit der Fähigkeit, mehr Eier legen zu können, und womöglich ist deshalb bei manchen Planarienarten die Fähigkeit, den Kopf zu regenerieren, vermindert worden. „Gewissermaßen handelt es sich um eine Art evolutionäres Tauschgeschäft, um mehr Eier legen zu können.“
Publikation: Probing the evolutionary dynamics of whole-body regeneration within planarian flatworms. Miquel Vila-Farré, Andrei Rozanski, Mario Ivanković, James Cleland, Jeremias N. Brand, Felix Thalen, Markus Grohme, Stephanie von Kannen, Alexandra Grosbusch, Han T-K Vu, Carlos E. Prieto, Fernando Carbayo, Bernhard Egger, Christoph Bleidorn, John E. J. Rasko, Jochen C. Rink. Nature Ecology & Evolution. DOI: 10.1038/s41559-023-02221-7