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In-Über: Das leibseelische Verhältnis bei Meister Eckhart

Was bedeutet „In-Über“? Lassen wir auf einem Möbius-Band (siehe Bild) eine Ameise laufen, werden wir sofort sehen, dass sie in und über ist, innen und außen, oben und unten.

Jede:r kann im Nu ein Möbius-Band fertigen, indem man ein längliches Stück Papier schneidet und bei einer 180º Drehung eines Endes die beiden Enden zu einem Band zusammenklebt. Die undefinierbare Fläche des Bandes, das nur eine Kante und eine Seite hat, bringt das Verhältnis von Leib und Seele in den Werken Eckharts am besten zum Ausdruck.

Möbiusstrip

Die Relation des „In-Über" lässt sich anfangs nicht auf etwas Bestimmtes eingrenzen. Das „In-Über“ als formale Struktur innerhalb der Metaphysik lässt sich auf die schöpferische Dynamik zwischen Sein und Werden übertragen.

Das „In-Über“ ist offensichtlich durch Erich Przywara in Analogia Entis zu einem spezifisch philosophischen Begriff geworden. Der Ursprung des „In-Über“ liegt jedoch weiter zurück. Vor ca. 2500 Jahren wurden die Pilger an einer Säule des Apollotempels von Delphi aufgefordert: „Erkenne Dich selbst“ oder „Erkenne, was Du bist.“ Der antike Dichter Pindar gab seinen Leser:innen in seinem Werk „Epinikia“ einen ähnlichen Rat: „Werde, der Du bist.“ Damit wird nicht nur die Unvollkommenheit des menschlichen Daseins gezeigt, sondern auch die Möglichkeit der Überwindung der Begrenztheit.

Diese kreative Bewegung der Relation „In-Über“ zieht sich wie ein roter Faden durch die Werke von Meister Eckhart. Auch wenn er auf die genannte Struktur nicht explizit hinweist, kommen diese Momente im Denken in Paradoxien vor, was eine bevorzugte Methode Eckharts ist: Einheit in der Unterschiedenheit. Das „In-Über“ ist in der Erkenntnistheorie, die Eckhart von Aristoteles übernommen und weiterentwickelt hat, in der negativen Theologie, die gegenüber affirmativer Theologie als angemessenere Rede über Gott zu betrachten ist, sowie in dem Einheitsbegriff und nicht zuletzt in der Schöpfungslehre zu verorten. All diese Bereiche dienen als Fundament des Verhältnisses von Leib-Seele-Geist, denn der Ort des „In-Über“ ist in all seinen Facetten der Mensch selbst.

Forschungsanliegen

Das Denken in Paradoxien lässt den Menschen an der ursprünglichen gottgegebenen Freiheit teilhaben und befreit ihn von den besonders in den letzten Jahrzehnten in der Form eingeschlichen dualistischen Konzeptionen. Moderne Gesellschaften sind vom Streben nach Autonomie gekennzeichnet, die den Menschen von seinem biologischen „Korsett befreien“ und ihn in die individuelle Lebensgestaltung einzwängen wollen. Diejenigen, die z.B. eine Depersonalisationskrise erleben und einer Begleitung in ihrer Identitätsentwicklung bedürfen, werden Opfer hemmungsloser Fortschrittsprophetien. Eine leibfeindliche Auffassung verneint die Einheit von Leib und Seele und führt zu einer Dichotomie, bzw. Trichotomie der menschlichen Person als Ebenbild des Schöpfers. Die personale Würde allein am individuellen Willen festzumachen und die anderen seelischen Potenzen wie memoria oder intellectus auszuklammern, treibt den Menschen in große Abhängigkeiten, die ihn unterdrücken oder versklaven. Die eigene Biographie ist demzufolge durch Risse gekennzeichnet, indem man mit der Vergangenheit unversöhnt, in der Gegenwart zerstreut und in der Zukunft orientierungslos bleibt. Die Verteidigung der leibseelischen Einheit in der Relation des „In-Über“, wie sie in den Werken von Meister Eckhart zu finden ist, schützt den Menschen vor Machtbarkeitsphantasien und Selbstvergötzung.

Forschungsfragen

  • Wie kann die Einheit von Leib, Seele und Geist anhand von Eckharts Paradoxien dargestellt werden?
  • Wo finden sich die formalen Strukturen des „In-Über“ in den Werken Eckharts?
  • Welche Rolle spielen „Abgeschiedenheit“ und „Gelassenheit“ im Prozess der Selbsterkenntnis?
  • Welche Chancen bleiben ungenutzt bei Verzicht (mhd. lëdic) alles Sinnlich-Kreatürlichen in der Biographie eines Menschen?
  • Welchen Beitrag kann Eckhart in der Debatte um das transhumanistische Menschenbild leisten?

Forschungsmethode 

Quellenarbeit mit Einblicken in die Sekundärliteratur der aktuellen Eckhartforschung und der modernen Anthropologie. 

Primärquellen

DW | Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke, hrsg. im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Abt. I: Die deutschen Werke, hrsg.  v. Josef Quint, Stuttgart 1936f.

LW | Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke, hrsg. im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Abt. II: Die lateinischen Werke, hrsg. v. J. Koch, H. Fischer, K. Weiss, K. Christ, B. Decker, A. Zimmermann, B. Geyer, E. Benz, E. Seeberg und L. Sturlese, Stuttgart 1936f.

Betreuer: Univ.-Prof. Dr. Johannes Hoff, MA

Institut für Systematische Theologie

Doktorand: Mag. Ioan Budulai

Ioan.Budulai(at)student.uibk.ac.at

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