Liu Zongyuan
Alter Fischer
Übersetzung: Frank Kraushaar
漁翁 柳宗元
漁翁夜傍西岩宿,
曉汲清湘燃楚竹。
煙銷日出不見人,
欸乃一聲山水綠。
[回看天際下中流,
岩上無心雲相逐。]
Alter Fischer
Alter Fischer geht am Abend unter Steilklippen zur Rast.
Morgens schöpft er aus dem Xiang, schürt Flamme am Bambusast.
Dunst zerstiebt, die Sonne steigt, noch niemand ist zu sehn –
Ein Knarren-Knirschen nur: das Grün der Stromgebirgslandschaft.
Kommentar
Bekanntlich erscheint dieses Gedicht in allen Sammlungen als Sechszeiler (qi-yan gu shi 七言古詩, bzw. Sieben-Silben-Vers im antiken Stil), bestehend aus drei Verspaaren, von denen ich in meiner Übersetzung das letzte leugne. Im Gedichttext ist es in Klammern gesetzt. Es wäre keine große Mühe, es der Übersetzung einzuverleiben, sie würde dann wohl aber manchen Leser versuchen, dem schon zuvor vollständig entfalteten Landschaftsbild einen idealistischen Charakter zuzuschreiben. In rhythmischer Hinsicht wirkt das letzte Verspaar wie eine Kadenz, mit der die Dynamik des Frühlingserwachens in den menschenverlassenen Bergen zu einer vorab festgelegten Bedeutung gezwungen werden soll: ein Rundblick nach den Horizonten und alles neigt sich einer Strommitte des Gewässers zu; nur die sich darin spiegelnden Wolken treiben ziellos aneinander gereiht unter dem Himmel. Elementarer Lebensdrang und die Auflösung seiner Ursprünglichkeit in ein Ganzes, Immerwährend-Sich-Wandelndes sind nur hinzugedachte abstrakte Anschauungen, denen dieses abschließende Panoramabild sich unterordnet. Su Shi mag hierin gleichermaßen ein Art Schraubvorsatz gesehen haben, durch den sich das poetische Momentum im Sinn einer Lehrmeinung weiterverwerten läßt und urteilte entsprechend vornehm-zurückhaltend雖不必亦可 – „Muß zwar nicht sein, kann aber.“ Ich halte es für ganz unwahrscheinlich, daß das letzte Verspaar von Liu geschrieben wurde. Eher schon könnte ein posthumer Literat die eigentlich für ein „neumodisches“ (xin 新) Gedicht typischen, äußerst verknappten Bildkonturen des Sieben-Silben-Verses für des antiken (gu 古) Stils unwürdig gehalten haben und so darauf gekommen sein, sie eloquent um einen großen Gedanken zu „veredeln“. Aber als Vierzeiler bleibt sich das Gedicht genug. In seiner Schlichtheit unübertrefflich, umfängt es das immergleiche Tagaus-Tagein des Fischers und beläßt ihn so in seiner Landschaft, ohne nach Weiterem zu fragen.
Nur so tritt auch die unmittelbare Ähnlichkeit der Komposition sparsam gewählter Motive im Vergleich mit dem folgenden Text hervor, bei dem es sich formal-stilistisch um einen grundverschiedenen Fünf-Silben-Schnitt-Vers (wu yan jueju 五言绝句) handelt, der allerdings wenig Zweifel daran läßt, daß durch seine schärfere Rhythmik dieselbe Figur des alten Fischers, nur diesmal in den strengen Winter versetzt, erkennbar wird:
江雪 柳宗元
千山鳥飛絕,
萬徑人蹤滅。
孤舟蓑笠翁,
獨釣寒江雪。
Fluß Schnee
Zahllos Berge – Vögel flogen fort schon eh‘.
Endlos Pfade – Menschenspuren sind passée.
Ein Boot, der Alte. Mit Mantel und Hut,
Angelt alleine. Auf kaltem Fluß. Schnee.
Hier wie dort die im Grunde unheimliche Größe der Landschaft und der wie zufällig darin aufgelesene Fischer: so zu sein nur für einen Augenblick, um gleich darauf für immer zu verschwinden, ist alles. Angesichts dessen sind die Versuche, den Gedichttext in Verbindung mit der Biographie seines Autors zu bringen, so plausibel sie auch erscheinen mögen, völlig belanglos. Das Gedicht, dessen Verse in den Spiegelungen der semantischen Metrik eng aneinander haften (Zahllos Berge – Endlos Pfade ; Vögel flogen – Menschenspuren ; Ein Boot – alleine ; Mantel und Hut – kalter Fluß) strebt in seiner letzten Konsequenz und Wahrheit zur Auflösung im Einerlei: passée (wrtl. miat – „gänzlich ausgelöscht“) und Schnee. So obsiegt das Fragmentarische über die Form. Oder kann es durch sie erst zum Vorschein treten?
Natürlich habe ich mir mit dem passée statt des miat einen Übersetzerscherz erlaubt. Doch sind solche Scherze gegebenenfalls besser als das Schweigen, mit dem allzu oft die Kraft der rhythmischen Welle, die den Gedanken ins poetischer Bild hebt, ignoriert wird.