La Scapigliatura – Italiens Weg in die Moderne.
Schreiben gegen den nationalen Kanon.
Eine Einführung. (Arbeitstitel)
"Noi siamo figli dei padri ammalati; aquile al tempo di mutar le piume svolazziam muti, attoniti, affamati, sull'agonia di un nume. […]"
(Preludio di Emilo Praga)
DFG-Forschungsprojekt (eigene Stelle) ( 1.4.2006-1.2.2011)
Exposé
Das Forschungsprojekt arbeitet die weitgehend unerforschte norditalienische Avantgarde La Scapigliatura (1856-1880) auf und strebt eine Neubewertung ihrer Rolle in der Literatur- und Kulturgeschichte an. Durch die kritische (Re)Lektüre der fiktionalen und journalistischen Texte wird daher ein neues Licht auf die Kanonisierung und Periodisierung (Romantik/Moderne) der Literatur des Ottocento geworfen. Die Scapigliati holen die französische Moderne nach Italien und antizipieren dabei schon Forderungen der historischen Avantgarden: die Rücküberführung der Kunst in die Lebenspraxis, Modi der Trans- und Intermedialität und vor allem den ostentativen Bruch mit den Traditionen. Es ist heute unbestritten, dass der italienischen Literatur im Einigungsprozess eine besondere identifikatorische Rolle zukommt. Während Francesco de Sanctis in seiner Storia della letteratura italiana (1870/71) dem gerade geeinten Italien sein ideologisches Fundament verleiht, können die Scapigliati zeitgleich nur Trümmer des Nationalen ausmachen. Indem die Literatur in Italien ein entscheidendes Leitmedium der nationalen Formierung Italiens ist, weist meine Untersuchung über die literarische Formierungsprozesse hinaus und vermag das kulturelle Feld Italiens im ausgehenden Ottocento neu zu verorten.
Ich zeige, wie sich die Scapigliati in ihren fiktiven und in ihren publizistischen Texten gegen die hegemoniale Kanonisierung des Nationalen wenden, was wiederum bis heute zu ihrer Negativkanonisierung führt. Im Mittelpunkt des Interesses stehen dabei (a) die intramedialen Bezüge auf die französischen Moderne und (b) die intermedialen Bezüge auf die Malerei, da sie hier das Konzept eines ,wahren Sehens’ (vs. des akademischen Schreibens) verorten, das sie für die Literatur fruchtbar machen wollen. Die Abwendung von nationalen Literaturtraditionen führt zu einer ‚Europäisierung’ der italienischen Literatur und die Hinwendung zu visuellen Medien kann ebenfalls als eine Strategie der Überschreitung bezeichnet werden, die sich – wie ich schon in anderen Texten herausgestellt habe – vom frühen Novecento bis hin zur gioventù cannibale fortsetzen wird. Intermedialen Bezüge sind in der italienischen Literatur oft durch den Wunsch nach dem Traditionsbruch motiviert sind – ohne dass darin bislang eine Tradition gesehen wird.
Ferner unterminieren die Scapigliati das zeitgenössische nationale Literaturparadigma des mimetischen Schreibens durch Strategien der Komik, der Fantastik und einer ‚anti-letteratura’. Diese Verfahren fungieren als Fiktionshäresie, die sich der Fiktion bemächtigen, sie gleichzeitig überschreiten und zu einer Gegenfiktion werden. Parallel dazu greifen die Autoren auf die bis zu Beginn des Novecento diskreditierten Massenmedien zurück. Die zahlreichen journalistischen Texte der Scapigliati öffnen einen weiteren Raum für das Ringen um die kollektive Identität Italiens. In einem letzten Schritt zeichne ich anhand der Negativkanonisierung der Scapigliatura nach, in welcher Art und Weise die Hierarchisierungsverfahren in der italienischen Literaturgeschichtsschreibung bis heute funktionieren. Die nationale Identität stiftende Funktion der italienischen Literatur gibt dem Forschungsprojekt eine geschichtswissenschaftliche Akzentuierung. Die Bezugnahme auf Malerei und Publizistik zum anderen situiert die Arbeit an der interdisziplinären Schnittstelle von Literatur-, Geschichts-, Kultur- und Kunstwissenschaft.
Die geplante Monografie wird die erste deutschsprachige Veröffentlichung über die Scapigliatura überhaupt sein, die nun auch in Italien langsam das Interesse der Wissenschaftler/innen geweckt hat, wie die große Ausstellung „Scapigliatura. Un pandemonio per cambiare l’arte”, im Palazzo Reale in Mailand von Juni bis November 2009 zeigt.