Die Europäische Union vertritt das Prinzip der Mehrsprachigkeit: Alle EU-Bürger*innen haben das Recht, mit den Institutionen der EU in einer der 24 EU-Amtssprachen und, auf Wunsch Spaniens, auch auf Baskisch, Katalanisch und Galizisch zu kommunizieren. Die Sprachenvielfalt ist potenziell wachsend, denn jede Erweiterung der Union bringt neue Sprachen hinzu. Um sowohl die Kommunikationsprozesse zwischen dem Staatenverbund und seinen Bürger*innen als auch jene zwischen den verschiedenen Organisationseinheiten der EU zu ermöglichen, werden Übersetzungs- bzw. Sprachendienste gebraucht: Der Europäische Rat, das Europäische Parlament, der Europäische Gerichtshof, der Ausschuss der Regionen usw. haben jeweils ihre eigenen Übersetzer*innen, um der Ausdifferenzierung von Fachbereichen und der Notwendigkeit zum schnellen Arbeiten gerecht zu werden. Insgesamt beschäftigt die EU etwa 4000 hochqualifizierte Translator*innen, und zirka 1400 davon arbeiten im Übersetzungsdienst der Europäischen Kommission, meist in Brüssel oder Luxemburg, teils aber auch – so wie Claudia Kropf – in den Außenstellen in EU-Hauptstädten.
In ihrem Gastvortrag, der im Rahmen des Kurses Translationsmanagement (Leitung: Martina Mayer) organisiert wurde, hat Claudia Kropf die Funktionsweise einer so immensen Übersetzungsabteilung vorgestellt und den vor Ort bzw. auch online teilnehmenden Studierenden und Lehrenden – gestreamt wurde von Partneruniversitäten aus Wien, Graz und Zadar – ein Bild davon vermittelt, wie der Arbeitsalltag dort aussieht. Die von Christos Ellinides geleitete DGT unterteilt sich in mehrere, nach Sprachen geordnete Übersetzungsabteilungen, wobei das Muttersprachprinzip gilt: Alle Übersetzer*innen arbeiten aus Gründen der Qualitätssicherung und der Effizienz ausschließlich aus der Fremdsprache in die Muttersprache. Unterstützend werden diverse Softwares verwendet, zum Beispiel IATE (die Terminologiedatenbank der EU), CAT-Tools oder mit eTranslation auch ein System, das maschinelle Übersetzungen automatisiert erstellt und übrigens Universitäten, Unternehmen usw. ebenfalls zur Verwendung zur Verfügung steht. Dank diesem Technologiemix können die Translator*innen zeitsparend Zieltexte anfertigen, die teils im Post-Editing, teils auf Basis von Vorgängertexten und teils in freier Übersetzung entstehen und dann final lektoriert werden. Dabei ist der Einsatz der Maschinenübersetzung in der DGT nicht verpflichtend, hat sich aber unter den Translator*innen inzwischen sehr etabliert. Kann die Maschine ausreichend gute Übersetzungsarbeit leisten, und braucht es Humantranslation überhaupt noch? Claudia Kropf rief die Studierenden dazu auf, sich als kritische Nutzer*innen von Tools zur maschinellen Übersetzung zu verstehen, weil „die Maschine einen manchmal anlügt und einen Text liefert, der flüssig und gut zu lesen ist – aber trotzdem falsch“. Maschinelle Übersetzung wird also auch in der Europäischen Union, in der hauptsächlich politische Fachtexte zum Klimaschutz, zum Bauwesen, zur Digitalisierung, zur Wirtschaft, zu Außenbeziehungen, zur Demokratie und der europäischen Lebensweise oder Rechtstexte übersetzt werden, Translator*innen aus Fleisch und Blut nicht überflüssig machen; es ändert sich lediglich das Berufs- und Kompetenzprofil, das zur hervorragenden Erledigung der täglich ca. 300 Übersetzungsaufträge nötig ist.
Im Jahr 2022 wurden etwa 2,6 Millionen Seiten im Übersetzungsdienst der Europäischen Kommission übersetzt; im Rekordjahr 2021 waren es gar 2,8 Millionen Seiten, was der Pandemie und dem Krieg in der Ukraine geschuldet war. Da die Übersetzungsvolumina weiter steigen, arbeitet die DGT über Agenturen, die als Subunternehmerinnen fungieren, auch mit freiberuflichen Übersetzer*innen; etwa 37 % der zu übersetzenden Texte werden ausgelagert. Die Ausgangstexte sind zu 90 % auf Englisch geschrieben; 2,4 % sind auf Französisch verfasst und nur 1% auf Deutsch. Knapp 6 % der Texte sind in den anderen EU-Amtssprachen geschrieben, aber auch EU-externe Sprachen sind gefragt. Derzeit herrscht ein hoher Bedarf an Ukrainisch und Russisch, aber auch indische, arabische oder auf Mandarin verfasste Texte müssen bewältigt werden.
Weil die EU und die Europäische Kommission Translationsprozessen und Nationalsprachen ein angemessenes Augenmerk widmen möchten, werden zusätzlich zur Übersetzungsarbeit andere Aktivitäten mit Publikumswirksamkeit umgesetzt: Der Übersetzungswettbewerb Juvenes Translatores richtet sich an 17-jährige Schüler*innen aus der ganzen EU (heuer hat Theresa Drexler von der International School in Kufstein mit einer Übersetzung Ungarisch-Deutsch gewonnen); die mannigfaltigen Veranstaltungen des Translating Europe Project zielen darauf ab, dem translatorischen Fachpublikum europaweit neue translationswissenschaftliche Inhalte zugänglich zu machen; und der Europäische Tag der Sprachen, der jährlich am 26.9. begangen wird, unterstreicht die Wichtigkeit der Sprachenvielfalt.
Studierende translationswissenschaftlicher Studiengänge, wie das INTRAWI sie anbietet, haben sehr gute Chancen, an all diesen Prozessen aktiv teilzunehmen: Die DGT sucht regelmäßig Praktikant*innen, Vertragsbedienstete und Beamt*innen. Claudia Kropf hat dem Publikum auch diese attraktiven Berufsperspektiven nähergebracht und ihren Vortrag mit einer Ermutigung beschlossen: „Bewerben Sie sich, trauen Sie sich.“ Das INTRAWI wiederum dankt Claudia Kropf und den Sprachendiensten der EU für die seit Jahren so hervorragende Zusammenarbeit.
(Martina Mayer, Institut für Translationswissenschaft)