Bild­nis Til­mann Märk – Von Sybille Moser-Ernst

Es fiel mir sehr schwer, als Kunstwissenschaftlerin über das eigene Kunstwerk zu schreiben. Doch, es ist zugleich eine einmalige Chance.
Wer sich auf die Universitätsdisziplin Kunstgeschichte, eine Geisteswissenschaft deutscher Genese, einlässt, muss wissen: es gibt einen nicht zu Ende kommenden Theorie-Streit, nämlich, ob die Geschichte oder die Kunst wichtiger sei. Ein international bekannter Gelehrter schrieb in seiner Studentenzeit für ein Seminar am II. Kunsthistorischen Institut der Universität Wien, welches in die Faschings-Woche fiel, ein dramatisches Stück mit dem Titel „Infaust“.[1]

Die Kunsthistorischen Seminare müssen im Wien der frühen 30-er Jahre des 20. Jahrhunderts den Möglichkeiten des Kritisch-Lustigen mehr abgetrotzt haben, als es heute je vorstellbar erscheint. Die Hauptfigur in dem nämlichen Theaterstück ist Infaust. Dieser kann sich im Geplänkel mit den sich kapriziös vorstellenden Figuren Kunst und Wissenschaft einfach nicht für eine der beiden - natürlich weiblichen - Figuren entscheiden. Schließlich schwebt eine dritte Figur vom Himmel hernieder, mit dem Versprechen, in sich doch beider Figuren Fähigkeiten zu vereinen, und stellt sich vor als die Kunstgeschichte. Nach anfänglichem Zögern entschließt sich Infaust, die Kunstgeschichte zu umschlingen und an ihr, einer ausgesprochenen Problem-Figur, zu reifen. 

An diesem grundsätzlichen Problem entzündet sich auch meine Darlegung.

Die Geschichte ist rasch erzählt. Ich bin keine Anhängerin der Abbild-Theorie. Von Anbeginn an war ich mir sicher, dass Tilmann Märk nicht durch ein Repräsentativ-Porträt traditioneller Art dargestellt werden kann und darf; wiewohl er als langjähriger Rektor erinnert werden soll. Scherzhaft und vorsichtig vorfühlend sprach ich einige Monate davor vom „Laufbild Märk“, als des Rektors erste Anfrage in Richtung Porträt kam. Diese launische Bemerkung fiel mir wegen der zu erwartenden Komplikation ein, da der Darzustellende geistig in alle Richtungen Bewegung signalisiert und buchstäblich kaum an einer Stelle in Ruhe verharrt. Letzteres änderte sich notgedrungen, als Tilmann Märk im Zuge der Covid-Pandemie und der in diesem Kontext erfolgenden staatlichen Regulativen in die Systeme von „Big Blue Button“ und „Zoom“ gezwungen wurde. Hier hatte er – mit einem riesengroßen Headset am Kopf – nun nur noch seine beiden Hände zum Artikulieren frei. So kam es, dass ich 2021 einige Vormittage im Büro beziehungsweise im Salon des Rektors saß, mit selbst verordnetem Maulkorb und Ohrenklappen, dass ich mich mit meiner riesengroßen Mappe und meinen Mal-und Zeichen-Utensilien, irgendwo im Raum, den Rektor bei seiner Arbeit beobachtend, niederließ. Der Prozess des Porträtierens ist ein eigenartig sonderbarer, er ist ein geistig wie handwerklich anspruchsvolles Unterfangen. Das Malen eines Bildnisses bedeutet einen stillen Dialog zwischen Maler und Modell.

Der Zoom-Rektor erlaubte mir bald, seine Augen zu studieren, und seine Hände. Diese und ihre wiederkehrenden Bewegungen waren für mich mindestens so ausdrucksstark wie sein Gesicht. Die Hände schienen mir immer mehr und mehr zu erzählen; das auf diese Weise „Gehörte“ versuchte ich rückzubinden auf das Erkennen einer Persönlichkeit. Und plötzlich, im Zeichnen der Hände und ihrer geduldigen „Erklärungsversuche“ an unwillige Gegner in der Zoom-Diskussion, war die Idee da: das Erinnern der Comédie humaine von Honoré de Balzac zündete in mir die Vision, wie es gelingen könnte, eine Kombination von Versionen eines Charakters zu erschaffen. Wir lesen langsam und aufmerksam das Bild:

Die verbildlichte Persönlichkeit ist ein Rektor, dieser ist Professor für Physik, darüber hinaus eine Person, die in der Öffentlichkeit steht, und die hochschulpolitisch tätig ist. Und deshalb bietet sich hier im Besonderen an, unterschiedliche Kopfdarstellungen einer Persönlichkeit in einer gleichsam Collage zusammen zu montieren. Wir haben es mit vier Köpfen zu tun. Jeder Kopf steht für eine andere Rolle, die des Professors, die des Privatmenschen, die des Hochschulpolitikers, und darüber hinaus schuf ich eine noch andere „kombinierte“ Rolle. Jedenfalls ist es gut, eine so facettierte Persönlichkeit durch verschiedene Handlungsköpfe darzustellen. Diese Köpfe ergänzend sehen wir noch eine Kopfbedeckung, das Barett des Rektors. So eine Kopfbedeckung ist einzigartig. Sie hat eine Quaste, und – man muss wissen, dass ein Rektor eine solche Kopfbedeckung für offizielle Anlässe trägt, denn so, wie sie hier erscheint, isoliert, kann sie eventuell auch anderes bedeuten. Der Rektor hat wiederholt verschiedene Rollen einzunehmen. Deshalb ist es gut, dass auch dieser Gegenstand des Baretts für sich isoliert steht. Im Weiteren wird ein Rektor auch mit dem Szepter in Verbindung gebracht. Für hochoffizielle universitäre Repräsentationspflichten nimmt er das Fest-Szepter. Doch hier ist es nicht das Szepter einer quasi-politischen Herrschaft, sondern das Szepter der Macht des Wissens. Die Künstlerin hat Rektor Märk mit dem Fakultätsszepter, mit den Insignien der philosophisch-naturwissenschaftlichen Macht ausgestattet. – Wir haben es aber in Tilmann Märk mit einem Physiker und Chemiker zu tun, dies wird dadurch zum Ausdruck gebracht, dass wir einen physikalisch-chemischen Vorgang, in ein Modell gebracht, erblicken. Die Formel hat unmittelbar mit einer geistigen Hervorbringung Tilmann Märk‘s zu tun. Uns bleibt keine Wahl: wir müssen ihn über (s)eine Literatur studieren, um zu begreifen… [2]

Es fällt auf, dass im Bild, auf Blatt IV, zwei Handstellungen mit einer Literaturikone spielen, die mit dem „Unbekannten Meisterwerk“ in Verbindung gebracht wird. Dieses Unbekannte Werk ist ein Kunstgebilde aus Gedachtem und Wahrgenommenem, es deutet auf die geistige Dimension. Die Künstlerin hat dem Wissenschaftler Tilmann Märk das Chef d’Oeuvre inconnu[3] eingeschrieben. Eine einzige Stunde lang war mit vergönnt, das Modell, den Rektor, am Stehpult in der Aula der Universität Innsbruck in Ruhe stehend zu studieren. Um dies zu gewährleisten, hatte ich ihm erstmals die Novelle „Das Unbekannte Meisterwerk. Mit Illustrationen von Pablo Picasso“ in die Hand gegeben und ihn gebeten, von mir ausgezeichnete Seiten mehrmals zu lesen. Es war völlige Stille. Die kostbaren Minuten nützte ich für Beobachtungen und „Aufzeichnungen“.
Die Gestalt angenommenen Formen beschreiben interpretierend den Porträtierten, die Erkennbarkeit ist gewährleistet durch Übereinstimmungen charakteristischer Merkmale. Diese wurden in einer Reihung – gekennzeichnet durch römische Ziffern – auf handgeschöpften Papieren aus Nepal dargestellt und die Papiere collageartig auf einem Leinenträger ineinander montiert: Barett = I; Zoom-Rektor = II; Private Person = III; Hände/Balzac = IV; Professor = V; Macht/Szepter = VI; visualisierte Formel/Geistige Dimension = VII.
Blicken wir auf die visualisierte Formel (Blatt VII), die als Coulombexplosion eines mehrfachgeladenen Edelgasclusters in das naturwissenschaftliche Wissen eingegangen ist: wie ändern sich die Bindungseigenschaften eines Clustermoleküls durch Elektronenstoßionisierung, quantitativ beschrieben durch die Deutsch-Märk-Formel, dass es zum sofortigen Bruch kommt? Am Beispiel der Wassertropfenbildung in der Atmosphäre weitergedacht und erprobt, kann man auf diese Art den Einfluss von Umweltverunreinigungen auf die Wolkenbildung nachvollziehen. Visualisierungen bringen modellhafte Bilder hervor, diese sind immer rückbezüglich zu den theoretischen und experimentellen Denkleistungen. Es bleibt eine der brennenden Fragen…, WIE die Stoffe der Natur gewebt sind.

Etwas Grundsätzliches zum Bildermachen und im Besonderen zum Schaffen eines Bildnisses sei hier gestattet: Bilder sind zentral für das Denken und Handeln. Unser ganzer Körper ist daran beteiligt. Mehr noch, das Bild ist unmittelbares Denkorgan, es konstruiert die Sicht auf die Welt. Diese Auffassung steht in krassem Widerspruch zu der immer noch prominent auftretenden (neo)platonischen Ansicht, dass Bilder nur „Abbilder“ seien. Bilder sind tote Materie und doch wirkt durch sie eine lebendige Kraft, eine „Lebendigkeit“. Wie stellt sich die Lebendigkeit der Kunst her? „Das wurde noch nie systematisch untersucht“, sagte Horst Bredekamp. Bredekamp geht es um die Eigenmacht der Bilder, unablässig erforscht er der Bilder spezifische Eigenschaft, als vom Menschen geschaffene Artefakte eine Wirkung entfalten zu können, eine Wirkung, die sie als »autonom aktive Entitäten« mehr sein lässt als toter Stoff.[4] Die Kraft der Wirkung liegt in den Formen. Die Malerin eines Bildnisses schafft die spezifische Form, die sie aus dem beobachteten Modell gleichsam „herauszieht“ und weiterentwickelt. Letztlich geht der Begriff Porträt, welcher in der französischen Sprache (portrait) noch näher an dem lateinischen protrahere lehnt, auf diesen Prozess zurück. Die Traditionen in der Malerei und der Stil bilden den Rahmen des Prozesses, die Formfindung bedient sich dessen, ohne sich darauf beschränken zu lassen. Auf diese Weise in einem komplizierten Unterfangen – wie schon oben angesprochen - hervorgebracht, entfaltet das Bild eine Kraft, die aus ihm, dem Werk, zu kommen scheint. Diese Kraft kann von einem empfangsfähigen Betrachter vernommen werden.

Wir kommen zurück auf die Novelle von Balzac, die uns ins Jahr 1612 entführt. Wir befinden uns in der verlorenen Ära von Frankreichs Klassik, der junge Adept, der nach dem „Meisterwerk“ sucht, ist niemand Geringerer als Nicolas Poussin. Er will zu Francois Porbus, in das Atelier des Malers Heinrich IV., den man zu Gunsten von Peter Paul Rubens fallen gelassen hat. Mit Poussin zusammen ist ein wunderlicher Alter, Frenhofer, der letzte Schüler von Jan Mabuse (Jan Gossaert). Sie stehen alsbald im Atelier von Porbus, es ist hier, wo wir den Alten gewaltig zu reden beginnen hören: er bekritelt das Fehlen von etwas Gewissem in einem Werk des Porbus, … dieses sei “ein Nichts, aber dieses Nichts ist alles!“ Er meint das Leben, welches aus der Dargestellten pulsieren müsste, wollte das Werk „kraftvolle Wirklichkeit“ vermitteln. Wir werden von Balzac mitgenommen in zwei Dramen, von denen das Drama der Kunst, in welchem der alte Maler Frenhofer die Hauptfigur ist und scheitert, herüberreicht in unser Thema der Wirkkraft der Bilder. Frenhofer hatte über zehn Jahre hinweg in seiner künstlerischen Phantasie die Illusion des vollkommenen Porträts genährt, und darüber die zahllosen Möglichkeiten der Linie, noch mehr der Malerei entdeckt.
Hier haken wir ein, für eine letzte Überlegung. Es bleibt die Idee der Kunst, einen Tagtraum in die materielle Realität herabzuzerren, - wo nichts als ein Abklatsch von ihm bleibt. - Könnte man die Metamorphosen eines Bildes festhalten, dann ließe sich als unzerstörbare Spur der Weg verfolgen, auf dem das Gehirn einen Traum verwirklicht. Und nun gilt es die Idee am Leben zu erhalten, die in einem Werk so leicht verloren geht: „den Ausdruck der Seele“ nachzubilden; wie es schon das Sehnen des Sokrates war, aufgezeichnet in seinem Gespräch mit dem zographos Parrhasios[5]. „Die Wirkungen! Die Wirkungen! Das sind doch nur die wechselnden Erscheinungen des Lebens und nicht das Leben selbst. Eine Hand, um bei diesem Beispiel zu bleiben […], steht nicht nur im Zusammenhang mit dem Körper, sie ist Ausdruck und Fortsetzung eines Gedankens, den man erfassen und wiedergeben muss“, hören wir Frenhofer, den unglücklichen Maler im „Unbekannten Meisterwerk“ sagen. Es geht um das Innerste der Form, der man „mit Liebe und Ausdauer nachgehen“ muss, um die man kämpfen muss, bis man sie dazu bringt, „ihre wahre Gestalt zu zeigen“. Die Form ein „Dolmetsch zur Mitteilung der Gedanken“ und der Gefühle.[6]

Über das Erkennen der Form gewinnen wir Verstehen und Distanz, und werden auf die unzerstörbare Spur der bestmöglichen Ähnlichkeit geführt, die wir durch das Bild zu sehen beginnen. Es ist die bestmögliche Ähnlichkeit mit einer Persönlichkeit, die mit dem Bildnis der Kunst in die lebendige Erinnerung entlassen wird.

 

[1] Erzählt von Sybille Moser-Ernst, in: Sybille Moser-Ernst u. Christoph Bertsch (Hrsg.), Kunst :: Wissenschaft. Eine fächerübergreifende Untersuchung am Beispiel der Universität Innsbruck, Innsbruck 2019, S. 375 u 376; Ernst H. Gombrich, Zum Geleit, in: Klaus Lepsky, Ernst Gombrich: Theorie und Methode, Wien/ Köln 1991, S. 9-13; wir erfahren in diesem Vorwort Gombrichs einiges über seinen 1932 verfassten „Infaust“, ein Theaterstück im Stil des Jesuitendramas. Ernst H. Gombrich war der Lehrer der Künstlerin und Kunstwissenschaftlerin Sybille Moser-Ernst.  

[2] Am 25. Mai 2021 entstanden diese (beschreibenden) Zeilen, in einem Dialog mit Werner W. Ernst, Professor und Psychoanalytiker. Ich brauchte das Gespräch mit meinem Gatten, da seine Beobachtungen meiner kunstfertig hervorgebrachten Formen erst meine Distanz zu meinem eigenen Werk möglich machten.

[3] 1927 bat ein Pariser Verleger Pablo Picasso, die Novelle „Le Chef d’Oeuvre inconnu“ zu verbildlichen. Die Kurzgeschichte oder Novelle war 1831 unter dem Titel „Der Meister Frenhofer“ in der Zeitschrift L’Artiste erstmals erschienen, und Honoré de Balzac hatte sie schließlich 1846 in seine Comédie humaine aufgenommen.

[4] Horst Bredekamp, Der Bildakt, Berlin 2016.

[5] Xenophon, Memorabilien 3,10,1. Zographos ist der Maler, „derjenige, der lebendig schreibt“, nach Pascal Quignard (Die römische Malerei, in: Sexualität und Schrecken, Diaphanes 2015), Gegenwartsautor in Frankreich.

[6] Honoré de Balzac, Das unbekannte Meisterwerk. Mit Illustrationen von Pablo Picasso, hg.v. Sebastian Goeppert-Frank, ins Deutsche übertr.v.Herma Goeppert-Frank, Frankfurt a.M. 1987, S.44-46.

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