Von Thomas Walli
Die politische Klasse Italiens scheint mit den Worten von Alessandro Chiaramonte, Professor für Politikwissenschaft in Florenz, eine wahre „Obsession“ für Wahlreformen zu haben. Doch woher kommt diese Vorliebe, in immer kürzeren Abständen eine der grundlegenden Regeln der Demokratie immer wieder zu ändern? Und was bedeutet das für das politische System Italiens heute? Denn die Art und Weise, wie gewählt wird und wie Stimmen in Parlamentssitze umgewandelt werden, ist von grundsätzlicher Bedeutung für jeden demokratischen Staat und wird auch die Handlungsfähigkeit der kommenden Regierung maßgeblich beeinflussen.
Zum besseren Verständnis sei vorausgeschickt, dass das Pendel der Wahlreformen stets zwischen den Polen Mehrheitswahlrecht (the winner takes it all) und Verhältniswahlrecht (möglichst proportionale Verteilung der Sitze entlang der Stimmen) hin und her schwang.
Ein Neubeginn: das Mattarellum
Die „Obsession“ begann Anfang der 1990er-Jahre, als das de facto fast reine Verhältniswahlrecht der sogenannten Ersten Republik in Verruf geriet. Die 45-jährige Dauerregentschaft der immer gleichen Parteien, allen voran der großen Democrazia Cristiana und der kleineren Sozialistischen Partei, hat Spuren hinterlassen. Immer größere Korruptionsskandale, allen voran Tangentopoli, führten um 1990 zu einer derart starken Abneigung gegen die alten Parteien, wie sie die Republik seit dem Niedergang des Faschismus 1945 nicht erlebt hatte.
Es war schließlich ein warmer Sonntag im Juni, als die Italienerinnen und Italiener zu einem wegweisenden Referendum aufgerufen waren und damit zum ersten Schlag gegen die ewige Parteienherrschaft ausholten. Inhalt des Referendums war die Reduzierung der Präferenzstimmen von drei auf eins. Das Referendum war weniger wegen seines Inhalts brisant als vielmehr seiner politischen Folgen. Die etablierten Parteien, die an den Präferenzstimmen als Schlüssel zur parteiinternen Machtverteilung festhalten wollten, riefen unisono dazu auf, nicht zum Referendum zu gehen. Bettino Craxi, berühmt-berüchtigter Chef der Sozialistischen Partei, appellierte sogar an die Wählerinnen und Wähler, man solle doch lieber „ans Meer fahren“, als an diesem „äußerst sinnlosen Referendum“ teilzunehmen. Bei einer Wahlbeteiligung von über 62% stimmten die Italienerinnen und Italiener zu 96% für die Reduzierung der Präferenzstimmen – und damit gegen den einhelligen Willen sämtlicher etablierter Parteien. 1993 folgte der nächste Schlag gegen die Parteienherrschaft: In einem weiteren Referendum wurde – wieder mit überwältigender Mehrheit und gegen den Wunsch der Parteien – das Verhältniswahlrecht für den Senat abgeschafft. Die Erste Republik und mit ihr die Partitocrazia, die Herrschaft der alten Parteien, waren am Ende. Die Zeit der Wahlreformen hatte begonnen.
Mit den Referenden im Rücken war es den Promotor:innen eines Mehrheitswahlrechts im Parlament ein Leichtes, ein neues Wahlrecht nach ihren Gunsten einzuführen: Das sogenannte Mattarellum, benannt nach dem damaligen Hauptautor des Gesetzes und heutigen Staatspräsidenten Sergio Mattarella, war geboren. Dieses stellte das bisher herrschende Wahlrecht auf den Kopf, indem 75% der Parlamentssitze mittels Mehrheitswahl in Einpersonenwahlkreisen (the winner takes it all) und 25% mittels Verhältniswahl auf nationaler Ebene vergeben wurden.
Das Gesetz entsprang damit nicht dem Willen der politischen Klasse, institutionelle Reformen auf den Weg zu bringen, sondern zunächst dem Frust der Zivilgesellschaft mit der alten Politikerkaste. Die Referenden waren das damalige Mittel der Wahl um der Parteienherrschaft „vaffanculo“ zuzurufen (der zugegebenermaßen elegantere Weg, als es Beppe Grillo und seine Gefolgsleute rund 20 Jahre später mit eigenen „V-Days“ machen würden).
Das Gesetz hatte drei entscheidende Folgen: Erstens führte es zu einer Bipolarisierung des Parteiensystems. In den Wahlen, in denen es zur Anwendung kam (1994, 1996, 2001), formierten sich die Parteien in Koalitionen jeweils rechts und links der Mitte. Die Protagonisten dieser Phase, allen voran der politische Evergreen und Medienmogul Silvio Berlusconi und der manchmal als „Anti-Berlusconi“ stilisierte Professor für Politische Ökonomie Romano Prodi, versuchten jeweils fieberhaft, so viele (Klein- und Kleinst-)Parteien wie möglich in ihren Bündnissen aufzunehmen. Die Bündnisse und siegreichen Regierungskoalitionen wurden damit teilweise sehr groß und heterogen – und damit krisenanfällig. Zweitens führten diese großen Regierungskoalitionen zu einer Zersplitterung im Parlament. Drittens, und das ist bemerkenswert, war es nun erstmals seit Gründung der Republik möglich, durch Wahlen die gesamte Regierung auszutauschen (siehe zum Beispiel die Wahlen 1996: Mitte-links gewann gegen Mitte-rechts; oder 2001: Mitte-rechts gewann gegen Mitte-links). Etwas woran in Zeiten des Kalten Krieges und der „conventio ad excludendum“, also des systematischen Ausschlusses der Kommunistischen Partei Italiens von jeder Regierungsverantwortung, nicht zu denken gewesen war.
Die Reform von Mitte-Rechts: Eine Schweinerei?
Kurz vor den Parlamentswahlen 2006 folgte die nächste Wahlrechtsreform: Der Mitte-rechts-Regierung unter Berlusconi wurde eine Wahlniederlage prognostiziert. Vor allem die Einpersonenwahlkreise waren der Regierung ein Dorn im Auge. So musste auf die Schnelle ein neues Wahlgesetz her. Das Mehrheitswahlrecht von 1993 wurde wieder fallengelassen und mit einem Verhältniswahlrecht ersetzt. Um nicht wieder das in den Referenden 1991 und 1993 abgewählte reine Verhältniswahlrecht der Ersten Republik zu bemühen, wurde ein Mehrheitsbonus eingebaut: Die stärkste Koalition sollte automatisch 340 Sitze (54%) im Abgeordnetenhaus bekommen. Dies ermöglichte eine komfortable Mehrheit in dieser Kammer. Im Senat wurde der Bonus jedoch auf regionaler Basis vergeben: Diejenige Koalition, die die relative Mehrheit in einer Region einfahren konnte, erhielt 55% aller in dieser Region zu vergebenen Parlamentssitze.
Das Wahlrecht, von seinem Schöpfer Roberto Calderoli (Lega Nord) höchst selbst als „porcata“ (Schweinerei) bezeichnet, war nicht das erste Wahlrecht mit Mehrheitsbonus: Bereits die faschistische legge Acerbo von 1924 sah eine Mehrheit für die siegreiche (faschistische) Partei vor. Im republikanischen Italien führte Alcide De Gasperi (Democrazia Cristiana) 1953 einen Mehrheitsbonus ein. Das als legge truffa (Betrugsgesetz) bekannte Wahlrecht wurde im Jahr darauf nach Protesten wieder abgeschafft.
Das Porcellum (Calderolis „Schweinerei“) hatte mehrere Schwachpunkte. Einer davon war, dass der unterschiedliche Mehrheitsbonus in der Abgeordnetenkammer und im Senat der siegreichen Koalition keine Mehrheit in beiden Parlamentskammern garantieren konnte. So erhielt 2006 die Mitte-links-Koalition unter Prodi zwar eine solide Mehrheit in der Kammer, jedoch eine hauchdünne Mehrheit im Senat. 2013 trat dann das ein, was viele befürchtet hatten, als die siegreiche Mitte-links-Koalition unter Pier Luigi Bersani wiederum die Mehrheit in der Kammer erlangte, aber keine Mehrheit im Senat. Eine Pattsituation, die zähe Verhandlungen und instabile Regierungen nach sich gezogen hat.
Vier Wahlgesetze in vier Jahren
In Anbetracht der Dynamik, mit der Wahlreformen umgesetzt wurden, sind die Jahre 2014 bis 2017 wohl rekordverdächtig: Vier Wahlgesetze in vier Jahren, davon nur eines bei Wahlen angewandt.
Es begann mit dem Urteil des Verfassungsgerichtshofs 2014, das u.a. die Mehrheitsprämie des Porcellum für verfassungswidrig erklärte und umgehend abschaffte. Da das restliche Gesetz in Kraft gelassen worden war, blieb wiederum ein (von den meisten Parteien abgelehntes) Verhältniswahlrecht übrig (das sogenannte Consultellum, benannt nach dem Sitz des Verfassungsgerichts). Ein neues Wahlrecht musste also her.
Retter in der Not war Matteo Renzi, damaliger Ministerpräsident und Chef des Partito Democratico. Renzi war drauf und dran, eine großangelegte Verfassungsreform durchzuboxen: Der Senat sollte verkleinert, in seinen Kompetenzen abgewertet und mit Gesandten der Regionen, Autonomen Provinzen und Gebietskörperschaften bestellt werden. Folglich regelte Renzis Wahlrechtsreform von 2015, von ihm selbst propagandistisch Italicum getauft, nur die Wahl zur Abgeordnetenkammer. Wiederum wurde ein Verhältniswahlrecht mit Mehrheitsprämie eingeführt. Im Unterschied zum verfassungswidrigen Porcellum sollte jedoch jetzt nur diejenige Partei (nicht Koalition!) die Mehrheitsprämie erhalten, die entweder im ersten Wahlgang mindestens 40% der Stimmen erhielt oder sich im zweiten Wahlgang (der Stichwahl zwischen den bestplatzierten zwei Parteien) durchsetzen konnte. Italien sollte ein für alle Mal geheilt werden von politischer Instabilität und Regierungskrisen; das behaupteten zumindest die Protagonist:innen der Reform, allen voran Matteo Renzi (der selbst, so viel sei erinnert, keinen geringen Anteil an der Krise und schließlich dem Sturz der Regierung Conte II zu Beginn des Jahres 2021 hatte).
Renzis Reformeifer wurde bereits im Dezember 2016 durch das negative Referendum über seine Verfassungsänderung gebremst. 2017 erklärte zudem das Verfassungsgericht die Stichwahl sowie die Mehrheitsprämie des Italicum für verfassungswidrig und schaffte diese umgehend ab. Was blieb, war wiederum ein reines Verhältniswahlrecht, das sogenannte Consultellum bis. Hätten 2017 Wahlen stattgefunden, wäre die Kammer nach dem Consultellum bis von 2017 und der Senat nach dem Consultellum von 2014 gewählt worden (pikanterweise beides Wahlsysteme, die aus verfassungsgerichtlichen Urteilen hervorgingen). Eine absurde Situation.
Komplizierter geht immer: das heutige Rosatellum
Da 2018 die Legislaturperiode zu Ende ging, suchte man im Herbst 2017 (getrieben unter anderem von Staatspräsident Mattarella) fieberhaft ein neues Wahlgesetz. Die größeren Parteien mit Ausnahme des Movimento Cinque Stelle einigten sich schließlich auf das Rosatellum, benannt nach dem Erstunterzeichner Ettore Rosato (damals PD, heute Italia Viva). Auch das Rosatellum ist ein gemischtes Wahlsystem, das Elemente der Verhältniswahl mit jenen der Mehrheitswahl in sich vereint. In Kammer und Senat werden nun gleichermaßen jeweils ca. ein Drittel der Abgeordneten (147 von 400 in der Kammer, 74 von 200 im Senat) mittels Mehrheitswahl in Einpersonenwahlkreisen gewählt (the winner takes it all). Die restlichen Sitze werden mittels Verhältniswahlrechts proportional nach dem Stimmenanteil auf nationaler (Kammer) oder regionaler (Senat) Ebene auf die antretenden Koalitionen und Listen verteilt. Es sorgt damit für sehr ähnliche Ergebnisse in Kammer und Senat, wenngleich es nicht automatisch eine Mehrheit für die siegreiche Allianz garantiert.
Bereits kurz nach den Wahlen 2018, die äußerst lange und schwierige Regierungsverhandlungen nach sich zogen und schließlich die rechtspopulistische Regierung Conte I, eine Koalition zwischen Lega und Cinque Stelle, hervorgebracht haben, wurden erneut Stimmen laut, das Wahlgesetz zu reformieren. Seit Jänner 2020 liegt ein Vorschlag auf dem Tisch, der, liebevoll Germanicum genannt, ein Verhältniswahlrecht mit einer Sperrklausel von 5% für antretende Parteien vorsieht. Mit Ausnahme der Lega, die ein reines Mehrheitswahlrecht wie in Großbritannien bevorzugt, waren zum damaligen Zeitpunkt alle größeren Parteien dafür. Die Pandemie ab 2020 und die veränderte Regierungsmehrheit ab 2021 haben den Reformprozess zum Stillstand gebracht. Mit den neuen Mehrheiten im Parlament nach den Wahlen 2022 wird vermutlich auch das Germanicum, vor allem vorangetrieben von Cinque Stelle und PD, wieder gänzlich verworfen. Es ist kein Geheimnis, dass die Rechtsparteien ein Mehrheitswahlrecht oder zumindest ein Verhältniswahlrecht mit Mehrheitsprämie (wie die legge Acerbo, die legge truffa, das Porcellum oder das Italicum) bevorzugen. Back to the future also?
Italien und das Wahlrecht: eine wahre Obsession
Die sogenannte Zweite Republik seit 1994 ist eine Republik der Wahlrechtsreformen. Seit 1993 hat Italien sechs Wahlsysteme durchlebt. Freileich wurden nur drei davon in Wahlen erprobt (Mattarellum 1994, 1996 und 2001; Porcellum 2006, 2008 und 2013; Rosatellum 2018 und 2022). Die ständigen Reformen sind die Folge eines Parteiensystems, das seit dem großen Kollaps 1992-1994 nicht zur Ruhe gekommen ist. Die Parteien sind nach wie vor sehr unbeständig, der Anteil an Wechselwähler:innen und Wahlenthaltungen hoch. Das Wahlrecht sollte bringen, was dem Parteiensystem fehlt: Stabilität. Zu einem in einer ausgewogenen institutionellen Reform eingehegten Wahlrecht bedarf es jedoch eine gemeinsame Vision von Demokratie, die den Parteien bislang fehlt.
Was das für die Wahlen 2022 - und darüber hinaus - bedeutet
Die Umfragedaten sprechen bislang eine klare Sprache. Ein Sieg der Rechtsallianz scheint sicher. Interessant ist dabei, dass rund ein Drittel der Befragten nicht zur Wahl schreiten wollen. 2018, der bisherige historische Tiefstand in puncto Wahlbeteiligung, schritten 27% der Wahlberechtigten nicht zur Wahl. 2022 könnten es weit über 30% sein. Von einer niedrigen Wahlbeteiligung automatisch auf die Zufriedenheit mit dem politischen System zu schließen, ist methodisch eine schwierige Sache. Die Geschichte lehrt, dass eine niedrige Wahlbeteiligung nicht per se eine große Unzufriedenheit mit dem politischen System ausdrückt. Andernfalls müsste man argumentieren, dass die Wahlbevölkerung bei den letzten einigermaßen freien Wahlen der Weimarer Republik 1933 (Wahlbeteiligung bei rund 89%) grundsätzlich zufriedener war, als die Wahlbevölkerung der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2021 (rund 77%).
In Verbindung mit dem unbeständigen Parteiensystem, dem nach wie vor sehr großen Anteil an Wechselwähler:innen und einer in zahlreichen Umfragen attestierten Parteienverdrossenheit kann die prognostizierte niedrige Wahlbeteiligung in Italien 2022 nichtsdestotrotz als ein Indiz für das gesunkene Vertrauen in die Politik und für die fehlende Bindung zu etablierten Parteien gesehen werden.
Was bedeutet das für die nahe Zukunft? Die radikale Rechte (von einem „centro-destra“ zu reden, wäre fehl am Platz) ist drauf und dran, einen satten Wahlsieg einzufahren. Die Folgen einer radikal-nationalistischen, ultrakonservativen, autoritären, in Teilen rechtsextremen, antieuropäischen, nativistischen, xeno- und homophoben Regierung für Italien, Europa, aber auch Österreich können nur erahnt werden. Bleibt zu hoffen, dass sie nicht dem Beispiel Polens und Ungarns folgt und mit illiberalen oder autoritären institutionellen Reformen, u.a. des Wahlsystems, ihre Macht auf Jahre festigen wird.
Thomas Walli ist Senior Scientist am Institut für Politikwissenschaft der Universität Innsbruck. Er forscht und lehrt u.a. zu Wissenschaftskommunikation, -politik und -soziologie, Europäische Union, Italiens politisches System und Geschichte der Republik Italien, französischer Existenzialismus.
Siehe zu diesem Thema auch den Powi Blog vom 18. September 2022: Droht Italien ein Faschismus 2.0?
Homepage: https://www.uibk.ac.at/politikwissenschaft/thomas-walli/
Eine gekürzte Fassung des Artikels erschien zuerst in: ff - Das Südtiroler Wochenmagazin, Nr. 38/2022, 22. September 2022, S. 38-39.
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