Bericht zur Evening Lecture "Die ultra-vires Lehre des Bundesverfassungsgericht - Krise oder Chance für Europa?"
Am Mittwoch, den 13. Oktober 2021 fand die erste Evening Lecture im Wintersemester 2021/2022 statt. Prof. em. Dr. Dr. h.c. mult. Dieter Grimm, LL.M. (Harvard), Professor für Öffentliches Recht der Humboldt-Universität zu Berlin eruierte in dieser Hybrid-Veranstaltung die Strahlkraft der vom deutschen Bundesverfassungsgericht praktizierten ultra-vires Lehre für die Europäische Union. Den Vortrag kommentierte Univ.-Prof. Dr. Walter Obwexer, Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität und Professor für Europarecht.
Zunächst konstatierte Prof. Grimm, dass der langjährige Kompetenzstreit des Deutschen Bundesverfassungsgerichts und des EuGH, der jüngst im sog. PSPP-Urteil1 des BVerfG seinen vorläufigen Höhepunkt fand, nicht etwa nur Ausfluss eines hierarchischen Machtstreits zweier Höchstgerichte sei. Vielmehr ginge es um die grundlegende rechtsdogmatische Frage, ob neben dem EuGH auch ein nationales oberstes Gericht Handeln der Unionsorgane für unwirksam erklären könne bzw. die Kompetenz zur Feststellung besitze, dass ein EU-Organ ultra-vires gehandelt habe.
Prof. Grimm arbeitete heraus, dass das deutsche Bundesverfassungsgericht – anders jüngst als das polnische Verfassungsgericht – nicht grundsätzlich den Anwendungsvorrang des Europarechts in Frage stelle, jedoch die Auffassung vertritt, dass der Union nur die Zuständigkeit für solche Maßnahmen zukommen könne, die ihr nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung zugewiesen sind (Art. 5 EUV). Die unbefugte Übernahme nationalstaatlicher Souveränität sei jedoch durch das Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1, 2 GG) und somit auch von der 1 BVerfG, 2 BvR 859/15. Ewigkeitsgarantie (Art. 79 Abs. 3 GG) geschützt. Die ultra-vires-Kontrolle müsse mithin (auch) dem Bundesverfassungsgericht zustehen und sei erforderlich, um vor einer eigenmächtigen Kompetenzübernahme durch die Union zu schützen.
Demgegenüber vertrete der EuGH in diesem Kontext den Standpunkt, dass sich das Unionsrecht vom Willen der Mitgliedstaaten emanzipiert habe und seinen Geltungsgrund in einer Rechtsquelle sui generis finde, die ihre Grundlage direkt in den Verträgen habe. Daraus leite der EuGH auch seine alleinige Feststellungskompetenz mit Blick auf allfällige Kompetenzüberschreitungen (ultra-vires) durch EU-Organe ab. Weiters bemerkte Prof. Grimm, dass der EuGH in den vergangenen Jahrzehnten in und mit
seiner Rechtsprechung durchaus auch gesamteuropäische Integrationsbestrebungen aktiv vorantreibe und als Ausfluss dieses Umstands beispielsweise das Verhältnismäßigkeitsprinzip auf das nationale Recht der Mitgliedstaaten strikter anwende, als auf das Europarecht.
Die Lösung des Kompetenzstreits, sei – so Prof. Grimm – nicht auf der Ebene des Unionsrechts erreichbar, da sich beide Höchstgerichte auf die Verträge stützen, daraus aber unterschiedliche Schlussfolgerungen ziehen würden. Da beide Gerichte ihre Kompetenz zur Feststellung von ultra-vires Akten durch EU-Organe dogmatisch vertretbar begründen, würde ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland mehr Schaden als Nutzen verursachen. Die einzige gangbare Lösung sei insofern die Signalisierung von wechselseitiger Dialogbereitschaft in Karlsruhe und Luxemburg.
Im Anschluss an den spannenden und leidenschaftlich vorgetragenen Vortrag von Prof. Grimm folgte ein nicht minder leidenschaftlicher Kommentar von Univ.-Prof. Obwexer, der als habilitierter Professor für Europarecht wenig überraschend eine in bestimmten Nuancen differierende Ansicht zur Thematik vertrat. Danach folgte eine lebhafte Diskussion mit den Teilnehmer*innen unter anderem über die Idee eines europäischen Kompetenzgericht und die Bedeutung des supranationalen Charakters des Europarechts an sich, sowie die Auswirkungen des jüngsten Urteils des polnischen Verfassungsgerichts, welches den Vorrang von EU-Recht an sich bestreitet.
(Julian Nigg)