Der Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 erschüttert die geopolitische Ordnung der Welt. Die Massaker der Hamas im Oktober 2023 und die darauffolgende Reaktion Israels verschärfen friedensethische Fragestellungen nochmals. Auf seiner 50. Tagung von 3. bis 5. Jänner 2024 im Bildungshaus Seehof stellte sich der Innsbrucker Kreis von Moraltheolog:innen und Sozialethiker:innen diesen Herausforderungen. Zum Auftakt zeichnete Wolfgang Palaver die Entwicklung der katholischen Friedensethik seit dem Ersten Weltkrieg nach und zeigte, wie sich diese immer stärker in Richtung des Konzepts vom gerechten Frieden entwickelte. Damit ist einerseits ein positiver Friede, der auch Gerechtigkeit umfassen muss, und andererseits die vorrangige Option für die Gewaltfreiheit gemeint, die Formen gerechter Verteidigung in Ausnahmefällen nicht ausschließt.
Regina Elsner: Kein gerechter Friede ohne Geschlechtergerechtigkeit
Die Münsteraner Theologin und Ostkirchenexpertin Regina Elsner markierte die Ambivalenzen und Leerstellen religiöser Diplomatie im Krieg Russlands gegen die Ukraine. „Der Krieg ist kein Religionskrieg, aber es ist unbestreitbar, dass vor allem die Ideologie dieses Kriegs religiös aufgeladen ist“, so Elsner. Die russisch-orthodoxe Kirche legitimiert aktiv den Krieg als metaphysischen Kampf gegen „Liberalismus“ und „Genderideologie“. Frauen seien die Hauptopfer des Kriegs. Die Gleichstellung der Geschlechter ist zentral für gerechten Frieden, doch gerade der Kampf für ein patriarchales Gesellschaftssystem und sogenannte „traditionelle Familienwerte“ verbindet die Russisch-orthodoxe Kirche, den Vatikan, aber auch viele Mitglieder des Ökumenischen Rats der Kirchen und politisch-autoritäre Regime. „Es ist politisch und theologisch nicht irrelevant, wie Frauen (nicht) repräsentiert werden. Frauen fehlen auf dem religiösen wie diplomatischen Parkett. Sie werden ausschließlich als Opfer wahrgenommen, aber sind nicht aktiv repräsentiert“, beobachtet Elsner. Feministische Außenpolitik ist für Regina Elsner ein wesentlicher Schlüssel für einen gerechten Frieden: „Es gibt keinen gerechten Frieden ohne Geschlechtergerechtigkeit. Dafür muss Theologie auch die eigenen Machtstrukturen und Ideologien hinterfragen.“
Schutz des Gemeinwohls verpflichtet Europa auf Unterstützung der Ukraine
Mit Blick auf den Krieg in der Ukraine erinnerte Marco Schrage (Academia Alfonsiana, Rom), dass politisches Handeln auf Gemeinwohl hin verpflichtet ist: „Angesichts der vorgetragenen und verfolgten russischen Kriegsziele ist es für die Ukraine nicht geboten, die Verteidigung zu beenden. Wenn die europäischen Regierungen den Schutz der elementaren Menschenrechte ernst nehmen, dann ist es geboten, dass die Belastung für die Unterstützung der Ukraine noch deutlich steigt.“ Als Hintergrund skizzierte Schrage ein kontrafaktisches Szenario – was passierte ohne diese Unterstützung: die Ukraine wird ein totalitärer Vasallenstaat Russlands oder ein Besatzungsregime, aus dem alle fliehenden Ukrainer aufgenommen werden müssen. Beides wären massive Herausforderungen für das Gemeinwohl.
Michael Walzer: In der Falle asymmetrischer Kriege
Michael Walzer (Princeton), einer der wichtigsten Vertreter der politischen Ethik der Gegenwart, reflektierte in Innsbruck über die Möglichkeit eines „gerechten Kriegs“ im Kontext des Kriegs zwischen der Hamas und Israel. Wie kann man gegen einen Feind kämpfen, der sich gezielt tief in die Zivilbevölkerung eingräbt, Raketen aus Schutzzonen für Zivilisten abfeuert? Israel steckt laut Walzer in der „asymmetrischen Falle“ eines Kriegs, der von der Hamas konstruiert wurde. „Es ist unmöglich diesen Krieg ohne zivile Opfer zu führen. Aber Israel kann nur für jene Opfer verantwortlich gemacht werden, die vermieden werden können.“ Walzers Vortrag zeugte von der tiefen Sorge eines großen Denkers unserer Zeit im Angesicht einer radikalen friedensethischen Krise. Die Frage sei weniger, wie man einen asymmetrischen Feind wie die Hamas besiegt, sondern: „Are you able to win morally against this enemy?“
Kritik der „moralischen Gleichheit der Kombattanten“
Ausführlich setzte sich Stefan Hofmann SJ (Innsbruck) mit Walzers These der moralischen Gleichheit von Kombattanten auseinander. Sind Soldaten jeglicher Kriegspartei moralisch gleich oder sind die Soldaten der ungerechten Kriegspartei auf moralisch anderer Ebene unterwegs? Hofmann forderte in Abgrenzung von Walzer, die Gleichheitsthese einzuschränken. „Moralische Gleichheit ist die Grundlage für ethische Mindeststandards im Krieg. Walzer macht zurecht darauf aufmerksam, dass auch der Soldat der ungerechten Partei grundlegende Rechte besitzt. Aber wir müssen vorsichtig sein und das ‚ius in bello‘ und ‚ius ad bellum‘ nicht voneinander trennen. Kombattanten haben nicht dasselbe Recht zu töten oder dasselbe Recht auf Leben. Der gerechtfertigte Verteidiger, wie z.B. die kurdischen Peschmerga gegen den IS, verliert doch nicht sein Lebensrecht.“
Jüdisch-christlich-muslimischer Dialog und politische Theologie müssen zueinander finden
Christian Rutishauser SJ, ständiger Berater des Hl. Stuhls für die Beziehungen zum Judentum, diskutierte die komplexen Hintergründe und Deutungshorizonte des Gazakriegs. „Der 7. Oktober ist eine Zäsur im Nahostkonflikt und in jüdisch-christlichen Beziehungen. Plünderung, Folter, Leichenschändung, Kindermord wurden von der Hamas jubelnd der Welt zur Schau gestellt“, so Rutishauser. Die Hamas wolle klar eine universale islamistische Gesellschaftsordnung, Israel/Palästina sei nur der Start. Für viele Juden und Israelis ist der 7. Oktober eine Retraumatisierung, ein Pogrom. Der Antisemitismus erscheint als das unausrottbare Chamäleon der Geschichte. Rutishauser mahnte, die religiösen Dimensionen des Konflikts zu beachten und plädierte u.a. für gelebte jüdisch-christliche Freundschaften, die Entwicklung einer christlichen Land-Theologie und die Ausblendung des Jüdischen in der christlichen Theologie zu überwinden. Zentral für die Zukunft sei, politische Theologie und interreligiösen Dialog zu verbinden. Wo politische Theologie fehle, seien Fundamentalisten erfolgreich.
50 Jahre Innsbrucker Kreis: Gipfeltreffen zentraleuropäischer christlicher Ethik
Der Kreis wurde 1974 von jungen Theologen rund um Hans Rotter SJ und Günter Virt gegründet, die in einem kleineren Kreis aktuelle moraltheologische und sozialethische Fragen erörtern wollten. Die aktuelle Leiterin Gertraud Ladner (Innsbruck) betont den pluralen Charakter des Treffens: „Eine Mischung aus interner Debatte und Hereinholen der Expertise von Kolleg:innen aus Recht, Medizin, Politikwissenschaft, Philosophie, Islamwissenschaften u.a. sorgte über die Jahre für immer wieder kontroverse und lebhafte Debatten.“ Zentrales Anliegen ist seit Beginn die Vernetzung der mitteleuropäischen Moraltheologie und Sozialethik. „Hier treffen sich Kolleg:innen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum, Slowenien, Tschechien, Ungarn, ganz Mittel- und Osteuropa“, so der Innsbrucker Moraltheologe Stefan Hofmann SJ.
Einen Einblick in die Geschichte des Innsbrucker Kreises gibt es unter: Innsbrucker Kreis von Moraltheolog:innen und Sozialethiker:innen; Rückblick – Universität Innsbruck
(Michaela Quast-Neulinger)