Von Thomas Walli
Die Wahlumfragen sind eindeutig: Die radikale Rechte wird triumphal siegen und komfortable Mehrheiten in beiden Kammern erhalten. Alles andere wäre eine Überraschung. Zugpferd der rechten Allianz ist die Chefin von Fratelli d’Italia ("Brüder Italiens") Giorgia Meloni. Wer ist diese Frau, die sich anschickt, erste Ministerpräsidentin Italiens zu werden? Und was würde eine rechts-rechte Regierung für Europa bedeuten?
Ein kometenhafter Aufstieg
Melonis politische Sozialisation geschah im Umfeld des neofaschistischen Movimento Sociale Italiano (MSI, "Soziale Bewegung Italiens"), als sie sich mit 15 Jahren dessen Jugendorganisation Fronte della Gioventù ("Jugendfront") anschloss. Mit 29 Jahren wurde sie für die MSI-Nachfolgepartei Alleanza Nazionale in die Abgeordnetenkammer gewählt. Nach dem Wahlsieg der Mitte-rechts-Allianz 2008 machte sie Silvio Berlusconi zu jüngsten Ministerin Italiens, zuständig für Jugend. Nur vier Jahre später war sie unter den Gründer:innen der Fratelli d’Italia, zusammen mit den Berlusconi-Abtrünnigen Guido Crosetto und Ignazio La Russa. Letzterer war Ex-„Missino“ (wie die Anhänger:innen des MSI genannt werden) und Verteidigungsminister 2008 bis 2011. Meloni, Crosetto und La Russa einte die Ablehnung der Regierung Monti sowie strammer Nationalismus und Konservativismus. Seit 2013 steht Meloni der Partei vor.
Die ersten Jahre fristeten die „Brüder“ (und Schwestern) Italiens ein Dasein als Kleinpartei um die vier bis fünf Prozent. In der noch laufenden Legislatur 2018 bis 2022 folgten zwei Ereignisse, die den Aufstieg zur Partei Nummer eins ermöglichten: Im August 2019 zog Matteo Salvini seine in damaligen Umfragen führende Lega aus der gelb-grünen Regierung Conte I zurück und forderte lautstark Neuwahlen. Ein Regierungsbruch, den ihm viele Anhänger:innen nicht verziehen haben. Mit dem Absturz der Lega in der Wählergunst stieg gleichzeitig der Zuspruch für Fratelli d’Italia. Endgültig die Machtverhältnisse verschoben hat die taktisch kluge Entscheidung Melonis, sich nicht an der Regierung der nationalen Einheit von Mario Draghi zu beteiligen. Als einzige Oppositionskraft konnten die Fratelli d’Italia damit nicht nur die mit der Regierung Draghi unzufriedenen Wähler:innen bündeln, sondern auch Geradlinigkeit und Kohärenz demonstrieren. Für die Lega hingegen waren die letzten 18 Monate ein Seiltanz: Einerseits trugen sie als Regierungspartei die Reformen der Regierung Draghi mit, wofür vor allem der gemäßigtere Flügel der Lega um Wirtschaftsminister Giancarlo Giorgetti steht. Andererseits versuchte Salvini, der den rechtsradikalen Flügel anführt, immer wieder die Entscheidungen der Regierung, vor allem in Bezug auf die Ukraine, zu kritisieren.
Fratelli d’Italia scheint nicht mehr zu stoppen. Sowohl Salvini als auch Berlusconi, mit seiner Forza Italia ("Vorwärts Italien") Dritter im Bunde der Rechtskoalition, wissen das. Und auch wenn sie nach außen hin geeint auftreten, ist die Koalition eine reine Zweckgemeinschaft. Es mag Themen geben, zu denen in der Koalition keine großen Diskussionen zu erwarten sind. So etwa in puncto Erinnerungskultur – keine der drei Parteien zeigt Berührungsängste mit Faschismusnostalgiker:innen, die es zu Hauf gibt – oder im Bereich der Migration. Anders sieht es in der Außenpolitik und vor allem der Frage aus, wie man mit der Ukraine umzugehen hat.
Das Who's who der radikalen Rechten Europas
Es ist kein Geheimnis, dass sowohl Salvini als auch Berlusconi enge Kontakte mit Putin unterhalten und den Sanktionen kritisch bis ablehnend gegenüberstehen. Meloni hat sich seit Beginn des Krieges klar auf Seiten der Ukraine und der NATO gestellt. Ob Italien letztlich der verlässliche Partner wie unter der Regierung Draghi bleibt oder vielmehr die europäische und transatlantische Sanktionspolitik abschwächt, bleibt abzuwarten. Vieles spricht dafür, dass die neue Regierung zumindest zu Beginn die Seite der westlichen Alliierten wählt. Das könnte sich jedoch schnell ändern; vor allem sollte Donald Trump 2024 wieder ins Weiße Haus einziehen. Bei einer erneuten Präsidentschaft Trump wäre es den Rechtsparteien ein Leichtes, pro-USA und pro-Putin gleichzeitig zu sein.
Fast sicher jedoch wird die europapolitische Ausrichtung der neuen Regierung der EU, gelinde gesagt, zu schaffen machen. Die Verbündeten der Fratelli d’Italia und der Lega auf EU-Ebene lesen sich wie das Who's who der europäischen Rechtspopulisten und radikalen Nationalisten. Fratelli d’Italia ist in der europäischen Partei Europäische Konservative und Reformer (EKR), deren Vorsitzende Meloni selbst ist. Weitere Mitglieder sind unter anderem die rechtspopulistischen und xenophoben Schwedendemokraten, die rassistische bis rechtsextreme spanische Partei Vox sowie die nationalkonservative und in Teilen autoritäre polnische Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (abgekürzt PiS). Die Lega ist auf EU-Ebene in der Partei Identität und Demokratie vertreten, zusammen mit der belgischen rechtsextremen Vlaams Belang, Marine Le Pens Rassemblement National (ehemals Front National) und der immer wieder mit Nazi-Wiederbetätigung auffallenden Freiheitlichen Partei Österreichs.
Auch Viktor Orbans Fidesz ist ein fixer Referenzpunkt sowohl für Meloni als auch Salvini. Als am 15. September 2022 das Europäische Parlament mit großer Mehrheit eine (nicht bindende) Resolution verabschiedete, die den „Zerfall der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte“ in Ungarn feststellte und das Land nicht mehr als „Demokratie“ sondern „Wahlautokratie“ einstufte, fühlte sich Meloni gleich dazu berufen, ihrem illiberalen Budapester Freund beizustehen. Ungarn sei natürlich eine Demokratie, immerhin sei Orban ja gewählt worden, und es handele sich um einen illegitimen Angriff von Seiten des Europaparlaments. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass sowohl Fratelli d’Italia als auch die Lega als einzige italienische Parteien im Europäischen Parlament gegen die Resolution gestimmt haben.
Als einzige im Grunde proeuropäische Partei bleibt Berlusconis Forza Italia. Doch auch Berlusconis Verhältnis zur EU ist, vorsichtig ausgedrückt, wechselhaft. Die Forza Italia befindet sich als christlich-konservative und wirtschaftsliberale Partei in der Europäischen Volkspartei (zusammen mit der SVP, CDU/CSU und ÖVP). Doch gilt vor allem der Chef, also Berlusconi selbst, im EU-Ausland als wenig zuverlässig.
Worauf sich Europa einstellen muss
Die Verbündeten von Fratelli d’Italia und Lega, allen voran Fidesz und PiS, sind es auch, die der neuen Regierung wahrscheinlich als Vorbild dienen werden. Die neue Regierung könnte gegenüber der EU versuchen, die Roten Linien auszuloten und mit einzelnen Aktionen auch zu übertreten. So zum Beispiel im Rahmen der jährlichen Haushaltsgesetzgebung: Die Koalition träumt bereits von einer (höchstwahrscheinlich nicht finanzierbaren) Flat Tax, die auf wenig Gegenliebe in der Europäischen Kommission und den anderen Eurostaaten stoßen wird. Auch hinsichtlich Migration wird die Regierung eine harte Gangart verfolgen und damit immer wieder, ähnlich der Regierung Conte I zwischen Movimento Cinque Stelle und Lega 2018 bis 2019, auf Konfrontationskurs mit Brüssel und den anderen europäischen Hauptstädten sein.
Die Koalition hat zudem bereits angekündigt, die Bedingungen für die Auszahlung der Gelder aus dem Corona-Wiederaufbaufonds (NextGenerationEU) neu verhandeln zu wollen. Hier würde sie mit dem Feuer spielen. Der Fonds entstammte einer enormen europäischen Solidaritätsleistung. Nicht nationale Einzelgänge wie zu Zeiten der Euro- und Schuldenkrise 2011 bis 2014, sondern ein gemeinsames europäisches Handeln sollte die stark betroffenen Staaten aus der Krise führen. Zuerst Deutschland, später die sogenannten „sparsamen Vier“ (u.a. Niederlande und Österreich) mussten in langen Verhandlungen vom Reformwillen Italiens überzeugt werden. Sehen diese Staaten nun, dass Italien als der größte Empfängerstaat dieser enormen Wirtschaftshilfe sich von der europäischen Idee immer weiter entfernt und Kleinkriege mit den europäischen Institutionen führt, werden sie wohl ihre Schlüsse ziehen und die einst unter Zähneknirschen zugestandene Solidarität schnell wieder zurückziehen. Denkbar ist auch, dass für die nächsten Jahre, wenn nicht Jahrzehnte keine größeren gemeinsamen Projekte mehr angegangen werden, zumindest unter Beteiligung von Staaten, die als nicht mehr zuverlässig angesehen werden (Italien, Ungarn, Polen). Kurzfristige Erfolge der Regierung in den Nachverhandlungen des Wiederaufbaufonds könnten damit mittel- und langfristig enormen Schaden für das Land bedeuten.
Besorgniserregend ist auch, dass Meloni nicht müde wird, ein „Europa der Vaterländer“ zu propagieren. Sie möchte EU-Recht unter nationales Recht stellen. Als Vorlage dient ihr – wiederum – Polen, wo das Verfassungsgericht vor einem Jahr Teile des EU-Rechts für unvereinbar mit der polnischen Verfassung erklärt hat. Sagen sich mehr Staaten vom EU-Recht los, hätte das gravierende Folgen für die gesamte EU, die darauf ausgelegt ist, dass ihr Recht von allen Staaten gleichermaßen anerkannt wird.
Das Gespenst der illiberalen Demokratie
Innenpolitisch stehen vor allem Fratelli d’Italia und die Lega für ultrakonservative Werte. Meloni, selbst Mutter ohne verheiratet zu sein, propagiert ein traditionelles Familienbild, das eher in die 1950er-Jahre passt als ins 21. Jahrhundert. Homosexuelle und Genderpolitik passen da nicht rein. Regelmäßig wettert sie gegen die „LGBTQ Lobby“. Das Abtreibungsrecht soll stark eingeschränkt werden. Die Teilnahme von Meloni und Salvini am World Congress of Families 2019 in Verona, des Jahreskongresses eines bedeutenden reaktionären internationalen Netzwerkes, ist Zeugnis ihrer Haltung in dieser Hinsicht.
Auch in Bezug auf Migration und Einwanderung liegen Meloni und Salvini nicht weit auseinander. Beide verfolgen eine harte, in weiten Teilen rassistische und islamophobe Linie. Flüchtlingsboote sollen mithilfe der Marine zurückgedrängt, Rechte von Einwanderer:innen eingeschränkt werden.
Als besonders pikant könnten sich die institutionellen Reformen der neuen Regierung erweisen. Polen und Ungarn haben vorgemacht, wie man Schritt für Schritt demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien zurückdrängt oder außer Kraft setzt. Fratelli d’Italia haben bereits 2018 einen Vorschlag vorgelegt, mit dem Italiens parlamentarische Demokratie in ein Präsidialsystem geändert werden sollte. Die Macht sollte beim direkt gewählten Präsidenten bzw. der direkt gewählten Präsidentin gebündelt werden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Regierung diese Verfassungsreform erneut ins Spiel bringt. Insgesamt bleibt wohl zu hoffen, dass nicht der ungarische Weg der „illiberalen Demokratie“ (so Orban in einer Rede 2014) beschritten wird.
Droht Südtirol ein Autonomieabbau?
Zuletzt ein kurzer Blick auf Südtirol. Südtirol könnte es in den kommenden Jahren schwerer haben, autonomiepolitische Forderungen durchzusetzen. Ein Autonomieausbau geschah in der Geschichte Südtirols immer nur in Zeiten von Mitte-links-Regierungen. Ein wesentlicher Rückbau der Autonomie erscheint auf kurze Sicht unwahrscheinlich.
Zu Beginn der neuen Legislatur könnte Südtirol in die Hände spielen, dass die Lega in Südtirol mitregiert. Sollte sich dieser Umstand mit den Landtagswahlen 2023 ändern und eine Landesregierung aus etwa SVP-PD oder SVP-Grüne entstehen, dürfte der Wind, der aus Rom weht, rauer werden. Das größte Problem für Südtirol als Grenzregion läge wohl in einer stark nationalistischen Europapolitik der neuen Regierung. „Weniger EU, mehr Italien“ (wie es Meloni und Salvini immer wieder fordern) würde wohl auch weniger Südtirol bedeuten.
Zum aktuellen Zeitpunkt handelt es sich hierbei nur um Spekulationen. Meloni selbst gibt sich seit Beginn des Wahlkampfes sehr moderat. Wohin eine etwaige Regierung Meloni I steuern wird, wird man nach dem 25. September 2022 sehen. Auch sollte nicht vergessen werden, dass sie nicht allein regiert. Salvini hat bereits einmal eine Regierung zu Fall gebracht (2019). Auch Berlusconi hat bereits Erfahrung mit Regierungskrisen (zum Beispiel 1995 oder 2011). In der letzten Legislaturperiode gab es drei Regierungen, in der Periode davor ebenso viele. Wie lange sich die neue Regierung also halten wird, steht auf einem anderen Blatt.
Thomas Walli ist Senior Scientist am Institut für Politikwissenschaft der Universität Innsbruck. Er forscht und lehrt u.a. zu Wissenschaftskommunikation, -politik und -soziologie, Europäische Union, Italiens politisches System und Geschichte der Republik Italien, französischer Existenzialismus.
Siehe zu diesem Thema auch den Powi Blog vom 23. September 2022: Italia al voto! Italiens Obsession mit Wahlreformen und die Parlamentswahlen 2022
Homepage: https://www.uibk.ac.at/politikwissenschaft/thomas-walli/
Der Artikel erschien zeitgleich hier und auf salto.bz: https://www.salto.bz/de/article/18092022/droht-italien-ein-faschismus-20.
This article gives the views of the author(s), and not the position of the Department of Political Science.
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