Zhang Ruoxu

Frühlings- und Stromlandschaft in einer Nacht der Blütendüfte 春江花月夜

Übersetzung: 

春江潮水連海平,
海上明月共潮生。
灧灧隨波千萬里,
何處春江無月明!

江流宛轉繞芳甸,
月照花林皆似霰。
空里流霜不覺飛,
汀上白沙看不見。

江天一色無纖塵,
皎皎空中孤月輪。
江畔何人初見月?
江月何年初照人?

人生代代無窮已,
江月年年望相似。
不知江月待何人,
但見長江送流水。

白雲一片去悠悠,
青楓浦上不勝愁。
誰家今夜扁舟子?
何處相思明月樓?

可憐樓上月裴回,
應照離人妝鏡台。
玉戶簾中卷不去,
搗衣砧上拂還來。

此時相望不相聞,
願逐月華流照君。
鴻雁長飛光不度,
魚龍潛躍水成文。

昨夜閑潭夢落花,
可憐春半不還家。
江水流春去欲盡,
江潭落月復西斜。

斜月沉沉藏海霧,
碣石瀟湘無限路。
不知乘月幾人歸,
落月搖情滿江樹。

Der Frühlingstrom, die Flutwelle erreichen Meeresweite;
Der Vollmond überm Meer, die Fluten, die gemeinsam steigen.
Woge auf Woge folgt endlos: bezauberndes Schwanken.
Wo könnt sich der Frühlingsstrom ohne den Mondglanz zeigen?

Der Strom fließt verschlungen durch düftereiches Gefilde;
Der Mond bescheint blühende Haine wie Reifgebilde.
Durch Lüfte treibt Frost; kaum spürbar: der Vögel Flug...
Am Strand weißer Sand, der beinahe nebelverhüllte.

Strom-Himmel, ein Antlitz, staublos bis tief in die Poren;
Hell-prächtig, das Mondrad rollt durch die Lüfte, verloren.
Stromuferhang – wer hat zuerst hier den Mond gesehen?
Vollmond im Strom – sein Abglanz hat wen zuerst erkoren?

Zeit folgt auf Zeiten, Menschen kommen, gehen endlos mit;
Vollmond und Strom jahraus, jahrein für immer gleichen sich.
Vollmond im Strom – wen sie auch hier noch erwarten mögen,
Der nur den Großen Strom, die Fluten geleitend, erblickt?

Ein Wolkenfetzen, weiß, der in die Ferne endlos treibt;
Am Ahornufer, grün, jemand in tiefem Kummer bleibt.
Wer ist’s, der heute Nacht das Boot alleine steuert wohl?
Und wo, aus welcher Kammer sich, ein Herz dem Vollmond neigt?

Ach seht! Über der Kammer dort, der Mond verhält im Blick,
Zu leuchten der Verlassenen am Spiegeltisch, im Schick.
Im Türvorhang, rollt man den auf, verzieht er sich doch nicht;
Beim Wäscheschlagen auf dem Stein kehrt er doch bald zurück.

Zu dieser Zeit schauen die aus, die keine Kund erreicht
Und wollen mit des Mondes Glanz zum andern, den er bleicht.
Die Wildgans auf dem längsten Flug kommt nicht am Licht vorbei,
Fischdrache streift das Wasser nur, wenn er zum Himmel steigt.

„Noch gestern nacht vom Blütenfall geträumt am stillen Teich –
O weh! Du kehrst noch nicht zurück, der Frühling bald verstreicht!“
Im Frühling schwillt die Wasserflut, will sich erschöpfen ganz,
Am Stromufer der Mond versinkt im Westen wieder gleich.

Der Mond neigt und verbirgt sich tief im dunklen Meeresschoß,
Vom Stelenfels zu Xiao und Xiang die Wege schier endlos.
Wer weiß schon, wer reist mit dem Mond und kehrt davon zurück?
Der Mond versinkt, voll Leidenschaft das Ufer rauscht am Fluß.

Kommentar

Das Gedicht und sein Autor nehmen eine Sonderstellung in der Geschichte der chinesischen Literatur ein, die als kritische Wissenschaft erst im 20. Jahrhundert entstand. Auch in den davorliegenden Zeitaltern war beider Wertschätzung nicht unbedingt im Einklang mit Normen und Standards literarischer Ästhetik. So fehlt der Text in sämtlichen namhaften Anthologien der Tang (618-906) und wurde auch von den Kompilatoren der Song (960-1279) beinahe völlig ignoriert. Nur in Guo Maoqians 郭茂倩 (1041-1099) „Sammlung von Versen im Musikamtsstil“ (yuefu shi ji 樂府詩集) erscheint er als Teil der klassischen Tradition lyrischen Dichtens, die einerseits im Volksliedbrauchtum seit der Han-Zeit (206 v.u.Z.-220 u.Z.) und andererseits in der Hoflyrik der Zeit der Sechs Dynastien (222-589) recht heterogene Ausgänge nimmt. Was dieser Heterogenität aus einer gattungskritischen Perspektive Sinn gibt, ist der große Abstand zum seit den Tang in Gedichten der sogen. Neuen Gestalt (xin ti 新體) etablierten Ideal metrischer Stringenz und starke Neigungen zur Ausprägung zunehmend untergeordneter stilistischer Qualitäten. Zu letzteren gehörten: Detailverliebtheit und Neigung zu Sprachspielen in der poetischen Beschreibung (Manierismus), erzählerische Breite und Offenheit und nicht zuletzt auch eine philosophische, also für theoretische Betrachtungen offene Schreibweise. Der Musikamtsstil im breiten Verständnis Guos befugte den Autor zu Eigenschaften, die durch die enge Verflechtung von Persönlichkeitsideal und poetischem Genius während der Tang und Song zurückgedrängt worden waren: Virtuosität, erzählerischer Zeitsinn, philosophische Schau (heute würden wir gewöhnlich von „Theorieverständnis“ sprechen).
Das hat während der Periode der späteren Kaiserreiche (also von 10. bis 20. Jahrhundert) dafür gesorgt, daß Zhang Ruoxu durch diesen und einen einzigen weiteren, ihm zugeschriebenen Text, dessen Bedeutung für geringer gehalten wird, doch noch in das literarische Gedächtnis Ostasiens eingeschrieben wurde. Aber erst literarische Revolutionäre der Moderne, namentlich Hu Shi 胡適 (1891-1962) und Wen Yiduo 聞一多 (1899-1946), sahen in Zhangs seltenem Gesang auf den Zauber einer Nachtlandschaft einen erneuernden Ruck, der aus der höfisch-dekadenten Tradition des sogenannten Palaststils (gongti 宮體) ausbrach, sie zugleich mit „volkssprachlichen“ Elementen überschrieb und dabei spielerischen Feinsinn mit philosophischer Substanz verband. Andere moderne und vormoderne Kritiker betonen die formal ungewöhnliche Konstruktion des Textes auf Basis von neun vierzeiligen Strophen, von denen jede sich durch eigenen Reimlaut (nach dem Schema aaxa) von den anderen abgrenzt. Wieder andere sprechen vom transzendenten Charakter der poetischen Sprache, die Begriffe in dichter Folge vielfach wendet und ineinander verflicht ohne den Bedeutungszusammenhang einhellig erklärbar zu machen, die die Natur (Landschaft), Personen und Gefühle anspricht ohne je Grenzen zwischen diesen „Kategorien“ zuzulassen. Mit anderen Worten: es ist seine nicht nur ästhetisch außergewöhnliche, sondern einzigartig musikalische Qualität, die diesen Text ins Zentrum einer neuen Aufmerksamkeit rückt.
In westlichen Übersetzungsanthologien findet sich dagegen nicht viel von dieser im sinographischen Kulturraum unter Literaturexperten allgemein geteilten Aufmerksamkeit und nichts von der im chinesischen Sprachraum unüberschaubaren populären Prominenz der „Frühlings- und Stromlandschaft in einer Nacht der Blütendüfte“ wieder. Im deutschen Sprachraum wurde bisher offenbar eine Übersetzung Alfred Forkes (1867-1944) für genügend befunden, obwohl es bekanntermaßen im Wesen literarischen Übersetzens liegt, an der Unnachahmlichkeit großer Dichtungen deren vielfältige Reflexion durch andere Sprachen zu entfesseln. Es gilt mir umso mehr als unverdiente Ehre, mich Forke anschließen zu dürfen, selbst wissend, daß die mangelnde Beleuchtung des Textes nachvollziehbare Gründe hat.
Vor allem wäre wohl der Verdacht auf manieristische Oberflächlichkeit zu nennen, der sich leicht einstellt, sobald man dem romantischen Pathos, das von Anfang bis Ende durch die Verse tönt, zu misstrauen beginnt. Worum geht es hier überhaupt? Ein Strom, vermutlich der Jangtse bei Yangzhou, das Meer, der Vollmond, die Flutwelle, die jener im Aufsteigen phänomenal stromaufwärts ziehen läßt, nächtlich duftende Auen und Haine, dann Betrachtungen über Kosmos, Landschaft, Mensch, schließlich zwei Menschen, Frau und Mann, Trennung, Sehnsucht, Boot, Kammer, Spiegeltisch, Wäscheschlagen und überall Mond – Mond, Wolken, Wildgänse, die über Wasserflächen landen, Wasserdrachen, die aus der Tiefe emporsteigen und doch wieder Wehmut, Verlorenheit, Versinken – schauerndes Versinken von Mensch und Mond und Mitfühlen in jene grenzenlose kosmisch-terrestrische Weite, aus der das alles hervorgegangen war. Kein einziges dieser Details aus dem Verlauf des Verstextes und keines der davon ausgelassenen wäre nicht den Zeitgenossen Zhangs und den literarisch Gebildeten der seither folgenden Jahrhunderte selbstverständlich allgemein bekannt gewesen. Die sechsunddreißig Verse scheinen mitunter bloß Platz für eine Anhäufung leicht reproduzierbarer Topoi einzuräumen. Das stellt die zahlreichen Repetitionen der zentralen Begriffe „Strom“ (12), „Mond“ (15) und „Mensch“ (6) unter Verdacht, ein leeres Schema konventioneller Beziehungen hinter verbrämender Symbolik verstecken zu wollen. Tatsächlich scheint der explizit deklamatorische Charakter des Textes eine derart billige Strategie noch zusätzlich zu stützen. Man denke sich nur ein auf Wortkunststücke begieriges, latent gelangweiltes Publikum von feinsinnigen Höflingen, hochmütigen Adelspersonen und hinterköpfischen Literaten und dazu einen Dichter, der diesen allen auf einen Schlag Bewunderung zu entlocken versucht! Dergleichen müsste heute nicht übersetzt werden. 
Aber das sind Vorurteile, denen ich mit der hier vorgelegten Übersetzung entgegenzuwirken versuche. Inwiefern es nun dieser gelingt, kraft der paradox-wahrhaftigen Verschränkungen von Worttreue und Freiheit des Sinns eine eigene Musikalität zu entfalten, die sich jene des längst verklungen Gedichtes nachmaßt, mag der kritisch-gewogene Leser beurteilen.


Im Übrigen darf allen, deren Interesse an Zhang Ruoxus schmalem Werk durch diese Lektüre geweckt wurde, Cheng Chi-hsiens (François Chengs) Studie „Analyse formelle de l’œuvre poétique d’un auteur des Tang. Zhang Ruo-xu“ (Paris 1970) als luzide und nach wie vor ergiebige Untersuchung empfohlen werden. Eine in zeitlich kurzen Abstand entstandene taiwanische Studie von 1975 behandelt das Gedicht unter dem Titel  張若虛及其春江花月夜 . Der Autor, Chai Feifan 柴非凡 wählt ebenfalls einen strukturkritischen Ansatz, geht aber noch weiter als Cheng auf religiöse, bzw. buddhistische Implikationen in der Terminologie und ästhetischen Funktionsweise des Gedichtes ein.

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