Die neu entdeckte Algenart „Streptofilum arcticum“ hat eine potenziell besonders flexible Zellwand: Bei Wassermangel schrumpft die Algenzelle und ihre Zellwand; steht der Zelle wieder mehr Wasser zur Verfügung, dehnt sich die Zellwand aus, ohne dass die Zelle dabei Schaden nimmt. Diese Funktion erklärt den evolutionären Übergang vom Wasser ans Land und verschafft den Algen Vorteile bei der Klimaanpassung. „Bisher konnte diese neue Algenart in der arktischen Tundra auf Spitzbergen sowie in Dünen an der Ostseeküste nachgewiesen werden“, erklärt Andreas Holzinger, Arbeitsgruppenleiter am Institut für Botanik der Uni Innsbruck und einer der Co-Autoren der Publikation.
Die neue Algenart „Streptofilum arcticum“ ist nah verwandt mit dem Schwesterorganismus „Streptofilum capillatum“, eine winzige grüne bodendeckende Alge, die erst gehäuft, als sogenannter Biofilm einen Algenteppich bildet, der für das bloße Auge sichtbar ist. Auch „Streptofilum capillatum“ selbst ist erst vor wenigen Jahren von demselben Team beschrieben worden und stellt eine neue Linie im Stammbaum der Pflanzen dar. Herausragend an dieser Alge ist, dass sie evolutiv ein Vorläufer der heutigen Pflanzen ist und man sie deshalb als lebende Fossilien bezeichnen kann. Streptofilum gehört zu den ursprünglichsten Algenvertretern aus der Linie der Streptophyten, welche mit den Landpflanzen direkt verwandt sind. Sie stammt aus der Zeit, als Süßwasser-Algen das Land eroberten. Evolutive Neuerungen waren notwendig, um an Land zu leben: Trockenheit, ausgeprägte Temperaturschwankungen und UV-Strahlung sind die wichtigsten Herausforderungen, denen sich die terrestrischen Algen stellen mussten. Aus diesen speziellen Anpassungen sind letztlich die Pflanzen hervorgegangen.
Zellfunktionen schützen Alge vor Trockenheit
„Diese Algen haben potenziell eine besonders flexible Zellwand, welche sich in ihrer Feinstruktur deutlich von den Zellwänden anderer Grünalgen unterscheidet. Das konnten wir mittels eines Elektronenmikroskops zeigen. Bei Wassermangel schrumpft die Zellwand; steht wieder mehr Wasser zur Verfügung dehnt sich die Zellwand aus, so dass die Zelle das Wasser aufnehmen kann ohne dabei Schaden zu erleiden. Die Zusammensetzung der Zellwände von Streptoflium unterscheidet sich grundlegend von den Wänden anderer Algen und Landpflanzen. Streptofilum besitzt ungewöhnliche schollenartige Strukturen, die diesen Wänden vermutlich ihre besondere Flexibilität verleihen. Diese Funktion erklärt den evolutionären Übergang dieser Alge vom Wasser ans Land“, sagt die Erstautorin Karin Glaser vom Institut für Biowissenschaften der TU Bergakademie Freiberg, die einen Teil der Arbeit während eines PostDoc-Aufenthaltes in der Arbeitsgruppe von Andreas Holzinger an der Uni Innsbruck absolviert hat. Es besteht eine sehr lange Zusammenarbeit zwischen den Autor:innen dieser Studie, an der auch Forschungsgruppen in Kiew und Rostock beteiligt sind.
Die Zellfunktionen sorgen auch dafür, dass sich Streptofilum an extreme Umweltbedingungen anpassen kann: Die Alge überlebt in trockenen, kalten Böden der Arktis und kann nach Trockenperioden schnell wieder aktiv werden. Auch gegenüber Licht und Temperatur ist sie außergewöhnlich flexibel. Sie wächst sowohl bei schwachem Licht als auch unter starker UV-Strahlung und zeigt eine Temperaturtoleranz zwischen fünf bis 40 Grad Celsius. Dadurch ist die Alge in der Lage, Klimaveränderungen zu tolerieren und vermutlich auch den kommenden Herausforderungen zu trotzen.
Anwendungen in meeresfreundlicher Sonnencreme möglich
In der arktischen Tundra bei Spitzbergen, aber auch in Sand-Proben von der Ostseeküste bei Heiligendamm haben die Forschenden die besondere Alge schon identifiziert. „Die große regionale Verbreitung hat uns sehr überrascht; die Algen kommen häufiger vor, als bisher angenommen“, sagt Glaser. Wo die neue Algenart noch auf der Erde vorkommt und wie sie ihre besonderen Zellfunktionen bei steigenden Durchschnittstemperaturen nutzen kann, will das Team nun genauer untersuchen.
Diese Erkenntnisse helfen nicht nur, die Evolution der Landpflanzen besser zu verstehen. Sie können auch neue biotechnologische Anwendungen inspirieren, beispielsweise um algenbasierte UV-beständige Substanzen für Bio-Sonnenschutzmittel zu entwickeln, die Korallen und Meere nicht belasten wie die bisher verwendeten chemischen Verbindungen. „Algen dieser Arten produzieren sogenannte Mykosporin-ähnliche Aminosäuren, die sie gegen UV-Strahlen aus dem Sonnenlicht schützen. Das Verständnis ihrer Funktionsweise ist eine wichtige Grundlage für mögliche Anwendungen in kosmetischen Produkten“, erklärt Glaser.