Liu Zongyuan

Die Bleibe am Fluß

Übersetzung: Frank Kraushaar

溪居                 柳宗元

久為簪組累,

幸此南夷謫

閑依農圃鄰,

偶似山林客。

曉耕翻露草,

夜榜響溪石。

來往不逢人,

長歌楚天碧。

Die Bleibe am Fluß

Längst sind mir Haarnadel, Amtsgurt über.

Froh, in den Süden zu Wilden verbannt,

Laß ich mich ein auf bäurische Nachbarn,

Just wie ein Kauz aus dem Hochgebirgsland.

Morgens der Pflug schert die Wiesen voll Tau;

Abends das Boot knirscht am steinigen Strand.

Tagein und tagaus steht niemand im Weg –

Lang, ein Gesang bis an Chus Horizont.

Kommentar

Dieses durch die Überlieferung stark priorisierte Gedicht Lius findet sich in allen Standardanthologien und bezeichnet, neben den beiden um etwa die Hälfte kürzeren Versbildern, mit denen sein Name bis heute untrennbar verbunden bleibt – dem „Fischergreis“, Yu weng ..., und „Flußschnee“, Jiang xue ... –, eine Vision von Natur und Mensch in Gegenwart,Vergangenheit und Zukunft, die so bündig, entpersonalisiert und allgemeingültig erscheint, daß sich ihr bis heute kaum jemand entziehen kann. Darin offenbart sich – indirekt und darum unbestreitbar – ein autoritatives Weltbild, demzufolge das Namenlos-Sein, also der Zustand, den das Literarchinesische yinzhe 隱者benennt, über sämtlichen anderen Seinsformen innerhalb der menschlichen Erfahrungshorizonte steht.

Die namenlosen Gestalten des alten Fischers – mal im Frühling, mal in winterlicher Landschaft – scheinen in der Bleibe am Fluß vorgezeichnet. Die biographische Figur Liu Zongyuan wird hier zunächst noch an ihrer Herkunft erahnbar: das Scheitern am eigenen Ehrgeiz, der Ekel vor dem Betrug, den Pomp und Hochmut brauchen, um sich die Macht zu sichern, gehen in den ersten beiden Verspaaren nahtlos über in eine Heiterkeit, die Verwandlung als den nunmehr geebneten Weg in eine unaussprechliche, weil nirgends benannte oder geforderte Freiheit erkennt. Diese bewahrheitet sich erst im Verschwinden der letzten biographischen und persönlichen Voraussetzungen des Gedichts. In der zweiten Gedichthälfte ist es geschehen: die Sprache wird durch poetische Formeln geprägt: die „Morgen-Abend-Formel“, die seit den Chuci zum poetischen Repertoire gehört, die Formel der sozialen Unbedarftheit (bu jian ren 不見人 bzw. bu feng ren  不逢人), die so unterschiedliche Gestalter bukolischer Lyrik wie Tao Qian und Wang Wei vorgeprägt haben und schließlich die landläufigen langen Klagelaute (langgezogenes Pfeifen: chang xiao 長嘯; oder schwermütig sich hinziehende Gesänge: chang ge 長歌) unter dem schicksalsschweren Himmel Chus sind nichts weiter als literarische Versatzstücke, mit denen sich eine durch die Tradition längst verallgemeinerte Erfahrungswelt umreißen läßt. Die Einzigartigkeit des Gedichtes findet sich nicht in ausgefallenen Bildern, Worten oder jenseits eines Erwartungshorizonts mitgedachter Empfänger versteckten Anspielungen; es ist der Gedanke der Freiheit im Geschehen einer Verwandlung, der nichts mehr entgegensteht, auch nicht mehr der Wille des noch bis hier hin Geächteten und Verstoßenen.

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