Li Bo (Li Bai)
Auf den Granatapfelbaum meiner Nachbarin in Lu
Übersetzung:
詠鄰女東窗海石榴
魯女東窗下,海榴世所稀。
珊瑚映綠水,未足比光輝。
清香隨風發,落日好鳥歸。
願為東南枝,低舉拂羅衣。
無由共攀折,引領望金扉。
Vor der Nachbarin Fenster
der Granatapfelbaum:
ein schöneres Bild
kennt die Welt wohl kaum.
Wie Korallen leuchten aus Wassern grün,
reicht nicht zu beschreiben
das feurige Glühn.
Einen reinen Duft
verbreitet der Wind,
die Vögel drin nisten,
da die Sonne versinkt.
Wie gerne wär ich
südostwärts ein Zweig,
im Winde mich wiegend
zu streifen ihr Kleid.
Kein Weg ist, gemeinsam
die Blüten zu brechen,
es bleibt nur, den Hals
nach der Türe zu recken.
Kommentar
Ja, ein Hallodri war er, der große Dichter Li Bai (701–762). Nicht nur die Früchte des eigenen Gartens interessierten ihn, er schielte auch über die Mauer hinüber zur Nachbarin. Getrost dürfen wir hier von einem erotischen Gedicht sprechen, denn chinesische Liebesgedichte sind in der Regel weniger outspoken als ihre westlichen Gegenstücke, leben viel stärker von der Kunst der Andeutung. Es bedarf der Phantasie des Lesers, sich auszumalen, wie weit das lyrische Ich seine Streicheleinheiten ausdehnen möchte. Blüten brechen sind immerhin eine poetische Universalie, die überall in der Welt verstanden wird.
Ich stieß auf das vorliegende Gedicht, als ich vor einigen Monaten die recht nichtssagende Biographie des Dichters von Ha Jin (Der verbannte Unsterbliche, Berlin 2023) besprach. Darin findet sich in dem Kapitel „Frauen“ eine etwas matte Übersetzung dieser Verse. Mir ging es darum, dem Gedicht mehr Dynamik zu verleihen, was ich durch eine Gliederung in Strophen und kurze, nur zweihebige Verse versuchte. Die Nennung der Himmelsrichtung („südostwärts ein Zweig“) mag manchen Leser befremden. Sie ist jedoch derart typisch, dass ich mich nicht befugt fühlte, sie zu unterdrücken.
Das Gedicht wird auf das Jahr 737 datiert, als der Dichter sich in Shandong aufhielt. Ein alter Name für dieses Gebiet lautet Lu. Der Granatapfel war ursprünglich nicht in China heimisch, sondern wurde während der Han-Dynastie aus dem Westen (sprich: Mittleren Osten) eingeführt. Der Bezeichnung shiliu 石榴 wird noch ein hai 海 („Meer“ im Sinne von ausländisch) vorangestellt. Kommentare erklären diesen Zusatz damit, dass der Granatapfel zu Li Bais Zeiten bereits in Korea verbreitet war, so dass der exotische Baum auch von dort stammen könnte.
Copyright: Volker Klöpsch