Im Rahmen ihrer Forschung haben die Wissenschaftler:innen eine Vielzahl an Fotos gesammelt. Hier zu sehen sind Leokadia Justman in unterschiedlichen Altersstufen und ihre Eltern.

Wert­volle Erin­ne­run­gen

Ein Team der Uni Innsbruck und des Innsbrucker Stadtarchivs bearbeitet die Geschichte einer polnischen Jüdin, die die NS-Verfolgung unter anderem in Innsbruck überlebt hat, wissenschaftlich.

Vor 80 Jahren befand sich am Südtiroler Platz in Innsbruck, gegenüber des Hauptbahnhofs, die Polizeidirektion, und im Hof zur Adamgasse hin war das Polizeigefängnis – dort wurden politische Gefangene und Jüdinnen und Juden bis zur Deportation und Ermordung in einem der Konzentrationslager des NS-Regimes festgehalten. Ab März 1944 war Leokadia Justman eine von ihnen: Die 1922 geborene Polin war als Jüdin der grausamen Verfolgung durch die Nationalsozialisten ausgesetzt und hat überlebt – auch durch Unterstützung mehrerer mutiger Menschen in Tirol. Unmittelbar nach dem Krieg schrieb sie ihre persönlichen Erinnerungen auf. Diese Unterlagen dienen nun Dominik Markl vom Institut für Bibelwissenschaften und Historische Theologie der Universität Innsbruck und Niko Hofinger vom Innsbrucker Stadtarchiv gemeinsam mit einem interdisziplinären Team als Grundlage für tiefergehende Forschung zur NS-Zeit und deren Opfern in Innsbruck und Tirol.

Ein besonderer Text

Leokadia Justmans Erinnerungen existieren in einer polnischen und in englischen Fassungen. „Leokadia Justmans Sohn Jeffrey Wisnicki hat die englischsprachigen Erinnerungen seiner Mutter 2003, ein Jahr nach ihrem Tod, erstmals als Buch publiziert. Dieser Text enthält ihre Erinnerungen von 1939 bis 1946. Der polnische Text ist insgesamt deutlich ausführlicher, beginnt aber erst bei der Ankunft in Tirol im März 1943. Jeffrey Wisnicki sandte uns dieses Jahr Scans der Originaltexte“, erläutert Dominik Markl. Anfang 2025 erscheint erstmals eine deutsche Übersetzung von Leokadia Justmans englischen Erinnerungen (siehe Box) – Dominik Markl und Niko Hofinger haben die Übersetzung mit 100 historischen Bildern illustriert und kommentiert, um Justmans Geschichte erstmals einer breiten Leser:innenschaft zugänglich zu machen. „Insgesamt hat uns die Akkuratesse von Justmans Beschreibungen erstaunt. Zum Beispiel erwähnt sie einen Herrn Cazzonelli als Bekannten ihrer Vermieterin, der seine Frau an die Gestapo verloren habe. Erst als wir diese Aussage überprüften, sind wir auf das Schicksal von Alice Cazzonelli gestoßen, die 1943 in Auschwitz ermordet wurde – ein bisher unbekanntes Opfer der NS-Diktatur aus Innsbruck“, erzählt der Theologe. Niko Hofinger betont eine weitere Besonderheit von Justmans Aufzeichnungen: „Wir haben es hier mit einer einzigartigen Perspektive einer jungen Frau zu tun, die unmittelbar nach dem Krieg Erlebnisse aus dem Gefängnis, in dem sie neun Monate lang war, berichtet. Es gibt keinen vergleichbaren Text dieser Art. Zum Zeitpunkt der frühesten Aufzeichnungen in Innsbruck hat Leokadia Justman keine einzige Zeile an Holocaust-Literatur lesen können – ihre Erinnerungen sind authentisch.“

Justmans Erlebnisse und der Weg, der sie nach Tirol gebracht hat, sind nur schwer auszuhalten, die Unmenschlichkeit des NS-Regimes wird in der unmittelbaren Nacherzählung besonders greifbar. Nach dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 kam Leokadia Justman über Umwege mit ihren Eltern in die Kleinstadt Łowicz, in der die Nationalsozialisten ein Ghetto errichteten. Aus Łowicz wurden die Justmans, gemeinsam mit allen anderen Jüdinnen und Juden der Ortschaft, ins Warschauer Ghetto gebracht. „Im Ghetto in Warschau herrschten damals schon unsägliche Zustände, Kinder verhungerten auf der Straße“, sagt Dominik Markl. Im November 1941 gelang es der Familie, aus Warschau zu entkommen. Die Ruhe im kleinen Dorf Gorzkowice sollte aber nur etwa ein Jahr währen, wie Markl schildert: „Im Oktober 1942, kurz nach dem Jom Kippur, den die Familie als letztes gemeinsames Fest begeht, durchkämmen die Nazis auch dieses Dorf und deportieren Jüdinnen und Juden. Nur wenige Leute bekommen die Möglichkeit, für Arbeiten zurückzubleiben, darunter Leokadias Eltern. Die Eltern entscheiden, dass die Mutter auf den Transport geht, um Leokadia eine Chance zu geben, zu überleben. Die Mutter trifft bewusst die Entscheidung, ihr Leben aufzugeben, um ihrer Tochter das Überleben zu ermöglichen.“ Vier Tage nach der Deportation aus Gorzkowice, am 20. Oktober 1942, wurde Leokadias Mutter Sofia Justman in Treblinka ermordet.

Zeit in Tirol

Nach einer Zeit im Ghetto von Piotrków unter unmenschlichen Bedingungen gelang Leokadia Justman und ihrem Vater 1943 die Flucht nach Tirol. Unter falschen Namen arbeiten sie zuerst in Seefeld, dann in der Lodenfabrik Franz Baurs Söhne in Innsbruck. Dort werden sie im März 1944 verraten. Ihr Vater Jakob wird schon ein Monat später im Innsbrucker KZ Reichenau ermordet. Leokadia kommt ins Innsbrucker Polizeigefängnis. Sie entgeht nur durch die Hilfe von fünf Polizisten und drei Frauen, die 1980 auch als „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet wurden, der Deportation und kann Anfang 1945 flüchten; die letzten Kriegsmonate verbringt sie wieder mit einem falschen Namen im Salzburger Pinzgau.

Die Innsbrucker Zeit schildert Justman in ihren Erinnerungen ausführlich. Diese Schilderungen und die darin erwähnten Personen sind noch Gegenstand der Forschung, in enger Zusammenarbeit mit Peter Hellensteiner und Anton Walder, die das Historische Archiv der Landespolizeidirektion Tirol aufarbeiten und zahlreiche wichtige Dokumente entdeckt haben. Neben dem für ein breites Publikum gedachten übersetzten Band ihrer Erinnerungen sind auch wissenschaftliche Editionen von Justmans Texten in Arbeit, außerdem entsteht in Kooperation mit dem Künstler Alwin Hecher eine Graphic Novel. „Wir hoffen, durch unsere Arbeit das Leben dieser bemerkenswerten Person nicht nur zu erforschen, sondern auch bekannt zu machen – nicht zuletzt durch eine Ausstellung, die Februar bis Oktober 2025 im Tiroler Landhaus zu sehen sein wird“, sagt Dominik Markl. Justman lernte bald nach dem Krieg in Innsbruck ihren späteren Mann Józef Wiśnicki kennen. Die beiden heirateten 1946 im Gasthof Adambräu, einige Jahre später wanderte die Familie in die USA aus. Leokadia Justman starb 2002 in den USA.

 

Leokadia Justmans Überlebensgeschichte
Leokadia Justman überlebte als Jugendliche die grausame Verfolgung durch die Nationalsozialisten in Polen. Nach der Flucht aus dem Warschauer Ghetto nahm ihre Mutter die Deportation nach Treblinka auf sich, um das Leben der Tochter zu retten. Mit ihrem Vater gelang die Flucht nach Tirol. Dort lebten sie unter falschen Identitäten, bis sie an die Gestapo verraten wurden. Nach der Ermordung ihres Vaters im Lager Reichenau entkam Leokadia mit einer Freundin aus der Haft und versteckte sich in Innsbruck. Unterstützt von mutigen Personen, überlebte sie die letzten Kriegsmonate in der Region von Lofer in Salzburg. Das Team um Dominik Markl und Niko Hofinger hat die Erinnerungen von Leokadia Justman erstmals aus dem englischen Original in Deutsche übersetzt und behutsam kommentiert. Das Buch erscheint unter dem Titel „Brechen wir aus!“ im Jänner 2025 im Tyrolia-Verlag.

Dieser Beitrag ist in der aktuellen Ausgabe von wissenswert erschienen, eine digitale Version des Magazins ist hier zu finden.

 

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