Blick auf eine Autobahn mit zahlreichen LKWs.

Lkw-Stau auf der Brennerautobahn. Aus der Vision, Nord und Süd zu verbinden, wurde eine Abwehrreaktion gegen europäische Verkehrspolitik.

Wie sich Alpen­tran­sit­pro­teste ent­wi­ckel­ten

Mit dem Bau der großen alpenüberschreitenden Autobahnen in Österreich und der Schweiz entstanden ab den 1970er-Jahren da wie dort Protestbewegungen. Herangehensweisen und Erfolge der Aktivist:innen waren in beiden Ländern jedoch sehr unterschiedlich und eine Vernetzung blieb weitgehend aus. Historiker:innen in Innsbruck, Basel und München haben die beiden Umweltschutzinitiativen in vergleichender Weise aufgearbeitet. 

In den 1950er- und 1960er-Jahren war es das Versprechen einer besseren Zukunft: Eine Autobahn, die quer durch Tirol die Alpen überspannt, sollte Tourist:innen ins Land bringen, Urlaubsreisen erleichtern und Handel und Wirtschaft kräftig ankurbeln. Die neue Verkehrsader sollte Europa näher zusammenbringen. Nicht umsonst wurde die monumentale, 1963 fertiggestellte Brücke über die Sillschlucht nahe Innsbruck „Europabrücke“ benannt. Der Wohlstand ist, vor allem in Form von Urlaubsgästen, gekommen. Doch nicht lange nach der Fertigstellung der Autobahnverbindung über den Brenner wurden auch die Nachteile spürbar: Staus, Lärm und Abgase.

Proteste keimten auf, eine Umweltbewegung richtete sich gegen die zunehmenden Verkehrsströme über den Alpenpass. Aus der Vision, Nord und Süd im Dienste Europas zu verbinden, wurde eine Abwehrreaktion gegen eine europäische Verkehrspolitik. Neidisch blickte man auf die Schweiz, wo man wesentlich rigidere Transitbedingungen durchsetzen konnte. Im vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt Issues with Europe stellten sich Historiker:innen die Aufgabe, die Geschichte der Protestbewegungen gegen den Alpentransit sowohl in Tirol als auch in der Schweiz aufzuarbeiten und zu vergleichen. Die Analyse wirft ein neues Licht auf die Mechanismen, die zu Erfolg und Nichterfolg in der Transitdebatte führten.  

„Die politischen Strategien rund um den Bau der Alpentransversalien in Österreich und der Schweiz waren sehr ähnlich. Unabhängig voneinander gab es ab den 1970er-Jahren da wie dort zunehmend Proteste von Umweltbewegungen mit unterschiedlichen Auswirkungen auf den politischen Prozess“, erklärt die Historikerin Maria Buck. „Wir haben unter anderem untersucht, ob und wie sich die Protestbewegungen in den beiden Ländern gegenseitig beeinflussten und wie die beiden Fälle auf EU-Ebene verhandelt wurden.“ Buck arbeitete gemeinsam mit Patrick Kupper vom Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie der Universität Innsbruck im Rahmen ihrer Dissertation die Geschichte der Tiroler Protestbewegung als eines von drei Subprojekten von „Issues with Europe“ auf. Die beiden anderen Fallstudien waren an der Universität Basel und der LMU München angesiedelt. Dort wurde die Schweizer Transitdebatte und das Agieren auf EU-Ebene untersucht. Die Analyse der Historiker:innen fußte unter anderem darauf, wie sich soziale Netzwerke innerhalb und zwischen den Bewegungen ausgestalteten.

Gottesdienst und Schützenkompanie auf der Autobahn

Die lokale Tiroler Protestbewegung, die sich ab den 1970er-Jahren gegen den zunehmenden Transitverkehr stemmte, unterschied sich grundsätzlich von dem in vielen Teilen Europas aufkeimenden politischen Aktivismus im Umweltschutz. „Hier stand die persönliche Betroffenheit im Vordergrund. Die Landbevölkerung entlang der Brennerautobahn – Landwirte, Menschen aus der bürgerlichen Mitte – trugen hier die Proteste, nicht Studierende oder politisch linksgerichtete Gruppen“, sagt Buck. „In den legendär gewordenen Autobahnblockaden mit ihrem volkstümlichen Charakter spiegelt sich dieser Ursprung wider. Da wird ein Gottesdienst auf der Autobahn abgehalten und die Schützenkompanie tritt auf.“

Die Proteste fokussierten immer auf den LKW-Transit, nicht auf den für Tirol profitablen Tourismus. Dabei wendete man sich an immer höhere politische Instanzen. Zuerst ging es darum, bei der Tiroler Bevölkerung um Unterstützung zu werben. Dann stellte man Forderungen an die Tiroler Landespolitik und an die Bundespolitik, in deren Verantwortung der Autobahnbetrieb stand. In den 1980er-Jahren, mit der Debatte um einen möglichen EU-Beitritt Österreichs, kam auch Brüssel ins Visier der Aktivist:innen. „Die Tiroler Landespolitik versuchte, die Proteste einerseits kleinzuhalten, andererseits als Druckmittel gegen Wien und Brüssel zu nutzen“, resümiert Buck. „Das Thema Transit wurde neben der Neutralität und der Landwirtschaft zu einem der drei großen Themen bei den österreichischen EU-Beitrittsverhandlungen. Aus der Vision eines Europas, das durch die Verkehrswege enger verbunden werden sollte, war ein Feindbild geworden.“

Protest-Erfolge in Österreich und der Schweiz

Als größten Erfolg der Tiroler Bewegung kann die Einführung des Nachtfahrverbots für LKWs auf Autobahnen gewertet werden, zuerst am Brenner, dann österreichweit in den 1980er-Jahren, sagt Buck. Nach dem EU-Beitritt und der damit einhergehenden Begrenzung des österreichischen Handlungsspielraums in der Transitregulierung kam der Protest schließlich weitgehend zum Erliegen. Ein letztes Aufbäumen fand 2004 statt, als eine Transit begrenzende Übergangsregelung auslief. 

Die Transitgegner:innen in der Schweiz starteten in den 1970ern von einer ähnlichen Ausgangslage. Doch vor allem Unterschiede im Rechtssystem hatten zur Folge, dass die Proteste in ganz anderer Weise auf die Gesellschaft wirken konnten. „Anders als in Österreich war in der Schweiz ein Protest auf der Autobahn nie möglich. Demonstrationen wurden nicht genehmigt. Protestierte man dennoch auf der Straße, wurde schnell hart durchgegriffen“, erklärt die Historikerin. „Das Rechtssystem macht es hier dafür aber viel einfacher, eine politische Initiative zu starten, um auf Regelungen Einfluss zu nehmen.“ Der Protest führte dort zur Gründung der Alpeninitiative. Der Verband, der bis heute besteht, ist finanziell gut ausgestattet und betreibt Lobbying- und Pressearbeit für eine Reglementierung des Alpentransits. Mit Erfolg: Die Alpenüberquerung durch die Schweiz ist für Frächter heute ungleich schwieriger und teurer als durch Österreich.

Mangelnder Schulterschluss unter den Umweltschutzbewegungen

Obwohl die Protestbewegungen der beiden Länder dasselbe Anliegen hatten, blieb man untereinander auf Distanz. „Die Aktivist:innen wussten voneinander und beobachteten die Entwicklungen im jeweils anderen Land. In den 1980ern gab es auch Bemühungen, die verschiedenen Gruppen auf Tagungen zu vernetzen. Doch das hatte nicht den gewünschten Erfolg gebracht“, resümiert Buck. „Der Grund dafür liegt aber nicht in den verschiedenen politischen Systemen, sondern ist viel banaler und menschlicher. Im Grunde haben sich die Führungen der Protestbewegungen auf persönlicher Ebene nicht verstanden.“ Politiker:innen in Österreich wie in der Schweiz wurde damals vorgeworfen, dass es keinen Schulterschluss und keine gemeinsamen Verhandlungen der beiden Länder gab. Auf der Seite der Aktivist:innen blieb dieser Schulterschluss aber ebenfalls aus.

Unter den Protestierenden wurde die EU zum großen Feindbild. Blickt man genauer auf die Standpunkte innerhalb der EU-Verwaltung, ergebe sich aber ein differenzierteres Bild, betont Buck. „Es gab durchaus zahlreiche Stimmen, die eine europaweite Lösung anstrebten. Auch die EU-Kommission wurde von Parlamentarier:innen immer wieder dazu aufgerufen.“ Schließlich verhandelten Österreich und die Schweiz jeweils für sich Transitverträge mit der EU aus, wobei Österreich aus Sicht der Protestierenden im Vergleich massiv schlechter gestellt war. „Österreich hatte, nachdem der EU-Beitrittsvertrag bereits fertig in der Schublade lag, einen schlechten Stand bei den Verhandlungen zum Transitvertrag“, sagt Buck. „Die Protestierenden warfen der Delegation schließlich vor, sie hätten sich über den Tisch ziehen lassen.“

Zu den Personen

Maria Buck studierte Geschichte an der Universität Luzern und der Universität Innsbruck. Seit 2018 ist sie Projektmitarbeiterin im Dachprojekt „Issues with Europe – A Network Analysis of the German-speaking Alpine Conservation Movement (1975–2005)“, das vom Wissenschaftsfonds FWF mit 195.000 Euro gefördert wurde. Projektleiter Patrick Kupper ist Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Innsbruck. Er studierte an der Universität Zürich und der Humboldt-Universität zu Berlin.

(scilog.fwf.ac.at)

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