Xu Zhangrun

Die Blutrunst dieses Erdklumps

Übersetzung: 

這塊土地嗜血              許章潤

1

這個世界依然需要血淚的殉道
突破黑夜鐵幕的惟有星火拂曉
九重之天,每一層都有歲月飛揚
地球的深處怎會如人間一般薄涼

2

瘟疫當前時盛宴的杯盞滿溢虛空
劊子手風濕的臂膀當然也會疼痛
可待宰的囚徒從不為自己的罪行求饒
血結成冰,關河霜冷,只嫌大地太小

3

人心的傷口裡盛開著天國的花朵
永難癒合,如同太古之初江天寥廓
誰遭受過酷刑,就一直在經受酷刑
這個國度,屍骨堆積起千山萬壑

1

Diese Welt braucht noch immer die Wege des Leidens aus Tränen und Blut

Den eisernen Vorhang der Nacht durchbrechen nur Sterne und Morgenrot

Durch kosmische Sphären erheben sich, Schicht um Schicht, Monate, Jahre im Flug

In Tiefen des Erdballs – wie gleich bleibt dort alles der Menschenwelt kaltem Betrug

2

Pokale des pünktlich zur Seuche gerichteten Banketts schäumen ins Leere

Rheumatische Arme der Henker leiden gewiss noch an Schmerzbeschwerden

Denn solange die Verdammten sich weigern um Gnade für ihre Verbrechen zu bitten

Gefriert das Blut im Körper, Pässe vereisen, die weite Erde bleibt klein und umstritten

3

Aus den Verletzungen der Menschenseele des Himmelreiches Blüten blühen

Nie heilende Wunde – wie anfangs Strom und Himmel – unermessliche Weiten, Höhen

„Wer einmal gefoltert worden ist, der wird auch für immer gefoltert werden“

Denn dieses Land und sein Gesetz sind eine Halde der Totengebeine auf Erden

Kommentar

Der ehemalige Jura-Professor der Tsinghua Universität, Xu Zhangrun (*1962) wurde durch seine öffentliche, literarisch glänzend formulierte Polemik gegen den um die politische Figur Xi Jinpings aufgeführten, totalitären Personenkult und die diese untermauernde, detaillierte Kritik an politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen der VR China in Form einer Serie von Essays zu einer kontroversen und gefeierten Figur der akademischen Öffentlichkeit zwischen 2016 und 2020. Sein 2018 in klassischem Literarchinesisch verfasster Artikel „Unsere akuten Befürchtungen und Hoffnungen“ 我们当下的恐惧与期待 ist eine unverhohlene Reaktion und Widerrede gegen den autoritären Revanchismus des „Neuen Zeitalters“. Selbst die begrenzten intellektuellen Freiheiten, die Akademiker in der VR bislang noch genießen, wurden Xu nach und nach genommen bis er im Juli 2020 aufgrund seiner leidenschaftlichen Kritik an den Pandemiemaßnahmen der Regierung (vgl. Leese/Ming: „Chinesisches Denken der Gegenwart“. 2023) unter dem Titel „Das wütende Volk läßt sich nicht einschüchtern“ erstmals festgenommen wurde. Seiner akademischen Würden und Ämter entledigt, steht Zhang seither unter scharfer Überwachung. Dennoch hört er nicht auf, literarisch tätig zu sein und greift dabei auch auf das in der chinesischen Kultur so vielbewährte Mittel/Medium der lyrischen Sprache zurück, die in ihrer klassizistischen Stilvariante geistesvolle Aphorismen und emotionale Intelligenz vereint, ohne dabei dem Diktat des Faktischen zu erliegen.

Die hier in Übersetzungen vorgelegten Vierzeiler entstanden aus Anlaß des Begräbnisses Alexander Navalnys am 1. März 2024, nach dessen plötzlichem Tod in einem russischen Gefangenenlager. Der Tod des Putin-Widersachers, Bürgerrechtsaktivisten und Kriegsgegners, die enge Verflechtung „chinesischer“ politischer Interessen mit der Fortsetzung des Krieges Russlands in der Ukraine, die Spirale von Brutalität und Repressionen, in der sich die Autokratien Chinas und Rußlands u.a. in gefährlichem Machtwahn verrennen, hier verdichtet zur „Blutrunst des Erdklumps“, erscheinen in einer nur der klassischen lyrischen Weltschau so vertrauten wie akut spürbaren metaphysischen Dimension. Xu spielt dabei mit den Gesetzen der klassischen Prosodie auf eine Weise, die dieser weder hörig ist noch ihr Gewalt antut. Die vorletzte Zeile des dritten Vierzeilers, "Wer einmal gefoltert worden ist, der wird auch für immer gefoltert werden" ist Xus Zitat einer chinesischen Übersetzung Jean Amérys (1912-1978). Benedict Cumberbatchs Bühnenlesung einer Stellungnahme A. Navalnys zu seinen Motiven, aus dem Exil nach Rußland zurückzukehren, wo ihn der Tod ohne dazu bestimmendes Urteil erwartete, ist unter den englischsprachigen Übersetzungen Geremie Barmes über die Seite "China Heritage" (Mourning Alexei Navalny, Shedding Tears for China — Xu Zhangrun – China Heritage) verfügbar. Zwischen diesem deklarativen Text und den Versen Xus wird die tiefe Sympathie erkennbar, die letzterer für den russischen Märtyrer wohl empfindet. 

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