Während die Musik und die Bildende Kunst des 18. Jahrhunderts in Forschung und Öffentlichkeit einen großen Stellenwert einnehmen, so trifft dies für die Literatur in weitaus geringerem Maße zu. Dies hat mehrere Gründe, nicht zuletzt eine Literaturgeschichtsschreibung, die das österreichische literarische Feld weitgehend unberücksichtigt lässt. Wolf konzentriert sich auf die literarische Aufklärung in Wien, vor allem des josephinischen Jahrzehnts (1780–1790), und vergleicht die Situation mit der französischen Hauptstadt. Der Unterschied zwischen Paris und Wien ist erheblich, nicht zuletzt was die Sprachenpolitik betrifft. Der Kaiserhof in Wien, der Hauptstadt eines multilingualen Imperiums, sah keine Veranlassung, Akademien oder Gesellschaften einzurichten. Es existierten auch keine nennenswerten Salons.
Die Literatur der josephinischen Aufklärung blieb im Wesentlichen heteronom bestimmt. Die Autoren engagierten sich politisch, ließen sich aber kaum auf ästhetische Debatten ein und wurden daher aus dem Kanon der deutschsprachigen Literatur ausgeschlossen. Eine preußisch zentrierte Germanistik prägte das Narrativ vom rückständigen süddeutschen Raum, in den die Aufklärung kaum vorgedrungen sei.
Norbert Christian Wolf nennt in seinem Buch zwei Merkmale der österreichischen Ideengeschichte: zum einen eine ausgeprägte katholische Konfessionalität, die in der Aufklärung zu umso schärferer Kirchenkritik führen sollte, und zum anderen ein Antisubjektivismus, der sich als Skepsis gegenüber dem Individualismus protestantischer Provenienz äußerte. Dies sind die Voraussetzungen für das Entstehen eines Literatursystems im Wien des 18. Jahrhunderts. Wolf beschreibt ausführlich die Auswirkungen der Zensur, das Desinteresse des Hofes und der Universitäten an einer deutschsprachigen Literatur, die Rolle der Freimaurerei als Ersatz für eine fehlende Akademie der Wissenschaften und Künste, die Funktion von Salons und Cafés sowie die habsburgische Wirtschaftspolitik, die das Aufkommen eines konkurrenzfähigen Buchdruck- und Buchhandelsbetriebs verhinderte.
Drei paradigmatische Texte der Wiener Aufklärung werden vorgestellt und eingehend analysiert: Aloys Blumauers Versepos Virgils Aeneis, travestirt (1782–1788), Johann Pezzls erfolgreicher Thesenroman Faustin oder das philosophische Jahrhundert und Mozarts/Schikaneders Singspiel Die Zauberflöte, in dessen Libretto sich die Widersprüchlichkeit der Wiener Aufklärung eindrücklich zeigen lässt.
In der anschließenden Podiumsdiskussion, moderiert von Ulrike Tanzer (Forschungsinstitut Brenner-Archiv), ergänzten Kurt Scharr (Österreichische Geschichte) und Dirk Rose (Germanistik) das Thema um historische und literaturwissenschaftliche Kontexte. Die Beziehung zwischen Metropole und Provinz wurde ebenso diskutiert wie die unterschiedlichen Entwicklungen im nord- und süddeutschen Raum, illustriert am Beispiel Hamburg und Wien. Das Fazit eines anregenden Abends: Norbert Christian Wolfs Monographie hat einen neuen Standard in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Debatte um die Aufklärung in Wien gesetzt und einen Anstoß für weitere Forschungen, etwa auf dem Gebiet des Theaters, gegeben.
(Ulrike Tanzer)
Norbert Christian Wolf: Glanz und Elend der Aufklärung in Wien. Voraussetzungen – Institutionen – Texte. Wien, Köln: Böhlau 2023 (= Literaturgeschichte in Studien und Quellen 35), 451 S.