Portraits erinnern an Vertriebene
Die Rektorate der beiden Innsbrucker Universitäten haben sich bereits 2008 entschlossen, aus Anlass der 70. Wiederkehr des so genannten „Anschlusses“ Österreichs an das Deutsche Reich der Vertriebenen der Universität Innsbruck offiziell zu gedenken. Konkret geschah dies in Form von Porträts, die auf den Websites der Universitäten abrufbar sind. Die Biographien wurden vom Universitätsarchiv in Zusammenarbeit mit HistorikerInnen verfasst. „Wir wollen diese Aktion auch der Öffentlichkeit bekannt machen und an die Vertriebenen erinnern, die aus einer hoffnungsvollen akademischen Laufbahn geworfen wurden, wenn sie nicht sogar diese Ereignisse mit ihrem Leben bezahlen mussten“, sagte der damalige Rektor der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, Karlheinz Töchterle, bei der Erstvorstellung dieser Dokumentation.
Selbstmord als letzte Konsequenz
Am 17. März 1938 muss aufmerksamen Leserinnen und Lesern eine Todesanzeige in den Innsbrucker Nachrichten aufgefallen sein. Darin gaben die „tieftrauernden Hinterbliebenen“ bekannt, dass „Dr. Gustav Bayer und sein Töchterlein Helga […] im Alter von 59 bzw. 17 Jahren plötzlich zu Gott abberufen worden“ seien. Das so angezeigte Ableben war nicht auf ein Unglück zurückzuführen, sondern beruhte auf einer Verzweiflungstat, die bereits einen Tag zuvor, am 16. März 1938, im selben Blatt knapp vermeldet worden war. Was war geschehen? Zwei Tage zuvor, am 15. März 1938, hatte der Innsbrucker Arzt und Universitätsprofessor für Pathologie beschlossen, seinem Leben und dem seiner Tochter ein Ende zu setzen. Die Tat erfolgte aus Verzweiflung über die Ereignisse rund um den so genannten „Anschluss“ vom 11. auf den 12. März 1938, als die Deutsche Wehrmacht in Österreich einmarschierte und Hitler den „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich verkündete.
Gustav Bayers Schicksal ist nur eines unter mehreren und ob seines Todes ein besonders tragisches. Neben Bayer nahm sich am 29. November 1938 auch die Gattin des 1932 in den Ruhestand versetzten und am 27. Juli desselben Jahres verstorbenen Innsbrucker Althistorikers Carl Ferdinand Friedrich Lehmann-Haupt, die Schriftstellerin Theresia (Theresie) Lehmann-Haupt, das Leben. Insgesamt wurden 54 von 159 Hochschullehrern im Zuge des „Anschlusses“ von ihrer Lehrtätigkeit an der Universität Innsbruck aus „politischen“ und „rassischen Gründen“ – wie es im NS-Jargon hieß – des Amtes enthoben; allen voran der Anglist Karl Brunner als amtierender Rektor. Die Professoren der mit 20. Juli 1938 geschlossenen Theologischen Fakultät, wurden ab September 1938 in den Ruhestand versetzt. Der Physiker und Nobelpreisträger Viktor Franz Hess, der 1937 aus Innsbruck einem Ruf an die Universität Graz gefolgt war, wurde dort 1938 ebenfalls entlassen und emigrierte in die USA.
Identitätskrise der österreichischen Wissenschaft als eine der Ursachen
„Die Ursachen dieser unrühmlichen Entwicklung lagen in einer mehrfachen Identitätskrise, die in den Universitäten keinen nennenswerten Widerstand gegen den Nationalsozialismus aufkommen ließ“, erklärt der Historiker Wolfgang Meixner. „Der Großteil des Lehrkörpers war bürgerlicher Herkunft, ebenso die Studierenden. Dieses Bürgertum war durch die Niederlage im Ersten Weltkrieg und deren Folgen in ihrem Selbstverständnis erschüttert. Zudem befand sich ein Großteil der Innsbrucker Universitätslehrer in einem „geistigen Abwehrkampf“ gegen die Italianisierung der 1919 abgetretenen südlichen Landesteile Tirols. Dies führte zu einer Nationalisierung, die sich bereits 1921 in ‚Anschluss‘-Wünschen an das Deutsche Reich artikulierte.“
Ebenfalls in einer Krise befand sich das Humboldt‘sche Universitätsideal mit seiner Freiheit der Wissenschaft und der Autonomie der Universitäten. Anstatt die sich ändernden Bedingungen selbstkritisch zu reflektieren, floh ein Teil des Lehrkörpers in eine vermeintliche „Zweckfreiheit der Wissenschaft“ und beklagte die „schwindenden Traditionen“ der Universität, während andere ihre wissenschaftliche Arbeit in den Dienst politischer und weltanschaulicher Ziele stellen – ob dies versteckt hinter dem Begriff der Objektivität geschah oder nicht. Anfällig für rechte, autoritäre und totalitäre Ideologien waren am Ende fast alle.
Weder im Staat noch an den Universitäten existierten tragfähige demokratische Traditionen. Während die parlamentarische Demokratie gerade unter Akademikern auf große Ablehnung stieß, fanden völkische Konzepte und der scheinbar überparteiliche Politikbegriff der „Volksgemeinschaft“ großen Anklang. Wissenschaft und Universitäten wurden nicht einfach von außen vereinnahmt und missbraucht, wie es nach 1945 häufig dargestellt wurde, sondern waren jederzeit aktiv an der Gestaltung von Politik und Gesellschaft beteiligt und dementsprechend mitverantwortlich.
Späte Aufarbeitung
Nach dem Ende des „Dritten Reiches“ fand an den Universitäten wie in der gesamten Gesellschaft zunächst weder eine konsequente personelle Entnazifizierung statt, noch eine klare „geistige“ Abkehr von bedenklichem Gedankengut. Erst ab den 1980er-Jahren begann eine kritische Auseinandersetzung mit der Rolle der Universitäten in der NS-Zeit: 1981 veröffentlichte der Universitätsarchivar und Historiker Gerhard Oberkofler eine erste Liste der Opfer des Nationalsozialismus an der Universität Innsbruck. Seitdem wurden zahlreiche kritische Beiträge zur Innsbrucker Universitätsgeschichte von Oberkofler, Peter Goller und anderen vorgelegt, etwa 2012 der Band „Jubel ohne Ende. Die Universität Innsbruck im März 1938“ von Peter Goller und Georg Tidl. Eine umfassende Darstellung der Geschichte der Universität Innsbruck in der NS-Zeit enthält auch die neu erarbeitete Universitätsgeschichte, die von Margret Friedrich und Dirk Rupnow herausgegeben und im Herbst 2019 erscheinen wird.