Meng Jiao 孟郊 (751-814)
Unterwegs im Zhongnangebirge 遊終南山
Übersetzung:
南山塞天地,
日月石上生。
高峯夜留景,
深谷晝未明。
山中人自正,
路險心亦平。
長風驅松柏,
聲拂萬壑清。
即此悔讀書,
朝朝近浮名。
Südbergland versperrt Himmel und Erde;
Die Sonne, den Mond gebiert dort der Stein.
An höchsten Gipfeln bei Nacht hält sich Glanz;
In tiefste Schluchten kein Taglicht dringt ein.
In Bergen ein Mensch richtet selbst sich auf;
Wegenge macht dort die Seele recht weit.
Wind, weither, jagt durch Kiefern, Zypressen;
Tosend, fegt zehntausend Abgründe rein.
Erst hier lässt man reuig das Bücherlesen,
Um täglichem Namensschwund näher zu sein.
Kommentar
David Hinton charaketrisiert Meng Jiaos Schreibweise und seine Autorenpersönlichkeit wie folgt: „Meng developed a new poetics of startling disorientations. ... Meng’s later work employs quasi-surreal and symbolist techniques, extending the dark extremities of Tu Fu’s late work into a radically new poetry of bleak introspection. … There is a black side to the profound sense of dwelling that grounds in Chinese culture, and Meng Jiao is perhaps its consummate poetic master. Our belonging to earth’s resources has always been the primary source of spiritual affirmation in China’s Taoist/Ch’an intellectual culture, but it also means belonging to the consuming forces that drive those processes. In an intellectual culture that found a meditative serenity in the emptiness of absence…Meng was a dissenting voice.“ (Classical Chinese poetry, 2010, S. 237-38)
Als Zeitgenosse Han Yus sind seine dem Zhongnangebirge, das sich ca. 40 km südlich der einstige Hauptstadt Chang'an befindet, gewidmeten Verse deutlicher von den Verstörungen gekennzeichnet, die sich zu Beginn des neunten Jahrhunderts in das Bewußtsein vieler Literaten eingeschlichen hatten, von heftigen, in die Extreme ausschlagenden Unstimmigkeiten in dem für die Literateneliten so existentiellen Verhältnis von Persönlichkeit und Macht. Die eine kann sich ohne die andere nicht dauerhaft halten, doch keine der beiden Komplimentaritäten scheint der anderen zumutbar. Dieser Zustand überträgt sich poetisch-intuitiv auf die Landschaft, die so nicht nur beschrieben, sondern auch als Gestalt einer Innenwelt erschaffen wird.
Der mit "Namensschwund" übersetze Ausdruck 浮名 meint sowohl den Namen als auch den öffentlichen Rang, den eine Person innehaben konnte.