Han Yu 韓愈

Hymne[1] auf das Südgebirge 南山詩

吾聞京城南,

茲維群山囿。

東西兩際海,

巨細難悉究。

山經及地誌,

茫昧非受授。

團辭試提挈,

掛一念萬漏。

欲休諒不能,

粗敘所經覯。

Ich hörte wohl südlich der Hauptstadt liegt

Dieser, von allen Bergen umrundet.

Nach Ost wie nach West an Meere grenzend,

Sind Umfang und Reichtum kaum erkundet.[2]

Fibel der Berge und Ortschroniken

Bringen kaum Helligkeit in sein Dunkel.[3]

Prüft man den Wortwust auf das, was er sagt,

Wirkt kein Detail im Ganzen begründet.

Wollt es wohl lassen und  doch muss es sein:

Erlebtes umreißen, wie es sich findet.

嘗昇崇丘望,

戢戢見相湊。

晴明出稜角,

縷脈碎分繡。

蒸嵐相澒洞,

表裏忽通透。

無風自飄簸,

融液煦柔茂。

橫雲時平凝,

點點露數岫。

天空浮脩眉,

濃綠畫新就。

孤撐有巉絕,

海浴褰鵬噣。

Einst stieg ich zum Ausblick am Ahnenhügel[4],

Sah, wie ihn die Schar der Gipfel umfängt.[5]

Kaum daß das Frühlicht den Grat übersteigt,

Schon glänzt sein Schmuck, zu Falten zersprengt.

Dunstige Wogen schleifen und streifen –

Innen und Außen sind plötzlich vermengt.

Windstill, es hebt und es senkt sich von selbst,

Lebenssaft, schmelzwarm, sein Wachstum tränkt.

Wolkenbänke, zuweilen gefrierend,

Werden zu Tau, der an Gipfeln hängt.

Im Himmel schwingt er, die hohe Braue,

Grün geschminkt, Konterfei, das verjüngt.[6]

Steht so verlassen am jähen Abgrund –

Meer, aus dem Schnabel des Rok-Vogels drängt.[7]

春陽潛沮洳,

濯濯吐深秀。

巖巒雖嵂崒,

軟弱類含酎。

夏炎百木盛,

蔭鬱增埋覆。

神靈日歊歔,

雲氣爭結構。

秋霜喜刻轢,

磔卓立癯瘦。

參差相疊重,

剛耿陵宇宙。

冬行雖幽墨,

冰雪工琢鏤。

新曦照危峨,

億丈恆高袤。

明昏無停態,

頃刻異狀候。

Macht des Frühlings, verborgen in Marschen,

Spröde und karg, eh herausplatzt die Pracht.

Klippen und Gipfel, zwar turmhoch und steil;

Im Rausch frischer Kräfte, nachgiebig-sacht.

Die Sommerhitze treibt alles hervor;

Der Schatten Dichte es just überdacht.

Der Atem der Berggeister Tag um Tag keucht,

Wolken – in Fugen und Formen gebracht.

Herbstfrost schlägt heiter furchtbare Kerben,

Zerstückelt steht er, wie ausgezehrt-schwach:

Zackig-verzahnt und wuchtig gestaffelt –

Unbeugsam strahlende Himmelsallmacht!

Auch wenn des Winters Finsternis waltet,

Schnee oder Eis schleift der Meister bedacht.

Neues Licht, blendend, Höhe, unnahbar –

Weit-unermeßlich, bald ragend, bald flach.

Hell oder dunkel, rastlos Gestalten,

Immer auf andre Art sichtbar gemacht.[8]

西南雄太白,

突起莫閒簉。

藩都配德運,

分宅占丁戊。

逍遙越坤位,

詆訐陷乾竇。

空虛寒兢兢,

風氣較搜漱。

朱維方燒日,

陰霰縱騰糅。

Im Südwest, herrlich, Weißester Gipfel[9]

Springt vor, daß gar nichts dazwischen sich stellt.

Beschirmend die Hauptstadt, Kraft ihr spendend,

Die Ordnung der Häuser durch ihn erhellt.

Schwerelos läuft er aus gen Südwesten

Und bannt im Nordosten das Gräberfeld.[10]

Kahl-verlassen, in Kälte verhalten,

von Windlüften heimgesucht, reingespült.

Wenn ihn im Süden die Sonne versengt,[11]

Quirlt schon im Graupel des Nordens die Welt.

昆明大池北,

去覿偶晴晝。

緜聯窮俯視,

倒側困清漚。

微瀾動水面,

踴躍躁猱狖。

驚呼惜破碎,

仰喜呀不仆。

前尋徑杜墅,

坌蔽畢原陋。

崎嶇上軒昂,

始得觀覽富。

行行將遂窮,

嶺陸煩互走。

勃然思坼裂,

擁掩難恕宥。

巨靈與誇蛾,

遠賈期必售。

還疑造物意,

固護蓄精祐。

力雖能排斡,

雷電怯呵詬。

攀緣脫手足,

蹭蹬抵積甃。

茫如試矯首,

堛塞生怐愗。

威容喪蕭爽,

近新迷遠舊。

拘官計日月,

欲進不可又。

因緣窺其湫,

凝湛閟陰獸。

魚蝦可俯掇,

神物安敢寇。

林柯有脫葉,

欲墮鳥驚救。

爭銜彎環飛,

投棄急哺鷇。

旋歸道迴睨,

達枿壯復奏。

籲嗟信奇怪,

峙質能化貿。

Vom Norden des Großen Kunming-Beckens[12]

Begegnet der Blick hellem Tageslicht.

Weit durch seidige Luftschleier spähend,

Taumelt das Bergbild, umgeben von Gischt.

Sanft-gewellt wiegende Wasserfläche –

Stürmende Affen, wenn plötzlich es zischt.

Schrecklich, wenn all das zerfällt in Stücke;

Herrlich, denn Höchstes erniedrigt sich nicht.[13]


Dort folgt man dem Pfad auf Hügel hinaus;[14]

Unter dem Kamm, tief, ein Gräberfeld.

Erst weiter oben, von schroffen Klippen

Erblickt man gebannt den Reichtum der Welt.

Der weite Weg im stetigen Wandern,

Zwischen Tiefen-Höhen, bald steigt, bald fällt.

Plötzlich wähnt man ihn in der Zerklüftung

Eingezwängt, daß mans kaum für möglich hält.


Geisterriese und Prahlende Motte[15]

Hätten sich gerne Händlern verdungen.

Fürchteten doch um den Sinn der Schöpfung –

Bewahrten den Segen, wo er entsprungen.

Trotz ihrer Kräfte, all das zu wenden,

Hatten sie Donner und Blitz durchdrungen.

Sie suchten das Weite, Hals über Kopf,

Und wären ums Haar in den Abgrund gesprungen.


Weithin erkennbar das herrliche Haupt,

Hügel rundum wirken blöd-bescheiden.

Schwermut und Freud schluckt sein strenges Gesicht,

Nahliegend-Neues scheint fern-vorzeiten.

Auch Bürokraten, die kleinlich rechnen,

Wollen, doch können ihn nicht erreichen.

Späht man dort tief in das Kohlebecken[16]

Starr sucht der Blick, die Monster zu meiden!

Fische und Krabben, die finden sich leicht;

Wer wagt um Götternahrung zu streiten?

Löst in den Ästen des Walds sich das Laub,

Wollen Vögel es fallend erbeuten.

Rasch, um Kücken mit Resten zu füttern,

Fechten Schnäbel, im Flug sich umkreisend.[17]

Auf dem Heimweg schau ich zurück und seh’

Ihn emporsprießend kräftig sich breiten.[18]

Wahrhaftig, ist das nicht auch wunderlich?

Der Gipfel ändert sich stets bei Zeiten!

前年遭譴謫,

探歷得邂逅。

初從藍田入,

顧眄勞頸脰。

時天晦大雪,

淚目苦矇瞀。

峻塗拖長冰,

直上若懸溜。

褰衣步推馬,

顛蹶退且復。

蒼黃忘遐睎,

所矚纔左右。

杉篁咤蒲蘇,

杲耀攢介冑。

專心憶平道,

脫險逾避臭。

Jahre zuvor, degradiert und versetzt,

Tauchte er auf, als ich fortgezogen.

Anfangs von Blaufeld[19] her eingetreten:

Mühsame Umsicht – Nacken verbogen.

Finsterer Himmel und Schneegestöber;

Tränendes Aug, um die Sicht betrogen.

Bergpfade, schleppend lange, das Eis wie

Ein Zapfen, von der Traufe gezogen.

Den Mantel anhebend, zerrend das Roß –

Taumelnd zurück und voran geschoben.

Dunkelheit ließ vergessen das Weite,

Nur zu beachten: Unten und Oben.

Tannen und Bambus, so spitz wie Lanzen,

Mondschein wie übern Harnisch geflogen.

Alles, was zählte – ein gangbarer Weg;

Doch noch Klüften und Übeln enthoben!

昨來逢清霽,

宿願忻始副。

崢嶸躋冢頂,

倏閃雜鼯鼬。

前低劃開闊,

爛漫堆眾皺。

或連若相從,

或蹙若相鬭;

或妥若弭伏,

或竦若驚雊。

或散若瓦解。

或赴若輻湊。

或翩若船遊。

或決若馬驟。

或背若相惡。

或向若相佑。

或亂若抽筍。

或嵲若炷灸。

或錯若繪畫。

或繚若篆籀。

或羅若星離。

或蓊若雲逗。

或浮若波濤。

或碎若鋤耨。

或如賁育倫,

賭勝勇前購。

先強勢已出。

後鈍嗔䛠譳。

或如帝王尊。

叢集朝賤幼。

雖親不褻狎。

雖遠不悖謬。

或如臨食案,

肴核紛飣餖。

又如遊九原。

墳墓包槨柩。

或纍若盆甖。

或揭若㽅梪。

或覆若曝鱉。

或頹若寢獸。

或蜿若藏龍。

或翼若搏鷲。

或齊若友朋。

或隨若先後。

或迸若流落。

或顧若宿留。

或戾若仇讎。

或密若婚媾。

或儼若峨冠。

或翻若舞袖。

或屹若戰陣。

或圍若蒐狩。

或靡然東注。

或偃然北首。

或如火熺焰。

Gestern nun traf ich ihn heiter und klar,

Endlich bereit, wie seit langem begehrt.[20]

Stieg schon empor auf mächtigen Kämmen,

Flink, wie es sich für das Wiesel gehört.

Vor mir weithin sich streckende Gründe,

Vielfalt, durch die sich sein Abglanz vermehrt.


Bald sich verfolgend in dichten Reihen;

Bald voreinander buckelnd, wie im Streit.

Bald schicksalsergeben, wie beim Kotou;

Bald auffahrend, wie des Fasanen Schrei.

Bald, wie Radspeichen, eins in der Nabe;

Bald, wie Dachpfannen, aufgelöst, zerstreut.                      

Bald, wie schwebende Boote, auf der Fahrt;

Bald, wie schnaubende Rosse, kampfbereit.

Bald, wie einander den Rücken kehrend;

Wie zusammenstehend, bald, Seit an Seit.

Bald durcheinander schießend wie Bambus;

Bald zum Wundbrennen wie Wermut gehäuft.[21]

Bald kreuz und quer, wie Striche auf Seide;

Bald verschlungen, wie Siegelschrift verläuft.

Bald, wie sich träge die Wolken schieben;

Bald wie am Himmel die Sterne stehn, weit.

Bald, wie das Treiben der Wellen im Strom;

Bald, wie ein Acker durchs Hacken zerkeit.

Bald, wie Helden vom Schlag des Pen und Yu;

Für Siegesruhm ziehn die vor in den Streit.

Die Vordersten stürmen mit Macht schon an;

Die Hinteren noch ihr Abwarten reut.

Bald, wie Kaiser und Fürsten erhaben;

Um sie versammelt, die kleineren Leut.

Stets freundlich und nah, doch zudringlich nie;

Stets selbst dem Entferntesten zugeneigt.

Bald, wie vor der Tafel, festlich gerichtet,

Wo sich das Auge an Speisen erfreut.

Oder wie Wallfahrt ins Reich der Schatten,

Wo jeder Hügel seinen Sarg betreut.


Bald gehäuft, wie in Schüsseln, auf Platten;

Bald, wie in Schalen zum Opfer gebracht.

Bald deckelnd, Schildkröte, sich sonnend;

Bald kauernd, wie ein Wild, das nicht wacht.

Verschlungen bald, wie Drachen im Versteck;

Bald Schwingen des Kondors, der Beute macht.

Bald nebeneinander, wie Freunde stehn;

Rangweise bald, nach Geburt und Geschlecht.

Zerstiebend bald, wie besitzloses Volk;

Bald sorgend, auf Rast am Abend bedacht.

Bald wie grausam erbitterte Feinde;

Bald zärtlich-intim, wie zur Hochzeitsnacht.

Bald streng und gesetzt, wie höchste Ränge;

Bald flatternd im Fluge, wie Tanzender Tracht.

Bald gipfelnd, über Kriegsformationen;

Bald Beutewild, eingekreist auf der Jagd.

Bald leicht mithin gegen Osten fließend;

Das Haupt bald gen Nord zu Fall gebracht.[22]

Bald wie erleuchtet im flammenden Schein;

或若氣饙餾。

或行而不輟,

或遺而不收。

或斜而不倚,

或弛而不彀。

或赤若禿鬝,

或燻若柴槱。

或如龜坼兆,

或若卦分繇;

或前橫若剝,

或後斷若姤。

延延離又屬,

夬夬叛還遘。

喁喁魚闖萍,

落落月經宿;

誾誾樹墻垣,

巘巘架庫廄;

參參削劍戟,

煥煥銜瑩琇。

敷敷花披萼,

闟闟屋摧霤。

悠悠舒而安,

兀兀狂以狃。

超超出猶奔,

蠢蠢駭不懋。

Bald wie im Wasserdunst Reisspeise kocht.

Bald in Bewegung, die nirgendwo stoppt;

Sobald zum Schenken, statt Nehmen gedacht.

Bald schief überhängend, doch ohne Halt;

Gebogen bald, doch nicht zum Schuss gebraucht.

Bald nackt, wie Geschwüre im Haar am Kopf;[23]

Bald rauchend, wie Feuer nach einer Schlacht.

Bald wie Schildkrötenpanzerorakel;

Bald wie Schafgarben, weisend Schicksalsmacht.


Etliche weiter entfernt, doch vereint;

Etliche schroffer verkeilt, doch gefügt.

Lang sich ziehend, mal sich lassend, mal haltend;

Vielverästelt, mal rebellisch und mal vergnügt.

Fische, die blubbernd Plankton durchstoßen;

Mond, der die Konstellationen durchpflügt.

Solche, wie baumhohe Wälle, Mauern;

Solche, wie Dächer von Speichern, erhöht.

Manche gereiht, wie Klingen und Speere;


Mancher hält Jade im Mund, die da glüht.

Andre wie prächtig blühende Äste:

Andre wie Traufen, die Regen still biegt.

Viele, die heiter im Weiten  liegen;

Viele sind weder bezähmt noch besiegt.

Einige stürzen sich auf und davon;

Einige hadern, eschrocken-bemüht.

大哉立天地,

經紀肖營腠。

厥初孰開張?

僶俛誰勸侑?

創茲樸而巧,

戮力忍勞疚。

得非施斧斤?

無乃假詛咒?

鴻荒竟無傳,

功大莫酬僦。

嘗聞於祠官,

芬苾降歆齅。

斐然作歌詩,

惟用贊報酭。

Mächtig steht er vor Himmel und Erde;

Die sich durch ihn wie Haut an Fleisch schmiegen.[24]

Wer konnte derartiges entwerfen;

Wer die Gewalten dermaßen biegen?

Etwas zu schaffen, so schlicht und gekonnt;

Kräfte verbindend, daß sie sich fügen,

Braucht man die alles entscheidende Axt;

Fest entschlossen, daß Böse zu trügen.

Urzeiten, von denen niemand mehr spricht;

Großtaten, die nicht zum Ruhm genügen.

Doch man riecht bei den Priestern des Schreins

Düfte, die jenen Berggott vergnügen.

Also schrieb ich die künstlichen Verse

Nur des Lobs, der Dankbarkeit wegen.

Kommentar

[1] Die Wahl des Gattungsbegriffs Hymne soll das grundsätzliche Problem der Gattungsäquivalenz im Übergang von der sinitischen in eine dieser fremden, antik-europäisch geprägte poetische Tradition nicht verschleiern, sondern sichtbar werden lassen. Han Yus Verwendung des Schriftzeichens shi 詩 klingt hier an die sinitisch-antike Form der von Legge und Karlgren mit „odes“ übersetzten Verse des Shijing 詩經 an. Zugleich werden alle 204 Verse durch ein Fünfsilbenmetrum und das monolithische Reimschema xaxaxa gebunden. Formalisierte Strukturen wie die Sequenzen huo...ruo 或...若... (bald...wie...) (z. B. V. 117–134, 147–162) lassen den Rhythmus zwischen massiver und gelockerter Dichte variieren, was an den „rhapsodischen“ Stil der Fu-Dichtungen erinnert, die zu Zeiten Han Yus noch vorwiegend hymnischen Charakter hatten, also stärker nach einem gelobten Gegenstand ausgerichtet waren als auf die subjektive Erfahrung des Ichs. Letztere ist allerdings bei Han Yu von Beginn an bewusst in die Konzeption eingebunden (vgl. die von mir als „Prolog“ klassifizierten Verse 1–10). 

[2] Die Hauptstadt des Weltreiches der Tang, Chang’an (heute Xi’an), galt als das kosmopolitische Zentrum des Universums. Ihr Weichbild wird nach Süden durch das Zhongnangebirge sichtbar begrenzt. Die Küste des Gelben Meeres befand sich aber auch damals hunderte Kilometer östlich außerhalb jeder Reichweite der Sinne, während im Westen der Gansukorridor zwischen der Wüste Gobi im Norden und dem Kunlungebirge im Süden zum Qinghaiplateau führte, also im Sinne der modernen Geographie von „Meeren“ erst gar keine Rede sein konnte. Tatsächlich spielt Han Yus Lokalisierung auf die traditionelle Kartographierung der Welt an, die, auf der Fibel der Berge und Meereund der ihr hinzugefügten Karten basierend, das Tianxia (die dem Himmel untergebene Welt) in Gebirgs- und Meeresregionen teilt, die die Hauptstadt kreisförmig umgeben. (s. Anm. 3)

[3] Die Fibel der Berge und Ortschroniken kann hier sowohl wörtlich als auch als Sammelbezeichnung aller gelehrten Aufzeichnungen verstanden werden, in denen, nach dazumal üblichem Verständnis, geographischer, historischer und mythologischer Raum zu einem Bild der Erde als Projektionsfläche für literarisch produzierte Vorstellungen verschmolzen wurden. Hier und in den folgenden vier Versen wird suggeriert, dass derartige Darlegungen nur wenig vom Wahrheitsgehalt des persönlich bezeugten Landschaftserlebnisses zu ersetzen vermögen und dass das Folgende diesen Mangel beheben wird. 

[4] Es bleibt unklar, welcher Grabhügel gemeint ist, wohl aber ein Ort außerhalb der Stadtmauern, von dem aus man über die Ebene südlich davon in das Gebirge sehen konnte.

[5] Hier dürfte der Gipfel des Cuihua 翠華, der eine Höhe von gut 1.400 m. ü. M. erreicht, gemeint sein. Der höchste Gipfel des Südgebirges befindet sich an dessen Nordseite gerade gegenüber der Hauptstadt. Von dort aus sah man die Sonne im Zenit gerade über ihm stehen – ein Anblick von hoher symbolischer Kraft, die Macht der kaiserlichen Herrschaft an diesem Ort suggerierend. Das mag ein Grund dafür sein, warum der Berggipfel im Gedicht zwar ohne Zweifel gemeint ist, jedoch unbenannt bleibt, wie ja auch der Name des Kaisers tabuisiert war.

[6] Der Ausdruck shan mei 山眉, „Bergbrauen“, war in der Dichtung der Tang ein geläufiger, bildlicher Ausdruck, in dem der Landschaft Attribute weiblicher Schönheit zugesagt werden: Der Berg, als Symbol einer ragenden, also männlich-erhabenen Schönheit, nimmt unter der ihn unendlich übersteigenden Himmelswölbung den Ausdruck sich ergebender Schönheit an. Landschafts- und Naturbeobachtungen derart in die Ästhetik der Geschlechterrollen einzulesen und dabei zugleich das Moment der Wandlung und Wandelbarkeit jeder Wahrnehmung erfahrbar zu machen, gehörte zu den Neuigkeiten in der Kunst der Tanglyrik.

[7] Der Vogel Rok, peng 鵬, ist ein mythisches Wesen, das im Zhuangzi oder Huainanzi aus der Transformation des Meerungeheuers kun 鯤 beim Übergang aus der Tiefe in die Himmelsweiten entsteht. Der Urweltmythos scheint die Entstehung des festen Landes aus formlos-fließenden Elementargewalten als Boden des Menschseins zwischen Unterwelt und Himmel zu skizzieren.

[8] In dieser Strophe wird der Gedanke der Transformation aus der Mythologie in die Naturanschauung vor Ort verpflanzt. Das Zhongnangebirge vereint in sich die Macht des kosmischen Dao – der bewegenden, selbst unveränderten Kraft.

[9] Der Weißeste Gipfel, tai bai feng 太白山, befindet sich gut hundert Kilometer west-südwestlich der Hauptstadt und überragt mit über 3.700 Metern bei Weitem die Gipfel und Grate der Zhongnankette. Diese liegt als Ausläufer des mächtigen Qinlinggebirges, das die Wassersysteme des Gelben Flusses und des Jangtsekiang (also Nord- und Südchinas) trennt, im unmittelbaren Nahbereich des kosmopolitischen Zentrums. Der Weißeste Gipfel repräsentiert in dieser Raumkonstruktion die Sphäre des Göttlichen, die Menschen unerreichbar bleibt, während die Zhongnankette als Schwellbereich fungiert, in dem menschliche und göttliche Wege sich begegnen.

[10] Gemeint ist der Nordosten des Berges, der hier eine Grabstätte zu beschirmen scheint, die sich demnach südwestlich der Hauptstadt im Zhongnan befunden haben dürfte. Die Kaisergräber der Tang liegen sämtlich nördlich des Weihe-Flusses, können also hier nicht gemeint sein.

[11] Nach Regeln der klassischen Geomantik müsste sich ein Schutz vor bösen Geistern und schädlichem Qi bietender Berg im Norden des Ortes befinden. Han Yu weicht der Diskrepanz zwischen Ideal und Realität in seinem Landschaftsentwurf keineswegs aus, sondern wertet sie geschickt um. Dank der göttlichen Macht des Berges bleibt die Hauptstadt von „sengender Sonne“, also vor einem Übermaß an Yang-Energie, verschont.

[12] Das Große Kunmingbecken, kunming da chi 昆明大池, war ein großer, aus mehreren Zuflüssen des Weihestromes gespeister, künstlicher Speichersee, auf dem bereits seit der Han-Zeit (206 v. u. Z.–220 n. u. Z.) Fischerei und Flottenmanöver stattfanden, aber auch festliche Bootspartien der Hauptstadtelite unternommen wurde. Der Speichersee und die auf ihm veranstalteten Unternehmungen wurden oft poetisch beschrieben. Dabei ersetzte das Gewässer nach konventioneller Vorstellung den allzu weit entfernten Ozean als landschaftlich-kosmologischer Gegenpol zur statischen Macht des Hochgebirges. Aus solcher „Tiefe“ würde sich auch der Vogel Rok, mit dem Schnabel gen Himmel, erhoben haben, um dabei die Gipfel der Zhongnankette über den Horizont zu zeichnen.

[13] Während die Konturen des Gebirges widerspiegelnde Wasserfläche von Windböen aufgeborstet wird und die anfängliche Klarheit des Bildes in dessen Zerfall sich trübt, bleibt der unmittelbare Anblick des Gebirges davon unberührt.

[14] Hier wird erstmals ein Ausflug in das Gebirge skizziert: In den Vorhügeln trifft man auf eine in diese eingebettete Gräberstätte, deren Totenaura den Reichtum der Welt jenseits der Hügel zwar nur umso beglückender erscheinen lässt, über die hinaus tiefer in das Gebirge, die Welt der (Toten-) Geister und der Unsterblichen, zu gelangen aber selbst der Pfad, dünner und unüberschaubarer werdend, zu zögern scheint.

[15] Geisterriese, ju ling 巨靈, und Prahlende Motte, kua e 誇蛾,sind titanengleiche Götterwesen der altchinesischen Mythologie, die mit ihren Kräften wortwörtlich „Berge versetzt“ und damit Flüssen – ebenfalls Naturgottheiten – die Wege gebahnt haben sollen. Wie die folgende Ausführung zeigt, stehen sie für Schicksalsmächte, die in der Gebirgslandschaft ahnbar werden. Allerdings scheinen sie trotz ihrer übernatürlichen Kräfte eher den profanen Absichten von Händlern dienstbar, also jener Volksschicht, die im traditionellen Weltbild eines Literaten der Tangzeit lediglich Untugenden wie Gewinnsucht und Eigennutz verkörperte. Die Ironie, die Han Yu hier anschließend in seinen poetischen Entwurf einer heiligen Berglandschaft einfließen lässt und somit dessen subjektiven Schattierungen intensiviert, ist darum bemerkenswert.

[16] Der Verstext spricht nur von einem „Becken“ bzw. „Teich“, qiu 湫, den Han Yu jedoch in einem anderen Gedicht unter dem Titel „Auf den Schrein am Kohletalbecken“, ti tanguqiu ci 題碳谷湫祠, ausdrücklich benennt.

[17] Fische und Krabben gelten als Nahrung der Berggötter, Vögel als deren Boten für den Verkehr mit den in den Tälern hausenden Menschen. Der Wanderer wagt nicht, erstere anzurühren, während die Wildheit der letzteren ihn in der Tiefe des Gebirges endgültig scheu werden lässt.

[18] Erst auf dem Rückweg und aus der Distanz gewinnt der Berg wiederum die Gestalt, in der er verehrt werden kann. Diese Passage mag das Verhältnis Han Yus zum kaiserlichen Hof (dem Gebirge) andeuten, an dem er auf mittlerer Ebene und ohne direkten Einfluss auf die politischen Entscheidungen, auch ohne wesentlichen Anteil an den Ränken zwischen Beamtenfraktionen Dienst tat. Mit anderen Worten, loyal zu sein scheint ihm nur aus angemessener Distanz auch real möglich.

[19] Der Ortsname Blaufeld, Lantian 藍田, verweist auf eine konkrete Ortschaft und den ihr naheliegenden Gebirgspass, über welchen der Weg von Chang’an südwärts nach der Provinzhauptstadt Xiangyang führte und weiter über den Han-Fluss zu den sich verzweigenden Hauptverkehrsrouten gen Süden und Südosten. Han Yu war in den Jahren 803, 804 und 805, also unmittelbar vor seiner Niederschrift des Gedichtes, mehrfach im Südgebirge unterwegs gewesen. 804 hatte er, infolge einer Degradierung, auf dem Weg zu einem Provinzposten im Süden den Weg über Lantian gewählt. Der hier durch Reimlaut gebundene Abschnitt zeichnet sowohl ein Bild der Landschaft um den Pass als auch seines damaligen Geisteszustands.

[20] Mit Gestern, zuo 昨, wird wohl von der Erinnerung an die zurückliegende Krise in den gegenwärtigen Zeitraum übergeleitet. Schon 805 wurde Han Yu zurück in die Hauptstadt berufen, um dort den Tutorenposten anzutreten. Die damit verbundene Hoffnung, von nun an aus persönlicher Nähe, aber in sicherer Distanz zu Machtkämpfen und Ränkespielen am Hofleben teilnehmen zu können, lässt sich als Leitmotiv des gesamten Gedichtes begreifen. In den vormals jede physisch-geistige Annäherung streng zurückweisenden Höhenlagen des Gebirges bewegt sich das „lyrische Ich“ nunmehr flink, wie es sich für das Wiesel gehört. Die Metaphern, die von dieser an bis zur vorletzten Reimgruppe der Übersetzung massiv gehäuft werden, suggerieren ein unerschöpfliches Potential teils gegensätzlicher, teils miteinander harmonierender Wirkweisen. Aus sich jeweils verschiebender Perspektive schreibt sich so ein dramatisches Weltgeschehen in die Erd- und Felsformationen des Gebirges und deren phänomenologische Nuancen ein. Zwischen fern und nah, hell und dunkel, klar und trüb, schnell und langsam, erbittert-grausam und zärtlich intim, flüchtig-präzisen Pinselschwüngen auf Seidenpapier und allmählich wie Wurmfraß in hartes Holz getriebener Siegelschrift, Geschwüren im Haupthaar und Feuern nach einer Schlacht, einer mit Speisen überhäuften Festtafel und Grabhügeln als Metropole von Totengeistern scheint sich eine Welt ohne Anfang und Ende, ein Sein ohne eigentliche Form zu entfalten. Eine gründliche Erforschung der im Folgenden in den Versen 117–190 übereinander geschichteten Bilder und eine Analyse der Auswahl erforderten eine Untersuchung eigener Art.

[21] Wermut (Moxa), bzw. „Beifuß“, zu Pulver verarbeitet, wird bei der Moxibustion über Ingwerscheiben, die auf die Therapiestellen gelegt sind, angehäuft, um nach dem Entzünden dort langsam zu verglimmen. Im Gegensatz zu den wie Pfeilen durcheinander schießenden Bambuszweigen evoziert dieses Bild Ruhe und Vertrauen. Es ist wie schon weiter oben abermals ein Bild, das die „Bergwelt“ als ursprünglich landschaftlichen Gegenstand hinter sich lässt und zur Anschauung des menschlichen Körpers übergeht. Bald darauf wird das ursprüngliche Gefüge restauriert, die Ersetzung wird jedoch auch weiter unten erneut vorgenommen.

[22] Von Nord nach Süd daliegend, wie eine Leiche, erscheinen manche Bergzüge wiederum in Gestalt (toter) menschlicher Körper.

[23] Auch hier ist die Projektion der erkrankten Kopfhaut in den Landschaftsraum bewaldeter Berge, unter denen nur ein paar „nackte“ Gipfel hervorragen, ästhetisch befremdlich. Dass Fremdheit besonders mit Bezug auf die fantastische Übertragung menschlich-körperlicher Formen bzw. Deformationen in die Gebirgslandschaft zu Bewusstsein gebracht wird, ist natürlich kein Zufall.

[24] Noch im hymnischen Gestus abschließend, findet sich die Stimme in einer Reflexion der mystischen Erfahrung der Bergwelt wieder bei sich selbst bzw. auf dem Standpunkt eines Subjekts ein. Die Exaltiertheit nimmt Vers für Vers ab. Die Frage nach einem Sinn hinter dem Wirken der Urgewalten findet mit dem alleinigen Hinweis auf den entscheidenden Axthieb und die List, die den bösen Fluch des Erdenschicksals betrügt und überwältigt, keine logische Antwort. Nur die in den vorangegangenen Versen gebannte, dichterische Erkenntnis kann, in Form eines Opfers an den Gott des Berges, die Wahrheit bezeugen. 

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