Sechs Personen stehen in einer Reihe und blicken in die Kamera

V. l.: Projektleiter Dirk Rupnow, Landesrat Eva Pawlata, die wissenschaftlichen Autor:innen Ina Friedmann und Friedrich Stepanek, Kommissionsvorsitzende Margret Aull und Bischof Hermann Glettler.

Aufarb­ei­ten und Erin­nern: „Demut lernen“

Unter dem Titel „Demut lernen“ veröffentlichten das Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck und das Wissenschaftsbüro Innsbruck das Forschungsprojekt zur Kindheit in den kirchlichen Heimen in Tirol nach 1945. Es dokumentiert die damals vorherrschende strukturelle, physische, psychische und sexualisierte Gewalt.

Das Projekt wurde von der „Dreierkommission Martinsbühel“ in Auftrag gegeben, die 2019 vom Land Tirol, der Diözese Innsbruck und Vertreter:innen der Ordensgemeinschaften eingesetzt wurde. Der 2022 veröffentlichte Abschlussbericht umfasst neben Martinsbühel sechs weitere Heime. Vergangene Woche wurde das nun vorliegende Buch im Landhaus in Innsbruck präsentiert. Im Beisein von LRin Eva Pawlata und Bischof Hermann Glettler berichteten Kommissionsvorsitzende Margret Aull, Projektleiter Dirk Rupnow, die wissenschaftlichen Autor:innen Ina Friedmann und Friedrich Stepanek sowie sieben Betroffene, die für das Projekt interviewt wurden, über die Vorkommnisse und Erfahrungen in den Heimen. Für das Land Tirol und die Diözese Innsbruck steht die aktive Aufarbeitung und Erinnerungskultur im Fokus.

Unrechtserfahrungen Gehör verschaffen

„Es geht darum, die Betroffenen ernst zu nehmen und zu Wort kommen zu lassen. Darum haben wir bereits nach Vorlage des Abschlussprojekts beschlossen, die persönlichen Schicksale im Rahmen einer Veranstaltung erneut in den Mittelpunkt zu stellen und aktiv zu einer Kultur des Erinnerns beizutragen. Es ist wichtig, dass diese Geschehnisse nicht vergessen oder verharmlost werden“, betont LRin Pawlata und führt aus: „Wenngleich im Rahmen des Forschungsprojekts kirchliche Heime untersucht wurden, standen sie immer im Zusammenhang mit den äußeren strukturellen Bedingungen. Ich stehe daher zur Verantwortung des Landes Tirol und bitte alle Betroffenen um Verzeihung.“

Auch Bischof Glettler führt aus: „Alle Demütigungen, die Kindern und Jugendlichen in Heimen und kirchlichen Einrichtungen zugefügt wurden, erschüttern mich zutiefst und ich verurteile diese aufs Schärfste. Ich bitte alle Betroffenen um Vergebung für das Leid, das ihnen zugefügt wurde, und tue alles in meinem Einfluss Stehende, um Kinder und Jugendliche sowie schutz- und hilfsbedürftige Erwachsene in Zukunft vor derartigen Übergriffen zu bewahren.“ Die Kirche sei sich ihrer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung bewusst und leiste vielfältige Beiträge zur Gewaltprävention auf allen Ebenen, konkretisiert Bischof Glettler. Bis dato wurden von kirchlichen Einrichtungen und Ordensgemeinschaften auf dem Gebiet der Diözese Innsbruck rund 7,6 Millionen Euro an finanzieller Hilfe für Opfer aufgewandt. „Ich habe mich stets für eine konsequente Aufklärung der Missbrauchsfälle in den katholischen Heimen eingesetzt und danke allen, die an der Studie mitgewirkt haben, für ihr großes Engagement. Den Betroffenen danke ich für die Offenheit und Klarheit, ihre schmerzhaften Erfahrungen beim Namen zu nennen.“

75 Interviews durchgeführt

Ursprünglich hatte die „Dreierkommission Martinsbühel“ das Ziel, die Vorkommnisse rund um das Kinderheim Martinsbühel aufzuarbeiten. „Im Zuge der Aufarbeitung wurde festgestellt, dass Bedarf für eine Untersuchung weiterer Einrichtungen besteht. Aus diesem Grund haben wir das Forschungsprojekt auf weitere kirchliche Heime in Tirol nach 1945 ausgeweitet“, berichtet Vorsitzende Margret Aull. So wurden während der rund zweijährigen Forschungstätigkeit die Heime Martinsbühel, Scharnitz, das Josefinum/Volders, die Bubenburg/Fügen, St. Josef/Mils, Thurnfeld/Hall und das Elisabethinum/Axams untersucht.

Neben Archivrecherchen wurden 75 ZeitzeugInnen interviewt – der Großteil von ihnen ehemalige Heimkinder. Ihre Erinnerungen bilden den Schwerpunkt des Buches. „Die Schilderungen der Interviewpartnerinnen und -partner machen deutlich, dass eine angstbehaftete und gewaltgeprägte Atmosphäre vorherrschte und die Ordensangehörigen von den schutzbefohlenen Kindern stets Gehorsam, Demut, Fleiß und Frömmigkeit verlangten“, so Aull. Neben der strukturellen Gewalt berichteten die Befragten auch von psychischer (z. B. das Einreden von Schuldgefühlen, Herabwürdigung mit Worten), physischer (z. B. Ohrfeigen, Schläge) und sexualisierter Gewalt, die manche Betroffenen erst im Nachhinein als solche erkannten.

Lehren für Gegenwart und Zukunft

Seit den damaligen Geschehnissen wurden auch auf Landesebene zahlreiche Maßnahmen gesetzt, darunter die Einrichtung einer Kinder- und Jugendanwaltschaft im Land Tirol, die Einführung von Vertrauenspersonen in allen Einrichtungen sowie die Festlegung pädagogischer Standards. „Dennoch müssen wir weiterhin wachsam bleiben und sicherstellen, dass die finanziellen Mittel für Heim-, Betreuungs- und Bildungseinrichtungen gesichert und ausgebaut werden. Zudem gilt es, das Bewusstsein für Gewalt – auch strukturelle Gewalt – weiter zu schärfen und gezielt dafür zu sensibilisieren“, so LRin Pawlata.

Zum Abschluss dankte sie allen Beteiligten des Forschungsprojekts: „Mein besonderer Dank gilt den Betroffenen, die ihre Geschichte im Rahmen des Projekts geteilt und damit einen entscheidenden Beitrag zur Aufarbeitung des Unrechts geleistet haben. Ebenso danke ich den Mitgliedern der Dreierkommission sowie Ina Friedmann und Friedrich Stepanek für ihre wissenschaftlich präzise und zugleich einfühlsame Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels der Tiroler Zeitgeschichte.“

Zum Nachlesen

Der knapp 400-seitige Abschlussbericht von 2022 ist online abrufbar. Das Buch „Demut lernen“, das den Bericht um weitere rund 200 Seiten ergänzt, erschien im Dezember 2024 beim Studien Verlag und ist im Buchhandel erhältlich.

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