Kurz gefasste Geschichte des Instituts für Psychologie an der Universität Innsbruck (1896-1993/2000)
Pierre Sachse* & Peter Goller**
* Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, Institut für Psychologie
** Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, Universitätsarchiv
Sachse, P. & Goller, P. (2019). Kurz gefasste Geschichte des Instituts für Psychologie an der Universität Innsbruck (1896-1993/2000). In A. Stock & W. Schneider (Hrsg.), Die ersten Institute für Psychologie im deutschsprachigen Raum. Ihre Geschichte von der Entstehung bis zur Gegenwart (S. 201-232). Hogrefe.
Franz Hillebrands Innsbrucker Institutsgründung (1897)
Mit ministeriellem Beschluss vom 19. Februar 1897 wurde die Errichtung eines Institutes für Experimentelle Psychologie an der Universität Innsbruck „im Princip“ genehmigt; am 9. Juli 1897 wurden für das Folgejahr 1500 Gulden für die Ersteinrichtung des Institutes (wissenschaftliche Apparate und Bücher) sowie als Jahresdotation dreimal jährlich 200 Gulden durch das Ministerium für Cultus und Unterricht in Wien versprochen. Als Initiator der Institutsgründung und als erster Lehrstuhlinhaber fungierte Franz Hillebrand (1863-1926) (Akademischen Senat der k.k. Universität Innsbruck, 1899; vgl. ferner Oberkofler, 1971). Zuvor ist bereits in Graz (1894) die erste experimentalpsychologische Forschungsstätte an einer österreichischen Universität durch Alexius Meinong (1853-1920) gegründet worden (Mittenecker & Seybold, 1994). Sowohl Meinong als auch Hillebrand waren Schüler des Philosophen Franz Brentano (1838-1917).
Eine erste provisorische Unterkunft fand Hillebrands Institut in einem Souterrainzimmer (Nr. 67) des Innsbrucker Stadtspitals in unmittelbarer räumlicher Nachbarschaft zur Augenklinik. Hillebrand hatte bereits wenige Monate nach seiner Berufung im Juli 1896 mit Unterstützung des Senats der Universität Innsbruck das Ministerium um drei größere Räume möglichst in der Nähe des seinen Forschungen nahe stehenden Physiologischen Institutes ersucht, nicht zuletzt da er engen Kontakt zu den an der Medizinischen Fakultät angesiedelten Physiologie-Professoren, so zu Oskar Zoth (1904 nach Graz zurück berufen), dann zu Franz Bruno Hofmann (1909 nach Prag weiter berufen), Wilhelm Trendelenburg (1916 nach Gießen wegberufen) oder Ernst Theodor Brücke (ab 1916 bis zu seiner Vertreibung durch das NS-Regime 1938 in Innsbruck lehrend) pflegen wollte. Mit Hofmann und Brücke teilte Hillebrand zudem den gemeinsamen Prager bzw. Leipziger Lehrer Ewald Hering (UAI Sonderfaszikel Bauten, 1896).
Im Herbst 1904 konnte Hillebrand endlich die neuen Räumlichkeiten im Neubau des Physiologisch-physikalisch-hygienischen Instituts in der Schöpfstraße 41 in Innsbruck beziehen, damals am Stadtrand gelegen, sodass sich hinter dem Gebäude noch die Wiltener Wiesen und Maisfelder ausdehnten (Huter, 1969). Sieben Jahre nach der Institutsgründung musste Hillebrand aber immer noch fordern: „Die Beschaffung jenes Minimums an wissenschaftlichem Inventare, ohne welches ein derartiges Institut … nicht functionieren kann, war bisher unmöglich, einerseits wegen zu geringer Geldmittel, anderseits darum, weil der ohnehin viel zu beschränkte Raum im Spital sich als so hochgradig feucht erwies, daß der Unterzeichnete um sein kärgliches Instrumentarium vor dem Zugrundegehen durch Rost zu schützen, sich genötigt sah, dasselbe zeitweilig in anderen Instituten unterzubringen ... Das Laboratorium entbehrt einer Reihe von Instrumenten, die ständig benötigt werden: so fehlen Instrumente für Zeitmessungen und die dazugehörigen Hilfsapparate; es fehlen eine Elementen- bzw. Accumulatorenanlage, Inductorien, Schalt- und Contactapparate etc. Außerdem sind gewisse, u. zw. etwas kostspieligere Ergänzungen der Bibliothek ganz unentbehrlich: so die Neuanschaffung der ersten 18 Bände der Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane und der Wundt’schen ‚Studien‘ (21 Bände) [1] etc.“ (zitiert nach Schweinhammer, 1995). Die schwierige Lage Hillebrands wird auch aus einem Brief an Alexius Meinong von 1904 ersichtlich: „Das Arbeiten scheitert an pecuniären Kleinigkeiten, so z.B. daran, daß mir kein Diener bzw. eine equivalente Hilfskraft bewilligt wird. Ich bin es satt mich mit derartigen Widerwärtigkeiten herumzubalgen und habe daher ein Ultimatum gestellt“ (UBG, Nachlass Alexius Meinong, XLI, Nr. 1855). Ferner musste Hillebrand zur Vorbereitung seiner experimentellen Studien und Publikationen beispielsweise eigens an die Universitätsbibliothek nach Wien reisen, da die Innsbrucker fachspezifische Büchersammlung seinerzeit noch völlig unzureichend war. Erst die Bewilligung einer außerordentlichen Dotation für die Jahre 1906 bis 1908 entspannte die Situation für das psychologische Institut in Innsbruck merklich (nach Schweinhammer, 1995).
Die knapp umrissene Gründungsphase des Institutes beanspruchte beachtliche Leistungskraft und Zeitressourcen des Lehrstuhlinhabers; auch persönlich zahlte Hillebrand für den anfänglich missliebigen Arbeitsort anhaltend einen hohen Preis: „In dem feuchten und ungeheizten Raum zog er sich eine schwere Gelenkserkrankung zu“ (Oberkofler, 1971, S. 167). Noch kurz vor seinem Tod 1926 musste Hillebrand inmitten einer verschärften Krise der österreichischen Universitätsfinanzierung infolge der "Genfer Währungssanierung und Sparpolitik" klagen, dass er sämtliche Schulden bei den Buchhändlern privat begleichen musste, da er "die beiden wichtigsten psychologischen Zeitschriften, die ich seit Beginn ihres Erscheinens halte, nicht aufgeben und damit die ganze Serie entwerten wollte". Der Institutsbetrieb kommt – so Hillebrand am 9. Oktober 1925 – wegen ausstehender Reparaturen und fehlender Geräte, so eines "Centrifugalregulators für exacte Zeitmessungen", zum Erliegen. Viele Forschungsinstitute der Universität Innsbruck versuchten in den 1920er Jahren ihren Betrieb mithilfe dubioser Einnahmen aus kommerziellen Ehrendoktoraten aufrecht zu erhalten. Dies brachte der Universität Innsbruck den zweifelhaften Ruf einer "Doktorenfabrik" ein, weshalb Hillebrand notiert: "Dann aber bin ich bei meiner unbedingt ablehnenden Haltung gegenüber der seit einigen Jahren eingerissenen Praxis der Ehrendoktoratsverleihungen folgerichtig auch außer Stande an den aus dieser Praxis erwachsenden materiellen Vorteilen zu participieren." Am 18. Jänner 1926 hielt Hillebrand noch einmal fest: "Ein experimentelles Institut, dem die nötigsten Zeitschriften fehlen und das auch keine Apparaturen herzustellen imstande ist, kann man nur dem Namen nach weiterbestehen lassen, um den äußeren Schein wissenschaftlichen Lebens aufrecht zu erhalten. An einer derartigen Spiegelfechterei mich mitschuldig zu machen, bin ich nicht in der Lage." Nachdem das Wiener Unterrichtsministerium nach fast zweijährigem Schweigen im Jänner 1926 überraschend "einen einmaligen Dotationszuschuss von 500 S[chilling] bewilligt" hatte, erklärte sich Hillebrand doch bereit, das Institut weiter zu leiten (UAI, Ehrungsakten, Ehrenmitgliedschaftsakt für den preußischen Staatsminister Friedrich Schmidt-Ott, Präsident der deutschen Forschungsgemeinschaft, Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft 1930).
Hillebrand hätte noch viel umfassender forschen und publizieren können, wäre ihm ein gut ausgerüstetes psychologisches Laboratorium, so etwa wie jenes hervorragend ausgestattete Institut der Universität München zur Verfügung gestanden. Nicht zufällig war er deshalb 1910 daran interessiert, auf eine vakante philosophisch-psychologische Lehrkanzel nach München zu wechseln, auf die schlussendlich 1913 Oswald Külpe berufen werden sollte [2]. Vor allem Franz Brentano und Ernst Mach haben diesen Plan unterstützt. Brentano forderte Hillebrand auf, eine philosophisch erkenntnistheoretische Studie vorzubereiten, wenn möglich – was Hillebrand allerdings wohl schwer fallen dürfte – sogar vom Standpunkt des „Theisten“ aus. Eine solche Studie sollte Vorbehalte gegen eine zu enge experimentalpsychologische Ausrichtung Hillebrands zerstreuen. Brentano bereitete in München für Hillebrand auch das politische Umfeld auf. Brentano schrieb mehrmals an den ihm familiär verbundenen einflussreichen katholischen Zentrumspolitiker Georg Hertling: Hillebrand sei kein „Monist“ oder Evolutionist wie etwa Friedrich Jodl. Er könne also von der katholischen Universitätsfraktion in München akzeptiert werden. Um liberalen Widerstand hintanzuhalten, hat Brentano andererseits – so berichtet er in seinen Briefen an Hillebrand – auch deutlich gemacht, dass dieser aber auch kein „romtreuer Ultramontaner“ sei (Brentano, 1988; UAI, Nachlass Franziska Mayer-Hillebrand).
Die folgenden Kapitel widmen sich chronologisch den Hauptakteuren des Innsbrucker Institutes, reichend von Franz Hillebrand 1896 bis zu Theodor Erismann, Ivo Kohler und hin zur Emeritierung von Dieter Klebelsberg (1993) und Manfred Ritter (2000).
Franz Hillebrand (1896-1926)
Franz Hillebrand (1863 in Wien geboren, 1926 in Innsbruck verstorben) war ein österreichischer Beamtensohn. Sein gleichnamiger Vater Franz Hillebrand war „k.k. Bergrath“. Von 1873 bis 1881 besuchte der junge Hillebrand das Gymnasium Kremsmünster (Oberösterreich). Im Wintersemester 1881/82 nahm Hillebrand an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien das Studium auf und belegte im ersten Semester Vorlesungen u.a. bei den Philosophen Franz Brentano und Robert Zimmermann, sowie bei den Klassischen Philologen Theodor Gomperz und Wilhelm Hartel. Kurz überlegte Hillebrand auch, ob er die musikalischen Übungen bei Anton Bruckner, damals auch Wiener Universitätslektor, besuchen soll, hat aber dann – wie eine Streichung in seinem Inskriptionsblatt zeigt – darauf verzichtet.
In Wien gehörte Hillebrand dem engeren Schülerkreis Franz Brentanos an. Dieser empfahl Hillebrand, seine Studien in Prag bei Anton Marty (1847-1914) abzuschließen, da er als Privatdozent weder Dissertationen noch Rigorosen abnehmen konnte. [3] Marty war ebenfalls ein Schüler Brentanos aus dessen Würzburger Zeit und hatte 1875 bei Hermann Lotze (1817-1881) promoviert. Im Jahr 1886 übersiedelte Hillebrand an die deutsche Universität in Prag. Marty vermittelte Hillebrand nicht nur die Philosophie Brentanos, sondern gewährte ihm auch in seinem bescheidenen Laboratorium („Kabinett“) einen ersten Zugang zur experimentellen Psychologie. Hillebrand wurde im Februar 1887 mit einer Dissertation über „Synechologische Probleme der Scholastik“ zum Doktor der Philosophie promoviert. Seine postgraduale Prager Studienzeit erwies sich für ihn auch insofern als prägend, wurde Hillebrand doch vor Ort maßgeblich durch den Physiologen Ewald Hering (1843-1918) und den Physiker Ernst Mach (1838-1916) in die experimentelle Forschung eingeführt. Im Jahr 1889 erschien sodann Hillebrands erste wahrnehmungspsychologische Veröffentlichung „Über die specifische Helligkeit der Farben – Beiträge zur Psychologie der Gesichtsempfindungen“, [4] die von Hering geschätzt wurde: „Da die Psychologen noch nicht lange die experimentelle Forschungsmethode in Anwendung gebracht haben, so ist es nicht schwer, … das besonders Werthvolle auszusondern. Hierzu zähle ich auch die Abhandlungen Franz Hillebrands … Zu diesem meinem Urtheil bestimmt mich insbesondere die klare und umsichtige Problemstellung, mit welcher Hillebrand seine Untersuchungen einleitet, die gewissenhafte und saubere Durchführung der Experimente, die unbefangene und objektive Deutung der Versuchsergebnisse und die logische Reinlichkeit seiner Deductionen … Ich glaube die Erwartung aussprechen zu dürfen, daß die experimentelle Psychologie ihm noch manchen Fortschritt zu danken haben wird“ (nach Schweinhammer, 1995). Hillebrand habilitierte sich 1891 an der Universität Wien mit einer philosophischen Arbeit über „Die neuen Theorien der kategorischen Schlüsse“, welche zu Recht als von Brentano beeinflusst gilt. Die Probevorlesung Hillebrands war im Juli 1891 hingegen bereits einem experimentalpsychologischen Thema gewidmet: „Die Adaption als allgemeine Beziehung zwischen Reiz und Empfindung“. Bis 1894 war Hillebrand als Privatdozent für Philosophie an der Universität Wien tätig. Im Juni 1894 wurde er ebenda zum außerordentlichen Professor der Philosophie unter besonderer Berücksichtigung der experimentellen Psychologie ernannt.
Am 11. Juli 1896 wurde Hillebrand mit kaiserlicher Entschließung nach Tirol berufen: „Ich ernenne den außerordentlichen Professor der Philosophie an der Universität Wien, Dr. Franz Hillebrand, zum ordentlichen Professor der Philosophie an der Universität in Innsbruck mit den systemmäßigen Bezügen und zwar mit Rechtswirksamkeit vom 1. Oktober 1896“ (OeStA, Allgemeines Verwaltungsarchiv, Ministerium für Cultus und Unterricht, 17550/1896). Die Philosophische Fakultät der Universität Innsbruck hatte sich bewusst für einen Philosophen mit experimentalpsychologischer Qualifikation entschieden. Hillebrand nachgereiht waren der u.a. wegen seiner Arbeit „Über Gestaltqualitäten“ (1890) schon sehr verdiente Christian von Ehrenfels (1859-1932) und der Aristoteles-Experte Emil Arleth (1856-1909). Als Hillebrands tätige Unterstützer bis zur Wegmarke Innsbruck gelten Franz Brentano, Ewald Hering [5] und Carl Stumpf (vgl. Oberkofler, 1971). Die am 19. Oktober 1896 von Hillebrand gehaltene Antrittsvorlesung über „Die experimentelle Psychologie, ihre Entstehung und ihre Aufgaben“ (UAI Nachlass Franz Hillebrand) [6] kann als ein Schlüsseldokument für die Periode der endgültigen Loslösung der Psychologie aus dem Verbund der „reinen“ Philosophie gesehen werden. Widmete sich Hillebrand in seinen zyklisch wiederholten Hauptvorlesungen anfänglich noch verschiedenen philosophischen Teilgebieten und der „allgemeinen Psychologie“, so zog er sich nach der Innsbruck-Berufung der Brentano-Schüler Emil Arleth (1905 bis 1909 in Innsbruck lehrend) und Alfred Kastil (von 1909 bis 1934 in Innsbruck) auf die zweite philosophische Professur aus dem „rein“ philosophischen Lehrbetrieb weitgehend zurück. Sein Spezialkolleg kündigte er nun fortwährend als „Konservatorium über neuere Erscheinungen aus dem Gebiete der Psychologie“ an (Gatterer, Goller & Sachse, 2018).
Im April 1910 fand der von Hillebrand leitend organisierte „IV. Kongreß für experimentelle Psychologie“ in Innsbruck statt. Das Programm umfasste dreiunddreißig hoch qualifizierte Fachvorträge nebst einer wissenschaftlichen Aussprache der prominenten Kongressteilnehmer, eine wissenschaftliche Apparateausstellung (sowie einen gemeinsamen Ausflug nach Fulpmes im Stubaital). [7] „Das hiesige psychologische Institut in seinen sehr bescheidenen Anfängen war es wohl kaum, das Ihren Blick auf Innsbruck gelenkt hat“, so Hillebrands ironischer Hinweis auf seine schwierigen Aufbaujahre in der Begrüßungsrede (Schumann, 1911, XIII). Hillebrands Innsbrucker Forschungen und seine daraus resultierenden Veröffentlichungen konzentrierten sich auf die experimentelle Untersuchung der Raumwahrnehmung; seine grundlegenden wahrnehmungspsychologischen Studien fanden in der wissenschaftlichen Gemeinschaft Anerkennung.
Über Hillebrands Arbeit einer „Theorie der scheinbaren Größe bei binocularem Sehen“ (1902) äußerte sich Ernst Mach (UAI Nachlass Franz Hillebrand): „Sie haben den Weg gezeigt, einen alten psychologischen Aberglauben endgültig aus der Welt zu schaffen, wozu ich Ihnen herzlich gratuli[e]re.“ Mach spricht damit Hillebrands Verdienst an, als Erster das Problem der nicht-euklidisch (hyberbolischen) Raumwahrnehmung systematisch analysiert zu haben: Hillebrands Probanden sollten in „Alleen-Versuchen“ eine Anordnung von zwei Reihen hängender Fäden justieren, so dass diese Reihen in ihrem gesamten Verlauf parallel erscheinen – dabei wurde eine Abweichung von der wirklichen Parallelität deutlich, die etwas über die Geometrie des subjektiven Raumes gegenüber dem objektiven aussagt.
1922 veröffentliche der gesundheitlich bereits stark angeschlagene Franz Hillebrand die Schrift „Zur Theorie der stroboskopischen Bewegungen“. Er griff mit dieser Arbeit unmittelbar in den Streit um Max Wertheimers „Experimentelle Studien über das Sehen von Bewegung“ (1912) ein, also in die Diskussion über das sogenannte Phi-Phänomen (Scheinbewegung). Wesentlich an diesem von Sigmund Exner 1875 entdeckten Phänomen ist, dass zwei ursprünglich getrennte Reize nunmehr als ein Reiz gesehen werden, es wird also eine phänomenale Identität erreicht. Wurde das Phi-Phänomen von Hillebrand anhand der „Theorie der Aufmerksamkeitswanderung“ erörtert, so erklärte es Wertheimer mit der „Kurzschlusstheorie“. Beide Konzeptionen konnten 1948 von Theodor Erismann in Innsbruck experimentell widerlegt werden. Gegen die Kurzschlusstheorie spricht die Tatsache, dass der Weg der stroboskopischen Scheinbewegung nicht immer der kürzeste ist. Gegen die Theorie der Aufmerksamkeitswanderung wurde eingewandt, dass im selben Aufmerksamkeitsfeld entgegengesetzte stroboskopische Bewegungen gleichzeitig gesehen werden können. Aus der Analyse des Phi-Phänomens entwickelte Wertheimer die Grundideen der Gestalttheorie. Seine Leistung bestand darin, das Sehen von Bewegung als originäres, nicht weiter reduzierbares Phänomen aufzufassen. Es war naheliegend, dass der Gestaltpsychologe Wolfgang Köhler in den Disput eingriff. In einem Brief vom Oktober 1922 schrieb er an Hillebrand: „man muss sich schon anstrengen … diese raffinierte Ableitung des stroboskopischen Effektes zu verstehen. Ich will sehen, dass mir das noch besser als bisher gelingt, weil ich Ihre Arbeit gern in der ‘Psychol. Forschung‘ referieren möchte.“ Zugleich bittet er Hillebrand um Klärung diverser Fragen, um „über diese Bedenken fortzukommen“. Im Februar 1923 teilt Köhler ihm mit, dass nun Wertheimer selbst die Replik auf Hillebrands Aufsatz leisten wird. „Ohne Zweifel werden Ihre Anschauungen Anlass zu lebhaften Diskussionen geben, …“ [8]. Auch Kurt Koffka in Gießen, ein weiterer Mitbegründer der Gestaltpsychologie, mit dem sich Hillebrand in seiner Arbeit kritisch auseinandergesetzt hat, reagiert sofort und drückt die Hoffnung aus, dass diese Arbeit „uns einer theoretischen Entscheidung ein Stück näher bringen“ werde. In der Sache fühlt er sich von Hillebrand missverstanden (UAI, Nachlass Franz Hillebrand).
Im Jahr 1913 hatte Hillebrand eine Streitschrift gegen „die Aussperrung der Psychologen“ publiziert. Es war die einzige Veröffentlichung seiner Innsbrucker Zeit, in welcher er sich mit Fragen der Philosophie auseinandersetzte. Mit dieser Schrift reagierte Hillebrand scharf auf die „Erklärung der Hundertsechs“ (Philosophen), die angeführt von den Philosophieprofessoren Rudolf Eucken, Edmund Husserl, Paul Natorp, Heinrich Rickert, Alois Riehl und Wilhelm Windelband die Fernhaltung der Vertreter der experimentellen Psychologie von den philosophischen Lehrstühlen verlangten (UAI, Nachlass Franz Hillebrand). Es war ein konzeptibler Versuch, der Experimentalpsychologie den wissenschaftsorganisatorischen Rückhalt zu entziehen. Im selben Jahr 1913 hatte bereits Wilhelm Wundt in seinem Essay „Die Psychologie im Kampf ums Dasein“ die Kontroverse pointiert zusammengefasst: „Die Philosophen sehen sich augenscheinlich in ihrem Besitzstande gefährdet“ (S. 2), „das Experimentieren ist eine banausische Kunst; demnach ist der experimentelle Psychologe bestenfalls ein wissenschaftlicher Handwerker. Ein Handwerker paßt aber nicht unter die Philosophen“ (S. 9). Wundt und Hillebrand sprachen sich gemeinsam für eine Beibehaltung des Status quo, der Ausbildung zukünftiger Psychologen im Rahmen der Philosophie, aus.
Als Hillebrands Innsbrucker Schüler, die einen akademischen Werdegang einschlugen, sind Hans Rupp (1880-1954, später Assistent bei Carl Stumpf in Berlin, als Berliner Extraordinarius seit 1925 Herausgeber der „Psychotechnischen Zeitschrift“), Richard Strohal (1888-1976, seit 1930 in Innsbruck Professor für Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Pädagogik) und Konstantin Radakovic (1894-1973, später Philosophieprofessor in Graz) zu nennen.
Im Dezember 1920 heiratete Hillebrand seine ehemalige Studentin und spätere Mitarbeiterin, Franziska Hillebrand, geborene von Reicher. 1919 war diese im Alter von 34 Jahren bei Alfred Kastil mit einer Dissertation über „die Abkehr vom Nichtrealen“ – einer Brentano folgenden Kritik an Edmund Husserl und Alexius Meinong – promoviert worden. War der Zugang zum Universitätsstudium generell für mittlere soziale Gruppen, besonders aber für Arbeiterkinder nur in geringstem Maß möglich, so war das in Österreich 1897 zögerlich eingeführte Frauenstudium noch mehr abgeschlossen: Obwohl Mayer-Hillebrand als Tochter eines ranghohen habsburgischen Generalstabsoffiziers („kommandierender General von Tirol und Vorarlberg“) sozial privilegiert war, musste sie erst tiefe Vorurteile gegen studierende Frauen im eigenen familiären Umfeld überwinden, sodass sie erst mit 29 Jahren immatrikulieren konnte (vgl. Steibl, 1987).
Mayer-Hillebrand hat nach dem Tod ihres Mannes (gestorben am 13. April 1926) dessen späte experimentelle Arbeiten nach zurückgelassenen Aufzeichnungen als „Lehre von den Gesichtsempfindungen“ (1929) redigierend herausgegeben. „In Franz Hillebrand hat die experimentelle Psychologie einen ihrer einsichtigsten und methodisch gewissenhaftesten Forscher verloren. Auf einem nicht sehr günstigen Boden hat er ihr vor langer Zeit eine Stätte bereitet und mit den geringen Mitteln, die ihm dort zur Verfügung standen, eine Anzahl mustergültiger Arbeiten geschaffen … Eine gerade, kernhafte, Kompromissen abgeneigte, aber auch persönlich sich nicht leicht anschließende Natur, ging er verhältnismäßig einsam seinen Weg“, so seine langjährigen Freunde und Fachkollegen Carl Stumpf und Hans Rupp in ihrem Nachruf in der Zeitschrift für Psychologie (1927, S. 1), an der Hillebrand selbst drei Jahrzehnte aktiv mitgearbeitet hatte (zur biographischen Notiz Hillebrand vgl. UAI, Nachlass Franz Hillebrand; UAI, Goldenes Buch der Universität Innsbruck (ab 1775); UAW, Philosophisches Nationale, Franz Hillebrand, 1881/1882; Goller, 1989; Gatterer, Goller & Sachse, 2018).
Die Nachfolgeprofessur trat 1927 Theodor Erismann (1883 in Moskau geboren – 1961 in Innsbruck verstorben) an. An zweiter Stelle hat die Fakultät 1926 auch Hans Rupp genannt, der aber als „Psychotechniker“ keine klassisch philosophischen Arbeiten vorzuweisen hatte (über Rupp vgl. Sachse, Hacker & Ulich, 2008).
Theodor Erismann (1927-1954)
Theodor Erismanns Vater, der Schweizer Friedrich Erismann (1842-1915) diente Russland ein Vierteljahrhundert lang als Augenarzt, Hygieniker und Sozialmediziner; 1884 wurde er Ordinarius für Hygiene, seit 1891 leitete er das Hygienische Institut, 1894 war er der Präsident der Gesellschaft russischer Ärzte; (vgl. Rogger & Bankowski, 2010). Theodor Erismanns russische Mutter, Sophia Jakowlewna Erismann, geb. Hasse (1847-1925), gehörte zu den ersten in der Schweiz promovierten Medizinerinnen (Universität Bern, 1876). Wegen seines Eintretens für freiheitliche, antizaristische, revolutionäre Studenten verlor Friedrich Erismann 1896 seine Stelle an der Moskauer Universität. Er wurde aus Russland ausgewiesen und kehrte in die Schweiz zurück. In Zürich wirkte Friedrich Erismann, der schon 1870 der Schweizer sozialistischen Arbeiterpartei beigetreten war, und der gelegentlich als Delegierter an den Kongressen der „II. Internationale“ teilnahm, fortan als Universitätsprofessor, Vorstand des Gesundheitswesens sowie als Stadt- und Kantonsrat für die Sozialdemokratische Partei. Es gibt keine Hinweise, dass Theodor Erismann, der sich in faschistischen Jahren (1938-1945) als bürgerlicher Humanist hoch integer bewähren sollte, das sozialistische Denken seines Vaters übernommen hat.
Nach absolviertem Zürcher Realgymnasium inskribierte Theodor Erismann 1902 an der dortigen Universität. Er studierte bei dem Experimentalphysiker Alfred Kleiner (1849-1916) sowie dessen ehemaligen Doktoranden Albert Einstein [9] (1879-1955). Er führte die experimentelle Studie „Zur Frage der Abhängigkeit der Gravitationskraft vom Zwischenmedium“ (1908) durch, die von Einstein ausdrücklich gelobt wurde (s. Windischer, 1953). Unter dem Einfluss von Gustav Störring (1860-1946), einem Schüler von Wilhelm Wundt, wandte Erismann sich der physiologischen Psychologie zu. „Der Physiker erkannte die Besonderheiten der Psychologie und der Psychologe erkannte, dass die Seele ein ‚fundamentum in re‘ hat und daher auch Naturwissenschaft mit einschließen muss“ (Kohler, 1984, S. 339). Seine experimentalpsychologische Dissertation „Untersuchung über die Bewegungsempfindungen beim Beugen des rechten Armes im Ellbogengelenk“ schloss er 1912 an der Universität Zürich ab. Noch im selben Jahr folgte er Gustav Störring nach Straßburg und habilitierte sich bereits Ende 1912 für Philosophie einschließlich Psychologie (Thema: „Untersuchung über das Substrat der Bewegungsempfindungen und die Abhängigkeit der subjektiven Bewegungsgröße vom Zustand der Muskulatur“, veröffentlicht 1913).
Da Erismann die Zusammenarbeit mit seinem Lehrer Störring nicht aufgeben wollte, ging er 1914 gemeinsam mit ihm an die Universität in Bonn; Störring hatte dort den Ruf auf eine Professur für Philosophie und Psychologie angenommen. 1921 wurde Erismann in Bonn zum außerordentlichen Universitätsprofessor ernannt. „Bei der Besetzung psychologischer bzw. pädagogischer Professuren in Bern (1922) und Dresden (1923) stand sein Name an erster bzw. zweiter Stelle in den Vorschlägen“ (UAI Ph 2295, 1925/1926). In seiner Bonner Zeit wandte sich Erismann in Lehre und Forschung insbesondere Fragen der Angewandten Psychologie, der Psychotechnik zu. 1926 erging an ihn der Ruf, an der Universität Innsbruck den Lehrstuhl für Philosophie sowie die Leitung des dazu gehörigen Instituts für experimentelle Psychologie zu übernehmen; Erismann galt als der gewünschte Vertreter der Einheit von Philosophie und Psychologie. Seine Arbeitsschwerpunkte am Innsbrucker Institut lagen über fast drei Jahrzehnte sowohl auf dem Gebiet der empirisch-experimentalpsychologischen Forschung als auch auf dem Gebiet der Philosophie (Erkenntnistheorie, Ontologie).
Der Impuls zu den namhaften „Innsbrucker Brillenversuchen“ kam 1928 in Form einer Frage vom Franz Brentano verpflichteten, die Einstein‘sche Relativitätstheorie übrigens polemisch ablehnenden Philosophen Oskar Kraus (1872-1942) aus Prag: Muss das Gesehene von Natur aus „vorn“ liegen? „Mit Hilfe von Spiegeln kann man ja leicht hinten und vorn ‚vertauschen‘ und dann zusehen, ob in einem längeren Versuch das in Wirklichkeit hinten Befindliche unbelehrbar ‚vorn‘ gesehen wird – oder, ob sich die Wahrnehmung umstellt“ (Kohler, 1953a, S. 181). Unter Zuhilfenahme eines Retroskops (ein Spiegelsystem zur Bildumkehr), welches „vorn“ und „hinten“ vertauscht, untersuchten Erismann und sein Mitarbeiter Hubert Rohracher diese Frage und präsentierten 1931 die ersten Befunde unter dem Titel „Das ‚Sehen mit dem Hinterkopf‘ und die Orientierung in der so gesehenen Welt“ (Rohracher, 1932a). Nach den ersten themenbezogenen Veröffentlichungen aus dem Innsbrucker Institut (vgl. auch Rohracher, 1932b; Schüler, 1933) war es Theodor Erismann, der in einem dreiwöchigen Selbstversuch (September / Oktober 1933) eine Prismenbrille trug. Die Versuche zum „Oben-Unten“-Sehen mit einer Umkehrbrille (Tische, Stühle, die eigenen Füße „hingen in der Luft“, die Füße gingen an der „Decke“, Wasserhähne tropften nach „oben“, Kerzen brannten nach “unten“ usw.) sowie die Studien mit Prismen- und Farbbrillen und deren Effekte, wie Scheinbewegungen, Farbverzerrungen oder Nacheffekte nach Abnahme der Spezialbrillen, fanden in der Öffentlichkeit natürlich Beachtung. Es war stets der Initiative, der Verve und der Erfahrung von Erismann zu verdanken, dass sich immer wieder auch Studenten und Mitarbeiter zu neuen Langzeitstudien mit den Spezialbrillen bereitfanden und Wochen, sogar Monate lang durchhielten. (So trug beispielsweise Ivo Kohler vom November 1946 bis zum März 1947 über 124 Tage hindurch im 24-Stunden-Einsatz eine binokulare Umkehrbrille; dies dürfte in der psychologischen Forschung bislang wohl einmalig gewesen sein, vgl. Kohler, 1951a, 1964). Erismann und sein Schüler Kohler gelten zu Recht als Vordenker und Gestalter der Innsbrucker Brillenversuche; ihre wahrnehmungspsychologischen Studien haben breite Anerkennung gefunden. Die Idee, durch eine künstliche, systematische Veränderung der Netzhautabbilder, also durch eine „Störung“ der Wahrnehmung die nachfolgende Adaptation des Wahrnehmungssystems zu untersuchen, beruht allerdings auf George M. Stratton (1865-1957) von der University of California in Berkeley (1896, 1897a,b). Bedingt auch durch den zweiten Weltkrieg konnten wesentliche Forschungsergebnisse der Innsbrucker Brillenversuche zum „Werden der Wahrnehmung“ – so der treffende Titel eines Vortrages von Erismann 1947 in Bonn, der zudem 1948 als Kongressbericht des Berufsverbandes deutscher Psychologen erschienen ist – erst zeitverzögert veröffentlicht werden (vgl. Sachse, Beermann, Martini, Maran, Domeier & Furtner, 2017).
Nur wenige Jahre nach seinem Innsbrucker Amtsantritt habilitierten sich bei Erismann Martha Moers, Franziska Mayer-Hillebrand und Hubert Rohracher:
- Martha Moers (1877-1965) war mit Erismann aus Bonn als Assistentin nach Innsbruck mitgekommen. In Bonn hatten sie 1922 gemeinsam eine „Psychologie der Berufsberatung“ verfasst. Mit Arbeiten zur angewandten Psychologie – über Ermüdungsstadien in der englischen Industrie oder über psychotechnische Eignungsprüfungen für kaufmännische Angestellte, sowie über logisch philosophische Probleme der Wahrscheinlichkeitsrechnung – habilitierte sich Moers im März 1929 als erste Frau in der Geschichte der Universität Innsbruck überhaupt, und zwar für das Fach „Psychologie“. Drei Semester las Moers hier zu praktisch psychologischen Fragen, ehe sie 1930 an die Pädagogische Akademie in Beuthen berufen wurde. Später war sie in Berlin Mitarbeiterin am Institut für Arbeitspsychologie und Arbeitspädagogik der „Deutschen Arbeitsfront“.
- 1932 habilitierte sich Franziska Mayer-Hillebrand (1885-1978) mit den Arbeiten über die „scheinbare Streckenverkürzung beim indirekten Sehen“, „über die scheinbare Größe der Sehdinge“ und über „die scheinbare Entfernung oder Sehtiefe“ für das Fach „Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Psychologie“. Alfred Kastil merkte im Juni 1932 in seinem Habilitationsgutachten an: „Ähnlich wie Hillebrand selbst die Tradition wahrte und insbesondere den Zusammenhang mit seinen beiden Lehrern Brentano und Hering nicht verleugnet hatte und dabei zu immer selbständigeren und weiter ausgreifenden Forschungen gelangt war, so setzt nun Frau Dr. Mayer-Hillebrand sein Werk fort.“ Später wandte sich Mayer-Hillebrand vor allem der Brentano-Forschung zu. Auf Wunsch von Alfred Kastil hat sie maßgeblich zur wissenschaftlichen Aufbereitung des Brentano-Nachlasses beigetragen. Einige der (nachgelassenen) Schriften Brentanos wurden von ihr in der „Philosophischen Bibliothek“ des Meiner-Verlags (neu) herausgegeben.
- Fast zeitgleich erlangte Ende 1932 Erismanns neben Ivo Kohler wirkungskräftigster, vor allem in der Zweiten Republik auch wissenschaftspolitisch einflussreicher Schüler Hubert Rohracher (1903-1972) mit einer Arbeit über die „Theorie des Willens. Auf experimenteller Grundlage“ die Dozentur für Psychologie. Fortan war er wenig an der von Erismann auch mit gepflegten geisteswissenschaftlich fundierten Auseinandersetzung mit psychologischen Fragen interessiert. Rohracher, von Anfang an Gegner der Freud‘schen Psychoanalyse, wandte sich im Umfeld des Innsbrucker Anatomen Felix Sieglbauer, des Physiologen Ernst Brücke und des Psychiatrieprofessors Carl Mayer medizinisch neurologischen Studien zu. Rohrachers 1935 veröffentlichte Arbeit über „gehirnelektrische Erscheinungen bei geistiger Arbeit“ steht bereits stellvertretend für seine weitere lebenslange Forschungsarbeit. 1938 als Gegner des Nationalsozialismus an der Universität Innsbruck entlassen, einer streng katholischen Familie entstammend, wurde Rohracher schließlich ab 1940/41 – nicht nur wegen seiner „EEG-Versuche“, sondern auch wegen seiner 1934 in erster Auflage veröffentlichten, Ernst Kretschmer verpflichteten „Einführung in die Charakterkunde“ – als Heerespsychologe dringend benötigt und infolge der enormen kriegsbedingten Aufwertung der Psychologie erst in Innsbruck 1941 wieder zur Dozentur zugelassen und dann 1943 als Extraordinarius an die Universität Wien berufen (vgl. Rohracher, 1972; Geuter, 1984; Benetka & Kienreich, 1989).
In den letzten Amtsmonaten von Erismann hat sich nach Ivo Kohler (1950) auch noch Peter Scheffler (Jg. 1923) mit einer von Erismann im Oktober 1953 begutachteten, in der Innsbrucker Tradition seit Hillebrand (1922) stehenden Arbeit über die „experimentelle Untersuchung der menschlichen Bewegungswahrnehmung“ habilitiert. Scheffler war sowohl Mitarbeiter am psychologischen Institut als auch an der psychiatrisch neurologischen Universitätsklinik sowie später Dozent und Lehrbeauftragter an der Universität Köln.
Theodor Erismann emeritierte 1954. „Wie er selbst niemals einem ‚Standpunkt‘ oder einer ‚Schule‘ verfallen war, gründete er auch selbst keine solche, es sei denn die Schule einer verantwortungsbewussten und sauberen wissenschaftlichen Denkweise“ (Kohler, 1953a, S. 182). Erismann war korrespondierendes Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und Ehrenmitglied der Deutschen Gesellschaft für Psychologie. Am 2. Dezember 1961 verstarb Theodor Erismann in Innsbruck (zur biographischen Notiz Erismann vgl. UAI, Personalakt Theodor Erismann; UAI, Nachlass Theodor Erismann; Goller & Tidl, 2012; Kohler, 1953a, 1962a, b, 1984; Windischer, 1953; Strohal, 1962; Stock, 2017).
Eine Bemerkung zum politischen Menschen Erismann in gesellschaftlich widersprüchlichen und antidemokratisch verschärften Zeiten: In der „Halsmann-Affäre“ (1928-1930), die seinerzeit in ganz Europa für Aufsehen sorgte, wurde der jüdische Student Philipp Halsmann des Mordes an seinem Vater während einer Bergtour im Tiroler Zillertal beschuldigt. Der Innsbrucker Prozess stand deutlich im Zeichen antisemitischer Kampagnen. Gegen die unrechtmäßige Verurteilung Halsmanns protestierte u.a. auch Theodor Erismann, der ein Gutachten zugunsten von Halsmann verfasste (vgl. Erismann, 1932; Pessler, 1931; Pollack, 2002).
Während der Zeit des Nationalsozialismus in Österreich (1938-1945) ließ sich Erismann weder in der Lehre noch in der Forschung von nazistischer Ideologie beeinflussen. Er unterstützte entlassene Kollegen wie Richard Strohal. Innerhalb des Innsbrucker akademischen Milieus wurde er 1938 in NS-Diktion als „Teiljude“ markiert (Goller & Tidl, 2012, S. 51/2). Nach einem öffentlichen, deutlich antinationalsozialistischen Vortrag zum Thema „Psychologie der Masse“ (16. Februar 1944) wurde Erismann vom zuständigen Dekan, dem Zoologen Otto Steinböck, streng verwarnt und mit ihn gefährdenden Konsequenzen bedroht [10] (Kohler, 1962a, S. 175).
Nach Erismanns Emeritierung 1954 wurde die erste philosophische Lehrkanzel in eine rein philosophische und in eine (experimental-) psychologische Professur geteilt. Mit der Emeritierung von Richard Strohal, dem Inhaber der zweiten philosophischen Professur, wurde 1959 eine eigenständige erziehungswissenschaftliche Lehrkanzel eingerichtet, auf die der bei Strohal 1954 in Innsbruck habilitierte, 1960 im Zeitpunkt der Berufung als Professor in Würzburg lehrende Wolfgang Brezinka (Jg. 1928) ernannt werden sollte (Brezinka, 2003).
Die Nachbesetzung der philosophischen Teil-Professur nach Erismann verlief konfliktreich und unglücklich, zumal der in der Linie der Analytischen Philosophie (um Rudolf Carnap) bereits international ausgewiesene, schlussendlich 1958 an die Universität München verloren gegangene Innsbrucker Privatdozent Wolfgang Stegmüller aus wissenschaftspolitischen Gründen übergangen wurde, da es in den restaurativen 1950er-Jahren immer noch „weltanschauliche“ Vorbehalte gegen den „nihilistischen“ Logischen Positivismus gab und da Stegmüller – seine Familie gehörte der evangelischen Konfession an, was im katholischen Tirol immer noch als Manko galt – freidenkerischen Tendenzen zugeordnet wurde (Benetka, 2000).
Die psychologische Besetzungsfrage wurde hingegen 1955/56 einvernehmlich im Weg eines primo et unico-loco-Vorschlags für den Erismann-Assistenten Ivo Kohler gelöst. In das engere Kandidatenfeld waren auch der Wiener Dozent Erich Mittenecker (Jg. 1922) und ehrenhalber der Leiter der Arbeitsberatung beim Innsbrucker Arbeitsamt, der 1937 an der TU Wien für angewandte Psychologie habilitierte Vinzenz Neubauer (1899-1983) gezogen worden.
Ivo Kohler (1956-1981)
Ivo Kohler (1915 in Schruns im Vorarlberger Montafon als Sohn eines dann in Wien tätigen Rechtsanwalts geboren) absolvierte das streng katholisch elitäre Gymnasium „Stella Matutina“ (Jesuitenkolleg) in Feldkirch. Ab 1934 studierte er Theologie und scholastische Philosophie am Bischöflichen Seminar in Brixen (Südtirol); seine Studien setzte er 1937 an der Philosophischen Fakultät der Universität Innsbruck fort. Obwohl er bereits im März 1940 zur Wehrmacht eingezogen wurde, konnte er dennoch während eines gewährten Studienurlaubes bereits im April 1941 zum Thema „Der Einfluß der Erfahrung in der optischen Wahrnehmung beleuchtet von Versuchen langdauernden Tragens bildverzerrender Prismen“ bei Erismann promovieren. Seine Prüfungsfächer waren Philosophie, Psychologie und Physik. Probleme der Raumwahrnehmung diskutierte Kohler anfänglich vor dem Hintergrund der „Lokalzeichentheorie“ von Hermann Lotze und Wilhelm Wundt. Der Begriff „Lokalzeichen“ steht für Wahrnehmungen, welche behilflich sind, die räumliche Ordnung (das räumliche Sehen etc.) aufzubauen. Diese Theorie wurde durch die Innsbrucker Brillenversuche dahingehend erweitert, „dass solche Lokalzeichen jedenfalls nicht unveränderlich festliegen, sondern sich neuen Situationen entsprechend ändern“ (Pongratz, 1984, S. 90). Empirische Befunde zu den Farbphänomenen beim Tragen der Prismen- und Farbbrillen verortete Kohler in die physiologische (und psychologische) „Theorie der Gegenfarben“ von Ewald Hering. Später stand Kohler insbesondere der ökologischen Wahrnehmungstheorie von James J. Gibson nahe (1961, 1979).
Nach Ende des zweiten Weltkrieges wurde Kohler „mit Sonderverfügung“ bei seinem Lehrer Erismann Anfang 1946 Assistent, eine Stelle, die er über 10 Jahre innehaben sollte. Kohler musste sich anfänglich einem Entnazifizierungsverfahren stellen, da er ab Juli 1938 Mitglied der NSDAP war und vom Oktober 1938 bis zum August 1939 zudem der SA angehörte (vgl. OeStA, AdR-02-BMU-Pa Kohler). Seine Fürsprecher in diesem Verfahren, welches 1948 seinen Abschluss fand („Minderbelasteten-Amnestie“), waren aus universitärem Umfeld der nunmehrige Dekan Theodor Erismann sowie der im Nachkriegsösterreich wohl einflussreichste österreichische Psychologieprofessor Hubert Rohracher. Die Lehrbefugnis für „Psychologie mit besonderer Berücksichtigung der Experimentellen Psychologie“ wurde Kohler 1950 ministeriell bestätigt. Seine Habilitationsschrift fasste die Ergebnisse der langjährigen Innsbrucker Forschungen zum langdauernden Tragen von Spiegel-, Prismen-, Halbprismen- und Farbhalbbrillen zusammen. Mit solchen künstlichen Mitteln erzeugte er „Störungen“ (Vertauschung von oben und unten, Seitenumkehr, Bildverzerrungen etc.) und griff unmittelbar in die Ordnung der Wahrnehmung ein, beobachtete den Verlauf solcher „Störungen“ resp. den Verlauf der Adaptationsperiode und erörterte die wichtige Frage, wie die Wahrnehmung durch eigene Korrekturprozesse ihre Organisation aufbaut bzw. aufrechterhält und welche Faktoren dabei von Bedeutung sind. Somit wurde erstmalig umfassend die Erismannsche „Methode der systematischen Störung“ mit dem Ziel angewendet, die Organisation der Wahrnehmungswelt mittels ihrer eigenen Korrekturprozesse zu analysieren (Titel der Habilitationsschrift: „Über Aufbau und Wandlungen der Wahrnehmungswelt“, 1951). Diese Monographie wurde seinerzeit als eine der wenigen Originalarbeiten der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts ins Englische übertragen („The formation and transformation of the perceptual world“, Psychological Issues / Monograph, 1964), maßgeblich befördert durch James J. Gibson. Die „Brillenstudien“ lösten insbesondere in den angelsächsischen Ländern sowie in Japan eine Reihe von Replikations- und Folgestudien, beispielsweise zum Wahrnehmungslernen, aus. Auch am Innsbrucker Institut wurden die Forschungen zu Spezialproblemen der Wahrnehmung mit Prismenbrillen fortgesetzt, wie es die Veröffentlichungen von Erismann (1950), Kohler (1951b, 1953b, 1955, 1956, 1962c, 1974), Kottenhoff (1957a,b, 1961), Pissarek (1958), Hinteregger (1959), Kohler & Pissarek (1960) sowie Thurner (1961, 1967) belegen. Die Festschrift für Ivo Kohler „Sensory experience, adaptation, and perception“ (herausgegeben von Spillmann & Wooten, 1984) kann als Abschluss der klassischen Innsbrucker Brillenversuche gelten. Die Brillenstudien waren auch in methodologischer Hinsicht progressiv. Mit den Langzeitstudien verließ das Innsbrucker Institut das Labor und studierte diverse Prozesse und Effekte der Wahrnehmungspsychologie unter Feldbedingungen, sprich: unter ökologisch validen Bedingungen. Diverse Aktivitäten, beispielsweise der Besuch eines Kinos, einer Zirkusvorstellung, eines Wirtshauses, nach einigen Tagen des Tragens der Umkehrbrille sogar Fahrrad-, Moped- und Skitouren, gehörten seinerzeit selbstredend ebenso zu den Studien der bebrillten Probanden dazu. Den Ergebnissen lagen dabei nicht nur die subjektiven Daten der Selbstbeobachtung der Probanden sowie der Fremdbeobachtung zugrunde, sondern auch die Daten der quantitativen Messungen der Adaptationsleistungen im Alltag (Sachse, Beermann, Martini, Maran, Domeier & Furtner, 2017).
Neben der grundlagenorientierten, experimentellen Forschung lag ein weiterer Arbeitsschwerpunkt von Kohler im Bereich anwendungsbezogener Aufgabenstellungen, beispielsweise der Untersuchung der Orientierungsleistungen blinder Personen sowie deren Unterstützung durch technische Artefakte.
Ivo Kohlers Forschungen waren – finanziert von US-amerikanischen Programmen, die österreichische Forschungsförderung lag darnieder – auch für die zivile und militärische Luftfahrt von großer Bedeutung. 1954 hatten Erismann und Kohler etwa über die amerikanische Forschungszentralstelle in Brüssel beim Hauptquartier des US-Air Force rund 5000 Dollar für „Auditory Guidance Studies“ beantragt, und hierfür Geheimhaltung sowie befristete Überlassung der Publikations- und Urheberrechte zugestanden. 1956 konnten die Forschungsergebnisse dann in der Innsbrucker Zeitschrift „Pyramide“ unter dem Titel „Orientierung durch den Gehörsinn“ veröffentlicht werden (Oberkofler & Rabofsky, 1989).
Im Frühjahr 1956 wurde Kohler als Erismann-Nachfolger zum außerordentlichen Professor für Psychologie und zum Vorstand des Instituts für Psychologie ernannt. Die wertschätzenden Gutachten u.a. von George M. Stratton (University of California, Berkeley), James J. Gibson (Cornell University, Ithaca), Egon Brunswik (University of California, Berkeley), Wolfgang Metzger (Universität Münster), Heinrich Düker (Universität Marburg) trugen zur Berufung Kohlers in Innsbruck maßgeblich bei. „Es steht außer Zweifel, dass in der gesamten deutschsprachigen Psychologie niemand vorhanden ist, der geeigneter und berufener als Dr. K[ohler] wäre, die von Hillebrand und Erismann begründete wahrnehmungspsychologische Tradition des Psychologischen Institutes in Innsbruck weiterzuführen“ (UAI, Personalakt Theodor Erismann; vgl. zudem OeStA, AdR-02-BMU Pa Kohler).
1960 lehnte Kohler einen Ruf an die Universität Göttingen ab. Forschungsaufenthalte und Gastprofessuren führten Kohler an die Duke University in Durham (1960), an das Center for Advanced Study in the Behavioral Sciences in Stanford (1962/1963), an die Cornell University in Ithaca (1963), an die University of Vermont in Burlington (1969/1970) und an die University of Kansas in Lawrence (1973). Ivo Kohler wurde 1981 vorzeitig Professor emeritus und verstarb am 23. Januar 1985 in Innsbruck (zur biographischen Notiz Kohler vgl. UAI Personalakt Ivo Kohler; Hajos & Ritter, 1984, 1988; Hajos, 1985; Ritter, 1986; Bouwhuis & Owens, 1986; Lücke & Pfister, 1988; Forgays & Lawson, 1989; Allesch, 2017).
Kohler war eine unkonventionelle, ausgesprochen originelle, sowie ideenreiche Forscherpersönlichkeit. Seine teils in Innsbruck habilitierten Assistenten und Schüler Franz Thurner (1928-2017, 1961 mit einer Arbeit über die „kurzzeitigen Nacheffekte“ habilitiert), Anton Hajos (1935-2001, in Marburg habilitiert) und Ernst Pöppel (Jg. 1940, 1968 bei Kohler mit einer Arbeit über die „oszillatorischen Vorgänge bei der menschlichen Zeitwahrnehmung“ promoviert, 1974 schon an der Medizinischen Fakultät der Universität München für Sinnesphysiologie habilitiert und nun 1976 zusätzlich in Innsbruck eine Habilitationsschrift „Über Struktur und Funktion des visuellen Systems“ vorlegend) erlangten Professuren in Göttingen, Gießen und München. 1969 hat – begutachtet von Ivo Kohler – der als Schulpsychologe im Vorarlberger Landesdienst tätige Helmut Seyfried (Jg. 1923) mit einer statistisch testpsychologischen Arbeit über „Schulreife und Schulerfolg“ die Lehrbefugnis für das Fach „Angewandte Psychologie“ erlangt.
Dieter Klebelsberg (1975-1993)
Die zunehmende Differenzierung des Faches Psychologie, die Beachtung neuer Ausbildungserfordernisse sowie die steigende Anzahl der Studierenden in Innsbruck führten 1966 zur Widmung einer zweiten Professur (Angewandte Psychologie), auf die erst 1975 – nach wiederholter Ausschreibung resp. einem zweiten Besetzungsvorschlag – Dieter Klebelsberg berufen werden sollte. Nach langen Verhandlungen hatten sowohl Reinhard Tausch (Hamburg) als auch Walter Toman (Erlangen) einen Ruf nach Innsbruck abgelehnt, sodass 1973 ein neuer Vorschlag erstellt werden musste: Neben dem Erstgereihten Kurt Pawlik waren (hier in alphabetischer Reihenfolge) genannt: Dieter Klebelsberg (Mannheim), Kurt Schmale (Hamburg), Franz Thurner (Göttingen) (UAI, Nachlass Ivo Kohler, Berufungskorrespondenz 1969-1975).
Dieter Klebelsberg wurde 1928 in Innsbruck als Sohn des nationalliberalen, deutschnationalen Geologie-Ordinarius Raimund (von) Klebelsberg geboren. Dieser galt unter anderem wegen der von ihm 1923 gegründeten, dem „Grenzlandkampf“ um Südtirol, also um die „Tiroler Landeseinheit“ dienenden Reihe „Schlern-Schriften“ als der maßgebliche Landeskundler.
Ab 1947 studierte Dieter Klebelsberg an der Universität Innsbruck in den Hauptfächern Psychologie und Philosophie sowie in den Nebenfächern Psychiatrie und Musikwissenschaft. Im Jahr 1952 promovierte Klebelsberg zum Thema „Werk und Persönlichkeit des Genies in wertmässiger Betrachtung – eine theoretische Untersuchung“. Einer der Gutachter, Theodor Erismann, wandte ein, dass das „Problem des Wertes, von dem der Verfasser ausgeht und von dem aus er das Genialitätsproblem erfassen und lösen möchte“, die Möglichkeiten eines noch jungen Dissertanten überschreitet. Bei aller dieser „geziemenden Kritik“ erkannte Erismann die Dissertation an; ein weit mehr zustimmendes Erstgutachten hatte bereits Franziska Mayer-Hillebrand vorgelegt. In Tübingen setzte Klebelsberg seine psychologischen Studien fort und legte 1954 seine Diplomprüfung ab. Anschließend war er bis 1959 als freier Mitarbeiter an einer Innsbrucker Einrichtung für Psychodiagnostik und Angewandte Psychologie tätig. Von 1959 bis 1965 hatte Klebelsberg die Leitung des Verkehrspsychologischen Instituts des Kuratoriums für Verkehrssicherheit in Wien inne. Diese Wiener Jahre sollten seine weitere inhaltliche Fokussierung ausschließlich auf die Verkehrspsychologie lenken. An der Universität in Tübingen habilitierte sich Klebelsberg 1967 für das Fach Psychologie mit der Schrift „Risikoverhalten als Persönlichkeitsmerkmal“ (veröffentlicht 1969), unterstützt durch Rudolf Bergius und Erich Mittenecker. Klebelsberg wirkte in der Folgezeit als Akademischer Rat in Tübingen und war dort 1970/1971 Leiter des Psychologischen Instituts. Im Jahr 1971 wurde Klebelsberg auf den neu geschaffenen dritten Lehrstuhl für Psychologie an der Universität Mannheim berufen. 1975 nahm er den Ruf nach Innsbruck an. Klebelsberg veröffentlichte 1982 die erste deutschsprachige Gesamtdarstellung zur Verkehrspsychologie. Sie umfasst die Analyse des Verkehrsverhaltens, der Fahrtüchtigkeit, der Fahreignung, Aspekte der ergonomischen und pädagogischen Verkehrspsychologie sowie die verkehrspsychologische Theoriebildung. Zudem war Klebelsberg mehrjährig Mitherausgeber der „Zeitschrift für Differentielle und Diagnostische Psychologie“. In der Lehre vertrat Klebelsberg die Angewandte Psychologie sowie die Differentielle Psychologie und Persönlichkeitspsychologie (zur biographischen Notiz Klebelsberg vgl. Universität Innsbruck, 1995). Am 27. April 2018 verstarb Dieter Klebelsberg in Innsbruck.
Klebelsbergs Innsbrucker Lehrjahre bis 1993 waren auch von einem „Methodenkonflikt“ überlagert, so um die Einbindung psychoanalytischer Ansätze, von qualitativ „lebensweltlichen“ Methoden, von einem Streit über den Wert der Sozialpsychologie oder auch von Auseinandersetzungen mit den in den 1980er Jahren auch in Innsbruck von einem Teil der Lehrenden, vor allem aber von Seiten vieler Studierender geltend gemachten Ansprüchen der „Kritischen Psychologie“: Die Innsbrucker Student/inn/engruppe „KRIPS“ (Kritische Psychologie) „rezipierte nicht nur Holzkamp sondern auch die Literatur marxistisch orientierter Psychoanalytiker. (…) 1980 begannen die Studierenden mit einem Netz von Lesekreisen und Arbeitsgruppen eine gegenuniversitäre Ausbildung zu entwickeln. Verstärkt wurde die kritische Psychologie Holzkamps und die Arbeiten von Marx rezipiert. Es gelingt sogar zuerst an den liberalen Instituten für Erziehungswissenschaft und Politikwissenschaft und später dann am Psychologischen Institut Lehraufträge über Kritische Psychologie einzubringen (Karl-Heinz Braun und Konstanze Wetzel)“ (vgl. Hoffmann, 1992, S. 18).
Es kam immer wieder – vor allem nach der baldigen Emeritierung Kohlers – zu Konflikten der Gruppe um Dieter Klebelsberg mit den ehemaligen Pädagogik-Dozenten Eva Köckeis-Stangl und Peter Seidl, die seit 1976 dem Institut für Psychologie zugeteilt waren: Eva Köckeis-Stangl (1922-2001), 1938 mit ihrer jüdischen Wiener Bürger-Familie vor der Verfolgung durch das NS-Regime nach England geflohen, dort politisch im linken Exil tätig, nach 1945 Rückkehr nach Wien, bis 1968 Mitglied der KPÖ, in den letzten Berufsjahren federführend für die Tiroler Grünen aktiv, hat in Wien Mathematik und Sozialwissenschaften studiert. Sie war als Assistentin des Wiener Soziologen Leopold Rosenmayr empirisch-statistischen Methoden zugewandt. 1973 in Innsbruck für Pädagogik habilitiert, zur Schulreform, zum Thema sozialer Bildungschancen forschend, hat sie sich in ihrem letzten Berufsjahrzehnt vor der Pensionierung 1987 als Dozentin am Institut für Psychologie erzählend-lebensweltlichen Methoden zugewandt (Lichtmannegger, 2003). Der Pädagogik-Historiker Wolfgang Brezinka hat diesen Wandel aus seiner Sicht 2003 als eine Abkehr von ihrer frühen „empirisch sozialwissenschaftlichen Forschung“ hin zu „historisch, kasuistischen oder ‚selbstreflexiven‘ Themen“ bedauert. Köckeis-Stangls‘ engerer Fachkollege Peter Seidl (1941-1986) war von reaktionär konservativen Professoren wie dem Althistoriker Franz Hampl wegen seines Einsatzes für eine (Gesamtschul-) Bildungsreform über sechs Jahre bis 1979 in seiner Habilitation für das Fach „Erziehungswissenschaft mit besonderer Berücksichtigung der Pädagogischen Soziologie“ behindert worden (vgl. Brezinka, 2003).
Manfred Ritter (1985-2000)
Nach Kohlers Emeritierung 1981 wurde die ordentliche Professur mit dem Schwerpunkt Allgemeine Psychologie ausgeschrieben. 1982 hat die Innsbrucker Berufungskommission in alphabetischer Reihenfolge Roman Ferstl (Trier), Hans Christoph Micko (Braunschweig), Ernst Pöppel (München), Manfred Ritter (Marburg) und Günter Schulter (Graz) in die engere Wahl gezogen. Der an der Universität Hamburg lehrende Gutachter Kurt Pawlik orientierte im August 1982 in Richtung von Kandidaten, deren Arbeitsschwerpunkt auf dem Gebiet der „allgemeinen experimentellen Psychologie der Wahrnehmung“ liegt. In diesem Sinne könnte „die als Innsbrucker Tradition im Fach geläufige Ausrichtung, die Herr Kohler dem Institut seinerzeit gegeben hatte“, fortgesetzt werden. Seinen der Kommission präsentierten Reihungsvorschlag erstellt Pawlik somit unter der Voraussetzung, „dass die Innsbrucker wahrnehmungspsychologische Tradition möglichst weitergepflegt werden und der Schwerpunkt in Forschung und Lehre stärker auf humanpsychologisch experimentellen als auf psychophysiologischen bzw. neuropsychologischen Gebieten liegen soll.“ Der Ruf ging an Manfred Ritter (UAI, Akten der Naturwissenschaftlichen Fakultät, Reihe „Berufungsakten nach 1945“).
Manfred Ritter (1940 in Lustenau in Vorarlberg als Sohn eines Sägearbeiters geboren, durch spätere familiäre Bindungen dem Umfeld der Tiroler Sozialdemokratie nahe stehend) besuchte die Volks- und Hauptschule in Andelsbuch und Bezau im Bregenzer Wald. Nach am Bundesgymnasium in Bregenz abgelegter Matura immatrikulierte er im Oktober 1960 an der Universität Innsbruck und besuchte während der ersten drei Semester Vorlesungen zur Philosophie, Altphilologie und Germanistik. Ab 1962 wandte er sich dem Studium der Psychologie (Hauptfach) und der Erziehungswissenschaft (Nebenfach) zu. Während seiner Studienzeit wirkte Ritter bereits in Forschungsprojekten von Kohlers Assistenten mit [„Color discrimination without color vision“, Leitung: Anton Hajós, „Studies of artificially disturbed sensorimotor coordination in man“. Leitung: Franz Thurner]. Das letztgenannte Projekt wurde zugleich zur Grundlage für Ritters Dissertation (Thema: „Experimente mit systematisch gestörter sensumotorischer Koordination“, 1968). Ab 1968 war der sub auspiciis Praesidentis rei publicae promovierte Ritter kurzzeitig als Hochschulassistent am Innsbrucker Institut tätig, ließ sich für einen zehnmonatigen Forschungsaufenthalt am Max-Planck-Institut für Psychiatrie (Psychologische Abteilung) in München beurlauben. 1971 wurde er wissenschaftlicher Angestellter am Psychologischen Institut der Universität Marburg. Im Juli 1979 habilitierte sich Ritter in Marburg für das Fachgebiet Allgemeine Psychologie. Im Wintersemester 1979/80 hatte er die Vertretungsprofessur für Allgemeine Psychologie an der Universität Konstanz inne. Im September 1981 wurde Ritter auf den C3-Lehrstuhl für Allgemeine Psychologie an der Universität Marburg berufen, ehe er 1985 als Allgemeinpsychologe an die Universität Innsbruck zurückkehrte. Seine wahrnehmungspsychologischen Forschungsschwerpunkte standen in der Tradition des Innsbrucker Instituts, so beispielsweise seine Studien zur Bewegungs- und Tiefenwahrnehmung und zum Problem der Richtungs- und Größenkonstanz. In Innsbrucker Professorenjahren veröffentlichte Ritter das Sammelwerk „Wahrnehmung und visuelles System“ (1986). Er fungierte auch als Herausgeber der von Gabriele Herbst verfertigten deutschen Übersetzung des von E. Bruce Goldstein verfassten Standardlehrbuchs „Sensation and perception“ (1997). Seine Lehrschwerpunkte lagen in der Allgemeinen Psychologie.
Im Entwicklungskonzept des Institutes vom Juli 1992 charakterisierte Manfred Ritter die Lage der Innsbrucker Psychologie: „Die Forschungstätigkeit am Institut verkümmert“ und es kann „die Lehraufgaben nicht im eigentlich erforderlichen Maße erfüllen“ … eine „Zusammenarbeit auf internationaler Ebene [ist] immer schwerer zu erreichen“ (S.4). „Das Institut für Psychologie der Universität kann bei der hohen Zahl der zu betreuenden Studierenden und bei der geringen Zahl der zugewiesenen Personalstellen dem Auftrag des Gesetzgebers betreffend Lehre und Forschung nicht mehr in einem ausreichenden Maße nachkommen. Eine deutliche Erhöhung in der Zahl der Planstellen und in der Ausstattung ist nötig. Die vordringlichsten Maßnahmen dazu sind die rasche Wiederbesetzung der Professur für Psychologie in der Nachfolge von O. Univ.-Prof. Dr. D. Klebelsberg mit dem Schwerpunkt in Angewandter Psychologie und die Neuzuweisung einer Professur mit dem Schwerpunkt in Klinischer Psychologie, verbunden mit einer gleichzeitigen Erhöhung der Zahl der Planstellen für wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Mitarbeiter“ (S. 9). Die misslichen Rahmenbedingungen am Institut blieben die leidige „Problemkonstante“; erst zwei Jahrzehnte später sollte sich die Situation verbessern. Manfred Ritter ist am 6. Mai 2002 in Innsbruck verstorben (zur biographischen Notiz Ritter vgl. Ritter, 1968; Bliem & Lücke, 2003).
Postskriptum und Ausblick
Die Philosophische Rigorosenordnung von 1873 regelte in Österreich – von marginalen Novellierungen abgesehen – über alle politischen Brüche von Monarchie / Republik / Faschismus hinweg bis in die 1980er Jahre den Zugang zum Doktorat für geistes- und naturwissenschaftliche Fächer. Sie normierte nur sehr knapp die Voraussetzungen: acht Semester als ordentlich inskribierte/r Hörer/-in, eine von zwei Gutachtern approbierte Dissertation, sowie abschließend zwei strenge Prüfungen, nämlich ein zweistündiges Rigorosum aus den jeweiligen Hauptfächern und ein einstündiges Rigorosum aus Philosophie („Philosophicum“). Es galt also das Prinzip weitgehender Lehr- und Lernfreiheit. 1982 konnten Studienanfänger/-innen letztmalig nach dieser „alten Rigorosenordnung“ immatrikulieren. Nur informell wurde von einigen Professoren vor Vergabe eines Dissertationsthemas eine so genannte „Doktorandums-Prüfung“ (oft über „Leselisten“ definiert) abgenommen. Die Prüfung entsprach vom Umfang her etwa einer späteren „Diplomprüfung“.
Sämtliche zwischen 1873 und 1965 in Innsbruck approbierte Doktorarbeiten aus dem Fach Psychologie sind in einem 1982 veröffentlichten Dissertationen-Register verzeichnet (Labenbacher, 1982).
Zusätzlich waren die Lehrenden der Psychologie in das Lehramtsstudium eingebunden, im Rahmen der Teilprüfungen für das Mittelschul-Lehrfach „PPP – Philosophie, Psychologie und Pädagogik“.
In Österreich wurde erst 1971 mit dem Bundesgesetz für die geistes- und naturwissenschaftlichen Studienrichtungen (kundgemacht im Bundesgesetzblatt Nr. 326/1971) die Grundlagen für das acht- bzw. zehnsemestrige Diplomstudium (Mag.phil. / Mag.rer.nat.) als Voraussetzung der Zulassung zum Doktorat geschaffen. Mit einer weiteren Verzögerung von einem Jahrzehnt wurde dann in Innsbruck 1983 auf dieser gesetzlichen Grundlage und auf Basis der ebenfalls schon 1973 im Bundesgesetzblatt Nr. 473 kundgemachten „Studienordnung für die Studienrichtung Psychologie“ das Diplomstudium umgesetzt.
Der damit verbundene zusätzliche Lehrbedarf ist mit allen Folgeproblemen von Manfred Ritter oben beschrieben (vgl. auch die Verlautbarung des Studienplans für die Studienrichtung Psychologie an der Universität Innsbruck, kundgemacht im Mitteilungsblatt der Universität Innsbruck für das Studienjahr 1991/92, Nr. 482 vom 14. September 1992, Vorsitzender: Prof. Gerhard Lücke).
Diese kleine Geschichte des an der Innsbrucker Philosophischen Fakultät angesiedelten Psychologischen Instituts endet mit der jeweils vorzeitigen Emeritierung von Dieter Klebelsberg und von Manfred Ritter in den Jahren 1993 bzw. 2000.
Das „Institut für experimentelle Psychologie“ der Universität Innsbruck wurde ab dem Wintersemester 1965/1966 offiziell als „Institut für Psychologie“ benannt; 1976 war die Philosophische Fakultät in eine Geistes- und Naturwissenschaftliche Fakultät geteilt worden: Kohler hatte im Licht der „Hillebrand-Tradition“ gezielt die Zuordnung der Psychologie zu den Naturwissenschaften gewählt!
Im Rahmen einer größeren Darstellung müsste auch die Stellung des 1897 von Hillebrand errichteten (experimental-) psychologischen Instituts im lokalen akademischen Umfeld näher bewertet werden, etwa die Kontakte zu den verwandten Fächern an der Medizinischen Fakultät, wo erstmals 1892 mit dem Wiener Meynert-Schüler Gabriel Anton ein Professor für Psychiatrie und Neurologie berufen worden war und wo nach 1945 vorübergehend auch die in der Hillebrand-Erismann-Kohler-Rohracher Linie abgelehnte, dann seit den 1970er Jahren am Erziehungswissenschaftlichen Institut stark gepflegte (psychoanalytische) „Tiefenpsychologie“ in ihren verschiedenen Strömungen eine periphere Wirkungsstätte erhalten sollte. (Zur Geschichte der Innsbrucker Lehrkanzel und Klinik für Psychiatrie von 1892 bis 1969 vgl. Ganner, 1969; Peham, 1999.)
1984 wurde an der Medizinischen Fakultät eine Professur für medizinische Psychologie und Psychotherapie eingerichtet und an Wolfgang Wesiack verliehen, dem 1995 der Göttinger Privatdozent Gerhard Schüßler folgte.
Nicht behandelt werden kann hier auch das an der Katholisch-Theologischen Fakultät angesiedelte, im konfessionell geprägten Tirol „zivilgesellschaftlich“ einflussreiche pastoralpsychologische Umfeld, obwohl dessen Vertreter, die Jesuitenprofessoren Pio Sbandi und Vladimir Satura, auch an der naturwissenschaftlichen Fakultät habilitiert waren.
Auch das jüngere Institutsgeschehen, etwa die Habilitationen der 1980er Jahre (von Anna Auckenthaler 1984 für Klinische Psychologie, später Professorin an der FU Berlin, von Dieter Frank 1986 für Psychologie und von Helgi-Jon Schweizer 1991 für die biologischen Grundlagen der Psychologie) oder die Regelung der Klebelsberg-Nachfolge, die ab 1995 für sehr kurze Zeit von der zuvor an den Universitäten Osnabrück, Jena und Flensburg lehrenden Eva Bamberg übernommen wurde, entzieht sich angesichts der zeitgeschichtlichen Nähe einer historischen Beurteilung.
Literaturverzeichnis
Akademischer Senat der k. k. Universität Innsbruck (1899). Die Leopold-Franzens-Universität zu Innsbruck in den Jahren 1848 - 1898; Festschrift aus Anlass des 50jährigen Regierungs-Jubiläums Sr. Majestät des Kaisers Franz Joseph I. Innsbruck: Wagner.
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Benetka, G. (2000). Der „Fall“ Stegmüller. In F. Stadler (Hrsg.), Elemente moderner Wissenschaftstheorie; zur Interaktion von Philosophie, Geschichte und Theorie der Wissenschaften (S. 123-176). Wien: Springer.
Benetka, G. & Kienreich, W. (1989). Einmarsch in die akademische Seelenlehre. In. G. Heiß (Hrsg.), Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938-1945 (S. 115–132). Wien: Verlag für Gesellschaftskritik.
Bliem, H. R. & Lücke, G. (2003). In memoriam O. Univ.-Prof. i. R. Dr. phil. Manfred Ritter (1940-2002). Berichte des Naturwissenschaftlich-Medizinischen Vereins in Innsbruck, 90, 323-327.
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- Archiv der Republik, BMU-Pa Kohler.
StAI Stadtarchiv Innsbruck
- Sammlung Sommer, Bd. 2, Nr. 235.
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- Archival call number: 9-254, 9-254.1, 9-255 (Briefwechsel zwischen Theodor Erismann und Albert Einstein, 1951).
UAI Universitätsarchiv Innsbruck
- Sonderfaszikel Bauten, 16. Dezember 1896.
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- Nachlass Franz Hillebrand.
- Goldenes Buch der Universität Innsbruck (ab 1775).
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- Akten der Philosophischen Fakultät (=Ph) Nr. 2295 aus 1925/26,
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- Nachlass Ivo Kohler (Berufungskorrespondenz 1969-1975).
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- Reihe Personalakten, Karton 116, Personalakt Ivo Kohler.
- Akten der Naturwissenschaftlichen Fakultät, Reihe „Berufungsakten nach 1945“.
UAW Universitätsarchiv Wien
- Nationale (Franz Hillebrand, Wintersemester 1881/1882, Philosophische Fakultät.
UBG Universitätsbibliothek Graz
- Nachlass Alexius Meinong: XLI, Nr. 1855 Brief Hillebrands an Meinong (3. Dezember 1904).
Anmerkungen/Fußnoten
[1] Wundt, W. (1881-1902). Philosophische Studien. Leipzig: Engelmann.
[2] Im Innsbrucker Hillebrand-Nachlass findet sich ein Brief von Oswald Külpe. Nach dem Tod des Innsbrucker Philosophieprofessors Emil Arleth hatte Hillebrand Külpe um eine kurze Stellungnahme zu Max Wundt gebeten. Külpe schreibt am 12. Mai 1909 an Hillebrand aus Würzburg und gibt einigen interessanten Einblick in die Lage von Philosophie und Psychologie knapp nach 1900: „Über Max W[undt] weiß ich in der Tat Einiges, so z.B. daß er der Sohn unseres Altmeisters ist, von Baeumker in Straßburg als eine anima candida bezeichnet und von Ziegler als Stellvertreter in seinen Uebungen angenommen worden ist, woraus ich schließe, daß er seine Lehrbegabung besonders schätzte. Anderseits freilich ist er noch etwas jung und, wie mir scheint, vorherrschend Klassischer Philologe. Als solcher hat er promoviert und auch seine Arbeiten auf dem Gebiet der Geschichte der Philos. sind noch zum großen Teil unter dem Gesichtspunkte des Philologen verfaßt worden. Was ich am wenigsten billigen kann, ist, daß er fast allen Kontroversen aus dem Wege geht und seine durchaus nicht immer unanfechtbaren Ansichten positiv entwickelt, als gäbe es keine abweichenden Bestimmungen. Jedenfalls ist die Geschichte der griech. Ethik ein sehr lesenswertes Buch, aus den Quellen und echt historischer Anschauung geschöpft. Aber es gibt, wie mir scheint, Leute, die vor M.W. bei Besetzung eines Ordinariats in Frage kommen. Ich hatte neulich die Gelegenheit meine Meinung bei einer gleichen Aufgabe auszusprechen und darf Ihnen vielleicht sagen, daß ich E[rnst] Cassirer an erster Stelle empfohlen hatte. Dieser ist auch in Königsberg an 3. Stelle, ebenso in Göttingen (für Baumann) vorgeschlagen worden. Persönlich kenne ich ihn freilich nicht. Als Kollege kann ich Ihnen niemand mehr empfehlen als [August] Messer, dem das Historische viel näher liegt als das Psychologische und der über Quintilian u.a. wertvolle Arbeiten geschrieben hat. Er ist zugleich Katholik und hat volles Verständnis für die Bedürfnisse der Katholiken, obwohl er durchaus kein sog. kathol. Philosoph ist. Sie würden in ihm einen Kollegen gewinnen, der Ihre Arbeiten mit Verständnis und Interesse verfolgte, mit dem sich ausgezeichnet sine ira et studio diskutieren läßt und der auf dem Boden der geschichtlichen Untersuchung gründlich und allgemein zu Hause ist und forschen kann (vergleichen Sie auch sein wertvolles Buch über Kant‘s Ethik!). Entschuldigen Sie, daß ich damit die Grenzen der von Ihnen angesprochenen Sache überschritten habe“ (dazu auch Messer, 1922).
[3] Der frühere katholische Priester Franz Brentano hatte sich 1880 mit Ida von Lieben vermählt; da er nach österreichischem Gesetz keine gültige Ehe schließen konnte, war er gezwungen, wieder die sächsische Staatsbürgerschaft anzunehmen und auf seine 1874 angetretene Professur in Wien zu verzichten (vgl. Oberkofler, 1986).
[4] Es folgten von Hillebrand zeitnah weitere gewichtige wahrnehmungspsychologische Veröffentlichungen: „Die Stabilität der Raumwerte auf der Netzhaut“ (1893), „Das Verhältnis von Accommodation und Konvergenz zur Tiefenlokalisation“ (1894).
[5] Franz Hillebrand widmete seinem Prager Lehrer mit der Schrift „Ewald Hering: Ein Gedenkwort der Psychophysik“ (1918) einen großen wissenschaftlichen Nachruf.
[6] „Den modernen Psychologen sehen wir häufiger im Laboratorium als in der Studirstube. Die Phaenomene, die er beobachten will, sind nicht bloß diejenigen, welche ihm der Zufall des täglichen Lebens darbietet und die von Momenten abhängen, auf welche er meistentheils keinen Einfluß hat, vielmehr führt er sie willkürlich und planmäßig herbei, d.h. er experimentirt“ (S. 6).
[7] Von den insgesamt 128 Kongressteilnehmern in Innsbruck waren 53 Personen Mitglied der 1904 in Gießen unter der Ägide von Georg Elias Müller gegründeten „Gesellschaft für experimentelle Psychologie“, der heutigen „Deutschen Gesellschaft für Psychologie“.
[8] Vgl. hierzu die Erwiderungen von Max Wertheimer (1923) und von Wolfgang Köhler (1923).
[9] Im Albert Einstein Archiv an der Hebrew University of Jerusalem ist für das Jahr 1951 zudem ein Briefwechsel zwischen Einstein und Erismann bewahrt geblieben (Archival call number: 9-254, 9-254.1, 9-255). Im Zentrum des Gedankenaustausches steht die Publikation „Wahrscheinlichkeit im Sein und Denken. Kurze Darstellung einer Wahrscheinlichkeitstheorie mit Nachweis ihrer Geltung im Naturgeschehen“ von Theodor Erismann (1951) zum Problem der Berechtigung des induktiven Denkens.
[10] „Aus unmissverständlichen Formulierungen offenbarte sich mir ein Geist, der mehr als befremdend erscheint und mich zu Folgerungen zwingt. Da Sie auch meiner Fakultät angehören, warne ich Sie als Dekan dringendst, die im Vortrag enthüllte Einstellung bei irgendwelcher Gelegenheit und in irgendwelcher Form Ihren Hörern zu vermitteln. Sollten mir als Dekan diesbezügliche Mitteilungen zukommen, müsste und würde ich unerbittlich einschreiten. Die Folgen wären für Sie katastrophal.“ Dekan Otto Steinböck am 29. Februar 1944 an Theodor Erismann (UAI Personalakt Theodor Erismann).