Wie wird in Großbritannien an den Holocaust erinnert? Welche Rolle spielt die Shoah in der britischen Gesellschaft heute? Und welche Parallelen lassen sich zu aktuellen politischen Entwicklungen ziehen? Mit diesen Fragen setzten sich Studierende des Instituts für Anglistik der Universität Innsbruck im Rahmen einer Exkursion nach London auseinander. Unter der Leitung von Univ.-Prof. Dr. Christoph Singer und Dr. Ulla Ratheiser erforschten sie vom 15. bis 18. Januar transkulturelle Erinnerungskulturen an die Shoah aus britischer Perspektive.
Archive des Erinnerns
Die Exkursion verdeutlichte, wie Erinnerungskultur in Großbritannien gestaltet wird und welche Rolle die Erinnerung an den Holocaust in der heutigen britischen Gesellschaft spielt. Gleichzeitig warf sie Fragen über aktuelle Formen des Populismus und Faschismus auf, die insbesondere im Kontext wachsender nationalistischer Strömungen weltweit brisant bleiben.
Ein zentraler Programmpunkt war der Besuch der „Holocaust Galleries“ im Imperial War Museum. Durch Artefakte, persönliche Berichte und multimediale Präsentationen wurde die historische Realität der Shoah eindrucksvoll vermittelt. Gleichzeitig reflektierten die Studierenden, wie die neu überarbeiteten Holocaust Galleries multimedial Erinnerung und Geschichtsschreibung konstruieren. Ebenfalls auf dem Programm der Exkursion stand ein Besuch der Wiener Library, eine der ältesten Institutionen zur Dokumentation der Shoah. Angeleitet von Peter Morgan erhielten die Studierenden Einblicke in die Archive der Wiener Library und in die Geschichte österreichischer Kindertransport-Flüchtlinge.
Gedenkstätten als Orte der Reflexion
Ein weiterer Schwerpunkt der Exkursion war die „Refugee Tour“ durch Bloomsbury, geleitet von Kat Hubschmann (University of London). Dabei wurden die Geschichten Geflüchteter erkundet, welche während der NS-Zeit insbesondere im Londoner Stadtteil Bloomsbury Zuflucht fanden. Auf dem jüdischen Friedhof in Willesden beschäftigten sich die Teilnehmenden mit britisch-jüdischer Erinnerungskultur. Dieser Friedhof spielt seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine bedeutende Rolle für die jüdische Community in London und ist ein wichtiges Zeugnis der jüdischen Geschichte in Großbritannien. Das Holocaust Memorial im Hyde Park, das erste solche Monument in Großbritannien, bot einen weiteren Ort der Reflexion. Die schlichte, aber eindrucksvolle Gedenkstätte erinnert an die Millionen Opfer der Shoah und stellt einen wichtigen Anlaufpunkt für öffentliche Trauer dar.
Thematisch ergänzt wurde die Exkursion durch den Besuch einer Aufführung von William Shakespeares "The Merchant of Venice 1936" in den Trafalgar Studios. Diese Adaption der Royal Shakespeare Company versetzt die Handlung ins London der 1930er-Jahre und damit in eine Zeit, in der faschistische Tendenzen in Großbritannien wuchsen. Durch die Neuinterpretation des Stoffes wurden Parallelen zu aktuellen politischen Entwicklungen sichtbar.
Die Mischung aus akademischer Reflexion, Führungen und kulturellen Erlebnissen bot neue Perspektiven auf das Zusammenspiel von Geschichte, Erinnerung und Gegenwart. Die gewonnenen Erkenntnisse werden auch in künftige Forschungen und Diskussionen am Institut für Anglistik einfließen.
(Christoph Singer/red)