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Blog: Die Geschichte zweier Pandemien – USA und Europa

23.11.2021: Im Zuge der Bewältigung der COVID-19-Pandemie, die im Frühjahr 2020 weltweit die Wirtschaft zum Erliegen brachte, schlugen die Vereinigten Staaten und Europa unterschiedliche Wege ein, um eine angemessene wirtschaftspolitische Antwort auf die neuen Herausforderungen zu finden.

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Von Marcus Dietrich

 

Während in den Vereinigten Staaten der im Januar 2021 vereidigte Joe Biden neben der Verabschiedung eines $1.9 Billionen schweren Covid Relief Bill auch ein umfangreiches Infrastrukturpaket sowie Steuererleichterungen für amerikanische Familien und Kinder anstrebt – und damit auch substanziell höhere Staatsverschuldungen in Kauf nimmt – scheinen sich die EU und ihre Mitgliedsstaaten einer deutlich defensiveren Haushaltspolitik verschrieben zu haben. Damit kehrt der Staatenbund zu jenen ökonomischen Maximen zurück, die bereits seit den Maastrichter Verträgen von 1992 die europäische Wirtschaftspolitik prägen.

Historische Einordnung

Die Radikalität der Vorschläge Joe Bidens und die Umfänge der Stimuli in Zeiten einer ansonsten von neoliberalen Paradigmen geprägten Wirtschaftspolitik (Tooze, 2021) interpretierte ein Kommentator als den Beginn eines "New Supercycle running on MMT" (Perkins, 2021, S.1). Die in dieser Bezeichnung implizierte historische Einordnung ist an eine einfache (und reduktionistische) Darstellung der Wirtschaftszyklen des 20. und 21. Jahrhunderts angelehnt, die von Lonergan und Blyth (2020) in ihrem Buch Angrynomics ausgearbeitet wird. Dabei argumentieren die Autoren, dass der Kapitalismus verschiedene Versionen durchläuft, beispielsweise die Goldstandard-Ära von 1870 bis 1930 oder das Bretton-Woods System von 1945 bis in die 1970er Jahre, welche letztlich jedoch an einem dem jeweiligen System inhärenten Fehler zugrunde gehen. Nachdem mit der Finanzkrise von 2008 erstmals das Ende des seit den 1970er Jahren herrschenden Neoliberalismus verkündet wurde, fand jedoch keine Neuorientierung statt, sondern stattdessen versteiften sich die Staaten – insbesondere in Europa – auf Austeritätspolitik, dessen Konsequenzen ökonomische und soziale Instabilität sowie der Aufstieg des politischen Populismus waren (Blyth, 2021, S.51–103). Mit der Corona-Pandemie sah sich die Welt ab März 2020 nun erneut mit tiefgreifenden ökonomischen Problemen konfrontiert. Im Unterschied zu der Finanzkrise von 2008 oder der Euro-Krise ab 2010 hat diese Krise ihren Ursprung jedoch nicht direkt in den endogenen Defiziten der neoliberalen Wirtschaftsweise. Darüber hinaus zeigen der Aufstieg relativ neuer Perspektiven auf die Wirtschaft, wie beispielsweise die Sichtweise der Modern Monetary Theory (MMT), dass erstmals der Raum dafür herrscht, die gewohnten paradigmatischen Annahmen zu hinterfragen und sich wirtschaftspolitisch neu zu orientieren.   

Europas ausgetretenen Pfade

Während sich in den Vereinigten Staaten die Biden Administration somit nicht davor scheut, für die Finanzierung der massiven Konjunkturpakete, hohe Schulden aufzunehmen, ist die Fiskalpolitik europäischer Staaten nach wie vor von Vereinbarungen restringiert, die sich an neoliberalen Annahmen orientieren und ihre Ursprünge zum Teil in so alten Verträgen wie jenen von Maastricht von 1992 haben. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt oder der Europäische Fiskalpakt sind beides nennenswerte Beispiele für Übereinkünfte, die den Spielraum für wirtschaftspolitische Maßnahmen der jeweiligen Staaten massiv einschränken. Die in diesen Übereinkünften festgelegten Verschuldungs- oder Defizitobergrenzen der Staaten orientieren sich dabei an Modellen wie dem "potential output model", welches einerseits mit fraglichen Grundannahmen einhergeht – zum Beispiel der Postulation einer nichtbeobachtbaren Arbeitslosenquote – und andererseits durch seine vermeintliche Objektivität, Eingriffe in die wirtschaftspolitische Autonomie der Staaten legitimiert (Heimberger et al., 2020). Zwar konnte nun mit dem auf den Märkten äußerst begehrten NextGenerationEU-Aufbaupaket ein erster Schritt hinsichtlich einer expansiveren Fiskalpolitik auf der EU-Ebene getan werden (European Commission, 2021), jedoch ist der Stimulus, im Gegensatz zu jenen in den USA, mit einer Größe von €750 Milliarden nicht nur deutlich kleiner, sondern muss das Geld letztlich auch auf Staatenebene ausgegeben werden. Deutschland, das für die Apotheose und strenge Verteidigung der "Schwarzen Null" und der Schuldenbremse bekannt ist, wurde in diesem Sinne in einem offenen Brief für die "Fetischierung" dieser gescheiterten Maximen von einer beachtlichen Reihe an Wissenschaftler*innen verurteilt (van Lerven et al., 2021).

"A plastic hour in history"?

Mit der Covid-19 Pandemie eröffnete sich nun das, was der Intellektuelle Gershom Scholem in einem anderen Kontext einst als "plastic hour of history" (Biale, 1980) bezeichnete. In den USA manifestiert sich dieser Moment unter anderem durch Bidens Willen, fiskalpolitisch neue Wege einzuschlagen. In Europa hingegen ist es das NextGenerationEU-Aufbaupaket, das vor Covid-19 nur schwer vorstellbar gewesen wäre. Jedoch dämpfen strukturelle Limitationen und die Persistenz bestehender paradigmatischer Denkweisen die mögliche Durchschlagskraft des Konjunkturpakets. Sie tragen dafür Sorge, dass sich die europäische Staatengemeinschaft trotz der Corona-Zäsur wirtschaftspolitisch nach wie vor in jenen Bahnen bewegen zu scheint, die bereits seit Jahren von vielen Seiten als überholt kritisiert werden. Während in den USA nun vermehrt ökonomische, soziale und ökologische Ergebnisse in den Vordergrund gestellt werden, dominieren im europäischen Diskurs ökonomische Indizes, wie Staatsschuldenquoten und Haushaltsdefizite, die Bewertung und Einschätzung der Wirtschaftspolitik und konstituieren so die Räume, die als politisch und ökonomisch viabel gelten. Die realen Konsequenzen dieses zunehmend anachronistisch anmutenden fiskalpolitischen Verständnis wurde erst kürzlich bei der Finanzierung der Covid-19 Impfstoff-Forschung, -Infrastruktur und -Produktion ersichtlich. Belief sich die anfängliche Summe aus Brüssel gerade mal auf €2.7 Milliarden, brachte Washington $18Milliarden auf. Der europäische Trugschluss: "It was not (yet) understood that successful vaccine development, however expensive to support, would cost far less than the coming macroeconomic costs from prolonged lockdowns." (Kirkegaard, 2021, S. 27–30)

Bibliografie

Blyth, M. (2012). Austerity: The History of a Dangerous Idea. Oxford University Press (OUP).

Biale, D. (14. August 1980). The Threat of Messianism: An Interview with Gershom Scholem. The New York Review. https://www.nybooks.com/articles/1980/08/14/the-threat-of-messianism-an-interview-with-gershom/.

European Commission (15. Juni 2021). NextGenerationEU: Europäische Kommission bringt im Rahmen der ersten Transaktion zur Unterstützung der Erholung Europas 20 Mrd. EUR auf [Press release]. https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_21_2982.

Heimberger, P., Huber, J. & Kapeller, J. (2020). The power of economic models: the case of the EU’s fiscal regulation framework. Socio-Economic Review, 18(2), 337–366. https://doi.org/10.1093/ser/mwz052.

Kirkegaard, F. J. (2021). The European Union’s troubled COVID-19 vaccine rollout. [Konferenzbeitrag] Economic Policy for a Pandemic Age. https://www.piie.com/sites/default/files/documents/piieb21-2.pd.

Lonergan, E. & Blyth, M. (2020). Angrynomics. Agenda Publishing Limited.

Perkins, D. (2021). A new supercycle running on MMT. TS Lombard. https://www.macrobusiness.com.au/wp-content/uploads/2021/04/2021-04-15-A-New-Supercycle-Running-On-Mmt.pdf.

Tooze, A. (5. März 2021). Biden’s Stimulus Is the Dawn of a New Economic Era. Foreign Policy. https://foreignpolicy.com/2021/03/05/bidens-stimulus-is-the-dawn-of-a-new-economic-era/.

Van Lerven, F., et al. (15. Juni 2021). Letter: It’s time Europe stopped fetishising fiscal discipline. Financial Times. https://www.ft.com/content/a92a20e2-7efb-497c-bc13-0e002d4aca2e.

 


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Bild: Marcus Dietrich

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