Über die KSZE, die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, gibt es einen gemeinen Witz. Die Konferenz, die ab 1973 erst in Helsinki und später in anderen europäischen Städten abgehalten wurde, hatte unzählige Abendveranstaltungen, bei denen die Verhandler:innen informell zusammenkamen. In der österreichischen Bevölkerung verbreitete sich irgendwann das Bonmot, KSZE stünde eigentlich für „Kommen Sie zum Essen“.
Das ist lustig, geht aber an der Wahrheit vorbei. Auch wenn die KSZE den Kalten Krieg sicher nicht beendet hat, war sie in den 1970er- und 1980er-Jahren ein wichtiges Instrument, in dessen Rahmen die internationale Zusammenarbeit – auch blockübergreifend – neu definiert wurde. Ein internationales Forschungsprojekt – beteiligt sind unter anderem die Universität Hildesheim, das Graduate Institute in Genf und das Institut für Zeitgeschichte München/Berlin – ist aktuell dabei, die KSZE als dynamisches Element in der Endphase des Kalten Kriegs neu zu verorten. In Österreich sind Andrea Brait, Nina Hechenblaikner und Roland Laimer vom Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck involviert. Sie beschäftigen sich insbesondere mit einer der Folgekonferenzen, die ab 1986 in Wien stattfand, und den Verhandlungen zur humanitären Dimension. Das Projekt „Das KSZE-Folgetreffen in Wien (1986–1989)“ wird vom Wissenschaftsfonds FWF kofinanziert und läuft noch bis 2024.
Zusammenarbeit über die Systemgrenzen
„Die KSZE war ein einmaliges Kommunikationsforum im Kalten Krieg“, sagt Hechenblaikner. In ihr versammelten sich – ursprünglich auf sowjetische Initiative – alle europäischen Staaten außer Albanien sowie die USA und Kanada, um Regeln für das gemeinsame Miteinander aufzustellen. Die Verhandlungen begannen 1973, 1975 wurde die Schlussakte von Helsinki verabschiedet. Darin wurden in drei „Körben“, wie die Kapitel genannt werden, umfassende Fragen zur europäischen Zusammenarbeit über die Systemgrenzen behandelt, von „Fragen der Sicherheit in Europa“ (Korb 1, Abrüstungsthemen) bis zu den „Grundsätzen der Zusammenarbeit in humanitären und kulturellen Bereichen“ (Korb 3, Menschenrechte).
„Das Wichtige an der KSZE ist, dass sie außerhalb der üblichen Bündnisse angesiedelt war“, betont Hechenblaikner. Beschlüsse mussten im Konsens gefasst werden, jeder Staat war gleichberechtigt, eine Abstimmung innerhalb der NATO beziehungsweise des Warschauer Pakts erfolgte nur informell. „Gerade kleinere Staaten wie Österreich und die Schweiz nutzten die Chance, ihre Neutralität neu zu definieren und Kompromisse in die Wege zu leiten.“ Die sogenannten N+N-Staaten (die neutralen Staaten, zu denen Österreich gehörte, und die blockfreien wie Jugoslawien) wurden mit der Zeit immer mehr zum Vermittler zwischen Ost und West.
Sowjetunion auf Entspannungskurs
Am Ende der Konferenz von Helsinki vereinbarte man eine Folgekonferenz in Belgrad und eine weitere in Madrid. Man darf sich den fortlaufenden Prozess allerdings nicht linear vorstellen, hin zu einer immer entspannteren Lage. Die KSZE war kein abgeschlossener Kosmos: Entwicklungen wie der sowjetische Einmarsch in Afghanistan 1979 oder die Ausrufung des Kriegsrechtes in Polen 1981 ließen die Verhandlungen immer wieder stocken. Als zentrale Errungenschaft der Konferenzen in Belgrad und Madrid gilt, dass man die Gesprächskanäle überhaupt offenhielt.
Vor der Folgekonferenz in Wien war die Situation unklar: Michail Gorbatschow hatte ab 1985, also ein Jahr vor der Konferenz, einen Reformprozess in der Sowjetunion eingeleitet. Es gab die Hoffnung auf entscheidende Ergebnisse, auch weil viele Kompromisse im Vorfeld von nur einem oder zwei Staaten blockiert wurden. Gegen Ende des Folgetreffens waren vor allem die DDR und Rumänien Bremsklötze. „Trotz des Entspannungskurses der Sowjetunion verbesserte sich die Verhandlungsatmosphäre vorerst nicht wirklich“, sagt Andrea Brait. Erst ab etwa der Hälfte der Konferenz, also Ende 1987, soll sich die Gesprächsatmosphäre wesentlich entspannt haben. Das sei zumindest die Einschätzung von beteiligten Diplomat:innen, die für das Projekt interviewt wurden.
Das Abschlussdokument von Wien wurde in derselben Logik verfasst wie die Schlussakte von Helsinki und die Dokumente der Folgekonferenzen (drei Körbe und die Vereinbarung der nächsten Konferenz). In vielen Bereichen sei es eine Präzisierung und eine Ausweitung der Beschlüsse, die schon in Helsinki gefasst wurden, sagt Hechenblaikner. „Der KZSE-Prozess ist aber ohnehin nicht durch sprunghafte Fortschritte geprägt.“ Man müsse die Dokumente sehr genau studieren und vergleichen, da sei um jedes einzelne Wort gerungen worden.
Öffnung kam überraschend
In Wien war die Welt schon nicht mehr streng nach Blöcken geteilt. Zum ersten Mal wurden Textbausteine und Kompromissvorschläge in allen Konstellationen eingebracht. Sogar NATO- und Warschauer-Pakt-Staaten brachten gemeinsam Vorschläge ein. „Am Ende der Konferenz zeigte sich der innere Konflikt der Warschauer-Pakt-Staaten“, erklärt Brait. So habe die Sowjetunion starken Druck auf Rumänien ausgeübt, die Verabschiedung des Schlussdokuments nicht zu verhindern. Es sei aber zu einfach, die späteren Entwicklungen retrospektiv an der Wiener Folgekonferenz abzulesen. „Vom Gedanken, dass der Kalte Krieg zu Ende gehen könnte, war man am Ende der Konferenz am 19. Jänner 1989 noch meilenweit entfernt.“
Der Fall der Mauer und das Ende des Eisernen Vorhangs kamen dann schneller als gedacht. Auf einer Sondergipfelkonferenz im November 1990 wurde die „Charta von Paris“ verabschiedet, die eine neue, friedliche Ordnung in Europa schaffen sollte und die Spaltung Europas auch nominell beendete. 1994 beschloss man, die Konferenz in eine ständige Organisation zu überführen, die heutige Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) mit 57 Teilnehmerstaaten. Ihr Sekretariat hat die Organisation, deren Hauptaufgabe noch heute die Friedenssicherung ist, in einer Stadt, die sie bereits von einer Folgekonferenz ihrer Vorgängerin kennt: Die OSZE hat ihren Sitz in der Innenstadt von Wien. Als vertrauliches und einzigartiges Dialogforum zwischen Ost und West könnte sie heute angesichts des Ukrainekriegs eine neue Bedeutung erlangen.
Zu den Personen
Andrea Brait studierte Geschichte, Politikwissenschaft und Germanistik in Wien. Seit 2016 ist sie am Institut für Zeitgeschichte und am Institut für Fachdidaktik an der Universität Innsbruck tätig: seit 2021 als assoziierte Professorin.
Nina Hechenblaikner studierte Geschichte in Innsbruck. Seit 2020 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin in dem internationalen Projekt „Das KSZE-Folgetreffen in Wien (1986–1989)“, das vom Wissenschaftsfonds FWF mit knapp 200.000 Euro kofinanziert wird und bis 2024 läuft.