Für Ieva, Frank

Drei Gedichte im neuklassischen Stil aus Lettland

Die hier erstmals öffentlich und zugleich in deutscher Übersetzung vorgestellten Gedichte entstanden im September 2022 nach einem Besuch Yangs und YoYos in Lettland anläßlich einer Lesung Yang Lians als Gast der jährlich stattfindenden „Tage der Lyrik“ (Dzejas dienas) am 10. September in Riga. Für die Lesung hatte Ieva Lapiņa etwa ein Dutzend Gedichte Yangs ins Lettische übersetzt und analog zur Lesung des Dichters vor einem gefüllten Publikumssaal vorgetragen. Ganz im Gegensatz zum Erlebnis der ersten Tage stand die Ruhe der folgenden, während derer nunmehr ich, ein Übersetzer ins Deutsche, die beiden Autoren in die frühherbstlich stille Meeres- und Hügellandschaft Lettlands und deren schwere Geschichte der vorausgegangenen hundert Jahre einführte. Der Krieg, der vom, auch geschichtlich, nahen Nachbarland über die Ukraine hergefallen war, brüllte um unsere Gespräche, vermochte sie aber nicht zu stören, da er in ihnen, die ihn nicht beachteten, bereits durch andere Kriege und Zerstörungen vorweggenommen war und somit den Nimbus seiner „Einzigartigkeit“ nicht beanspruchen konnte. Stattdessen sprachen wir über die Formen der Poesie, die Zeiten, die diesen gegeben sind und über die Rückkehr der Toten in Natur und Dichtung. Als nachträgliche Überraschung erreichten uns nach wenigen Wochen die hier wiedergebenen und ins Deutsche übersetzten vier Gedichte Yangs, die – eher ungewöhnlich für seine Schreibweise – einige Elemente klassischer Prosodie (Endreime, Parallelstellungen) einspielen, ganz ohne den unverkennbaren, yang’schen Bildrhythmus, die schöpferische Kraft seiner eigenen Sprache aufgeben zu müssen.

Übersetzung: Frank Kraushaar

礁石

大海是占领博物馆里的展品

时而灰黑  时而草绿  呻吟

一排排涌来  朗诵着厄运

再升高一点  浸湿海鸥的尾音

屏息的人群追上满月的拉力

凿刻这块石头  毁掉的家里

总有一个万人坑近在咫尺

亡灵像雁行  飞不尽人的空虚

就在脚下  海藻覆盖凹陷

盛满远早于人的语言  深渊

海拔几米  跌落到底的古典

浅浅再死一次  浅浅如一天

疼痛似的完美  听那海风

攀上  跳下  一个陡峭的命定

迎向黑暗  打磨着我们成形

月亮孤零零留在时间的退潮中

Uferfelsen

Das große Meer nimmt nun Besitz von den Museumsdingen,

mal aschgrau                 mal grasgrün                 sein seufzendes Singen,

reihenweise anspülend,               es deklamiert ein Unglück-Bringen

und wieder ansteigend                benetzt es Möwenfüße, die wie Verse klingen.

Die staunende Menge folgt aufwärts, vom Anzug des Mondes betört,

durchbohrt dieser Felsen.                        Zum Haus, das zerstört,

gewiß eine Grube für Zehntausend, unweit, gehört.

Totenseelen – Wildgansflug,                   der nie im Hohlraum der Menschen aufhört.

Dann unter Schritten                  bedeckt die Einsenkung Tang.

Blühende Sprache, die längst schon vor Menschen            versank

unter die Spiegel der Meere.                   Klassiker, tiefer im Sand,

rieselnd, noch einmal zu Tode,                rieselnd, den ganzen Tag lang.

Qualhafte Vollkommenheit                     horch auf den Meereswind;

kriecht empor,               stürzt hinab,                  etwas, das schroff bestimmt

für die Finsternis,                       poliert, was durch uns Gestalt annimmt.

Einsam der Mond in der ebbenden Zeit                ein Waisenkind.

Übersetzung: 

蘑菇

嘘  死亡的异香  近了

死者们的名字  紧挤我

轻轻念诵的雨后  我醒着

丛生的轮回  一场燠热

松针那么尖细  密集

黑土搂着树根  仍在录制

我袅袅收藏成血肉的秘密

从一九三九到一九五七*

山林总在炖一锅浓汤

乡音找到弹夹的窝  诗行

宿营地回不了家的月亮

又等在一只灾难的膝盖上

分享一次软软  圆圆的稳住

风暴酿造的美味  得咀嚼

至最慢  最陌生的熟识的苦

才渗出挚爱  深植入内部

*1939——1957,德国、苏联先后占领拉脱维亚。在此期间,拉脱维亚反抗游击队以山林为依托,抗击占领者。某小城有纪念馆,游击队牺牲者的名字,刻在墙上,由录音轻轻念出。

Pilze

Pssst                 diese seltsamen Sterbegerüche                schon näher gerückt

jenen Namen von Verstorbenen,              die mich fester gedrückt

in den sanften Gesang nach dem Regen.               Erwachend erblickt

ich wuchernden Kreislauf des Lebens                  und eine Hitze, die drückt.

Kiefernnadeln, so fein und so spitz                      und geballt.

Schwarze Erde, die Wurzeln umfängt,                 vom Tonträger schallt

mir noch vage sich formende, heimliche Menschengestalt,

der eine Zeit von ‘Neun‘dreißig bis ‘Siebenundfünfzig galt.

In Hügelwäldern, die sich zwischen Nebelkesseln teilen,

Fand Muttersprache Munitionsversteck.               Der Verse Zeilen:

Lagerstätte, wo nicht mehr heim des Mondes Blicke eilen,

die noch über in ihr Unheil Knieenden verweilen.

Genießbar, die einmal so sanfte               gerundete Festigkeit.

Geschmack nach Unwettergärung                        über sehr lange Zeit

sehr gemach Zerkautes               sehr befremdlich vertrautes Leid.

Wahre Liebe, die durchsickern kann         Saat, nach Innen gestreut.

*‘Neun‘dreißig bis ‘Siebenundfünfzig – zuvor und danach hatten Deutschland und die Sowjetunion Lettland besetzt gehalten (ohne auf breiten Widerstand zu stoßen; A.d.Ü.). Innerhalb dieser Zeitspanne fanden die Partisanen des lettischen Widerstandes in den Wäldern Rückhalt und bekämpften von dort aus die Besatzer. In der Gedächtnisstätte einer Kleinstadt (Cesis; A.d.Ü.) waren Namen von Opfern der Widerstandbewegung auf Tafeln an einer Wand zu sehen, während sie von einem Tonträger leise wie in den Raum gemurmelt wurden.

Erläuterung

Der Herbst dieses Jahres war, nach einem trockenen Spätsommer, sehr pilzarm, worauf ich während unserer Ausflüge gelegentlich hinwies, da sowohl Pilzsuche als auch Gräberbesuche zu den lettisch-baltischen Kulturleidenschaften zu zählen sind. Während die sowjetische Besatzungszeit unter stalinistischem Regime von 1940-41 und von 1944/45-1953 in zwei Abschnitte zerfällt, nimmt die Besatzung durch das nationalsozialistische Deutschland nur die inzwischen verbleibenden gut drei Jahre ein, die die große Mehrheit der „Sowjetletten“ im russischen Exil überdauerten. „Zuvor“ hatte die unabhängige Republik Lettland (1919-1940) bestanden, während „danach“ ein zahlenmäßig sehr starker, ländlicher Partisanenwiderstand teils durch das Ausbleiben versprochener Unterstützung westlicher Verbündeter (sic!) um 1951 und das unerbittliche Vorgehen sowjetischer „Anti-Terror- Einheiten“, zuletzt aber durch die Normalisierung der Sowjetherrschaft in den Städten im Zuge der „Tauwetterperiode“ nach Stalins Tod gebrochen wurde. Einzelne Nester des ländlichen Untergrunds hielten sich jedoch, ohne das öffentliche Leben zu bedrohen, bis in die 1960er Jahre. Nach langer Verfemung und Tabuisierung während der Besatzungszeit, kommt heute sowohl der Ehrung als auch dem historisch-kritischen Gedenken der Partisanenbewegung in Lettland, Estland und Litauen eine für den legitimen Anspruch der baltischen Staaten auf Freiheit und Selbstbestimmung wesentliche Bedeutung zu.

Das Gedicht vollzieht die Synchronisierung der wörtlich über den Gaumen und durch den Magen gehenden Pilzliebe mit einem durch unsere Gespräche und den fast zufälligen Besuch der Gedenkstätte erwachenden Sinn für die von der unmenschlichen Lebenskraft der Wälder längst gänzlich verschlungenen, von der Geschichte aber dennoch nicht bezwungenen Freiheitskämpfer. Es stiftet deren Andenken, ohne dabei an viel anderes denken zu können als an selbst erfahrene Liebe und Verzweiflung, also an die Urkräfte und letzten Bedingungen jeden Kampfes um ein freies und selbstbestimmtes Leben.

Übersetzung: 

渡口

这是忘河吗?窄窄的一片水

无垠的一片水  秋林的妩媚

让位于苍茫  薄雾烧成灰

和我一起登船  渐远的世界

渐渐移近  绿  在对岸

在此岸  水声是韵脚  木船

从逝去到逝去  一条钢索间

冥冥划桨的手铆定了航线

每个人划向自己的倒影

爱的律动。疼的律动  暮霭中

粼粼起伏的乱世浸进晚风

又找到水穷处  我的亡灵

在我体内拔锚  血淋淋的忘河

蹚着落叶  一切遗忘不了的

都在渗漏  走投无路的一刻

我已回来  锤炼成横亘的夜色

Fährplatz

Ist das ein Fluß des Vergessens?   Ein Wasser, so schmal hingeleitet,

ein Wasser, so endlos geweitet.    Zierlichkeit herbstlicher Wälder

gibt statt der finsternden Ferne    zu Asche verbrannter Nebelfelder.

Mit mir steigt nun auf das Boot   eine Welt, die sich weitet.

Nach und nach nähert sich          Grün     vom Ufer dort drüben.

Am hiesigen Ufer          stimmt Wasser den Reimlaut.      Hölzerner Kahn

von Vergänglichkeit zu Vergänglichkeit;   längs der Kabelbahn

ein Kurs, festgenietet von der Hand, welche steuert, im Tief-Trüben.

Spiegelung eines jeden, der nach sich selbst strebt im Kursverlauf,

pulsierende Liebe. Pulsierender Schmerz  in Spätnebel versenkt,

kristallklar das Wogen der wirren Welt                 den Abendwind tränkt.

Und so finde ich dort, wo das Wasser versiegt       meine Seele auf.

Anker gelichtet in mir,    im Fluß des Vergessens Bluttropfen funkeln.

Das Laub durchwatend               durch das Entfallen ohne ein End,

Alles ein im Versickern              weder ein noch aus wissender Moment.

Ich kam schon zurück     in ein Sich-Ausweiten schmiedendes Dunkeln.

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