Liu Zongyuan

Am frühen Morgen den Lesesaal des Meisters Chao aufsuchend, um Sutren zu rezitieren

Übersetzung: 

晨詣超師院讀禪經   柳宗元


汲井漱寒齒,

清心拂塵服。

閒持貝葉書,

步出東齋讀。

真源了無取,

妄跡世所逐。

遺言冀可冥,

繕性何由熟。

道人庭宇靜,

苔色連深竹。

日出霧露餘,

青松如膏沐。

澹然離言説,

悟悅心自足。

Am frühen Morgen den Lesesaal des Meisters Chao aufsuchend, um Sutren zu rezitieren

Brunnenwasser spült die kalten Zähne;

Herzenskühle klopft den Staub aus Kleidern.

Zwanglos nimmt die Schrift aus Muschelblättern

Einer mit, zum Studio zu eilen.

Wahrheit läßt sich nie am Ursprung fassen;

Wahnwitz folgt zuletzt dem Lauf der Zeiten.

Heilge Worte hofft er zu ergründen;

Sein und Wollen gut und gar zu feilen.

Mönche, in den Höfen, Hallen, schweigend;

Moose, unterm Bambus sich verteilend.

Sonne steigt, wo Tau und Nebel bleiben,

Kiefern, die ihr Grün im Ölglanz zeigen.

Matt-feucht : nicht mit Worten zu beschreiben,

Im Erwachen bleibt das Herz sich eigen.

Kommentar

Das Klostergedicht, das ebenfalls aus der Yongzhou-Periode des Autors stammt, wird meist etwa auf das Jahr 806 u.Z. datiert. Es enthält einige kultur- bzw. religionsspezifische Ausdrücke, die, wenn die Übersetzung erhört werden will, umgeschrieben werden müssen. Dieser translatorischen Logik zu folgen, bedeutet allerdings nicht, daß das ultimative Ziel darin besteht, derartige Ausdrücke „verständlich“ zu machen. Ausdrücke, wie bei ye shu貝葉書, die hier etwas mysteriös als „Schrift aus Muschelblättern“ übersetzt wurden, klingen im Kontext eines Tang-Gedichtes tatsächlich ungewohnt, auch wenn ihre Bedeutung gewohnheitsmäßig verständlich war: „Schriften auf den muschelähnlichen Blättern des Pattra-Baumes“, als welche Sutren sich bezeichnen ließen. Durch jene Blätter „weht“ allerdings der Atem des buddhistischen Klosters in das Gedicht. Wenn sich also die Übersetzung, wie hier, zwischen der Verständlichkeit des Inhalts und mystischem Wortklang entscheiden muss, liegt sie bei letzterem unmittelbarer zur Intentionalität des Ausgangstextes und überläßt wünschenswerte Erklärungen umso besser einer anschließenden Paraphrase.

Ähnliches, aber nicht dasselbe, gilt für die Verspaare 3 und 4, in denen buddhistische, bzw. buddh. inspirierte Ausdrücke wie zhen yuan 真源“Wahrheitsquell“ oder wang ji 妄跡 „Spuren des Wahnwitzes“, die noch nah der Wortbedeutung im Chinesischen faßbar sind, rasch aufeinander folgend in Wendungen wie ke ming 可冥,shan xing 繕性oder you shu 由熟 übergehen, deren Verständlichkeit vom Grad der Einsicht in die Praxis religiöser Übungen abhängt. Die Leser der Tang waren mit diesen Ausdrücken vertraut und deren Anhäufung im Gedicht bewirkt, daß sie mittlerweile nicht mehr „fremdartig“ bzw. religiös-exotisch klingen. Die Übersetzung kann sich auf eine andere Textebene verlegen. Auf dieser neuen Textebene steht nun das spirituelle Ziel, dessentwegen die lyrische Person vor Ort ist, im Vordergrund. Liu Zongyuan befindet sich im Kloster, weil er auf der Suche nach „Wahrheit“ (zhen) jenseits des „Wahnwitzes“ (wang) der Welt ist. Um diese in ihrer „dunklen Abseitigkeit zu ergründen“ (ke ming) wirft er sich in die klösterlichen Übungen zur „Läuterung der Eigennatur“ (shan xing) mit dem Ziel einer Reifung (shu) der edelsten Eigenschaften, deren Zweck derjenige aller Reifung ist – nämlich strahlend und duftend dem Nichts zu verfallen.  Daß die in dieser Erklärung anfallende, leichte Ironie auch zwischen den Zeilen des Gedichtes zu finden ist, mag bezweifelt werden. Ganz auszuschließen ist es aber nicht. Somit ging in der Übersetzung die Entscheidung zugunsten des Tons und der Mittel aus, die notwendig erscheinen, um jenen im Bewußtsein der Leser hervorzurufen. Aus der „Eigennatur“ (der lyrischen Person) wird ein „Sein und Wollen“ und aus der „Reifung“ als Endziel geistlicher Übungen wird ein „gut und gar Feilen“, durch welchen Ausdruck der Tätigkeitscharakter, der mit der Übersetzung von „Läuterung der Eigennatur“ als „Sein und Wollen“ über Bord gegangen schien, wiederum in’s Boot geholt wird.

Zuletzt bleibt noch zu bemerken, daß die Übersetzung von dan-ran 澹然 durch die Wendung „matt-feucht“ einem gattungsästhetisch hoch aufgeladenen Ausdruck lediglich ein naturalistisches Bild gegenüberstellt und damit einer Intuition des Übersetzers folgt, die in dem notorischen Abnehmen transzendenter Spiritualität gegen Ende der Ära der Tang einen naturalistischen Zug findet.

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