Mittwoch, 05. Juni 2024 um 17.00 Uhr im Fakultätssitzungssaal der Sowi
Die Ontologie des Sozialen und die Relevanz deutschsprachiger Klassiker der Soziologie für eine krisenbelastete wissenschaftliche Disziplin im 21. Jahrhundert
Dieser Vortrag liefert einen kurzen Einblick in einen Teil eines derzeit in Vorbereitung befindlichen Buches, das die Relevanz "klassischer" Sozial- und Gesellschaftstheorien - um eine von Andreas Reckwitz vor Kurzem neu definierte Unterscheidung zu gebrauchen - seit Georg Simmel für die großen aktuellen Themen einer global orientierten Soziologie durchleuchtet. Insbesondere widme ich mich dabei einer Kritik an oft verkürzten Lesarten in der internationalen Rezeption Max Webers, Georg Simmels und anderer deutschsprachiger Soziologen. Eine solche Kritik stellt Teil einer historischen Analyse dar, die auf eine bisher zu wenig beachtete "German-language lineage of sociology" verweist: diese ist zwar äußerst heterogen, „kreuzt“ nur zum Teil die Frankfurter Schule, ermöglicht allerdings charakteristische Betonungen und Perspektiven, von denen wiederum die heutige Soziologie mit ihren Schwachstellen und blinden Flecken profitieren könnte.
Im Rahmen dieses Vortrags soll dies anhand von drei Beispielen dargestellt werden. Ich beginne mit einer Diskussion zentraler Ideen in Georg Simmels Soziologie: jener der „Kreise gesellschaftlicher Bindung“; und von Simmels basaler Vorstellung von „Wechselwirkungen“. Diese grundlegenden Kategorien in Simmels Werk ermöglichen, so meine Behauptung, eine dringend notwendige Neubewertung zeitgenössischer Identitätspolitik und Atomisierung. Mein zweites Beispiel bezieht sich auf Norbert Elias‘ historischer Gegenüberstellung von Autarkie und geografisch weitreichenden „Verflechtungen“. Auch hier ist eine Ontologie des Sozialen erkennbar, von der die aktuelle Soziologie profitieren könnte. Genauer wage ich hier – auf Grundlage von Elias‘ Darstellung der korrelierenden Prozesse der Zivilisation, der komplexeren Verflechtungen, und der Pazifizierung - meine zweite Behauptung: dass globalisierungskritische Argumente hinsichtlich ihrer unbeabsichtigten, allerdings durchaus erwartbaren Nebenwirkungen neu zu reflektieren seien. Mein drittes Beispiel ist methodologischer Natur und bezieht sich auf Max Webers verstehende Soziologie. Meine diesbezügliche Argumentationsschiene baut auf Rainer Lepsius‘ (2016: 4-5) Überlegungen zu Webers „dreipoligem“ Schema auf: letzteres stellt den Anspruch, die komplexen (oder quasi „mehrspurigen“) Verbindungen zwischen Bedeutungen/Ideen/Werten, sozialen Handlungen, und Strukturen/ Institutionen zu erkennen. Meine dritte und ebenfalls gewagte Behauptung ist es, dass spätere und aktuelle Versuche, qualitative Studien in Max Webers verstehender Soziologie zu verankern, der Ambition und dem Anspruch Webers oft nicht gerecht werden.
Christian Karner ist derzeit Professor der Soziologie an der University of Lincoln und war davor – neben Forschungsaufenthalten in Polen, Griechenland und den USA – lange Zeit an der University of Nottingham und als Leverhulme post-doctoral Fellow tätig. Christian ist derzeit co-editor-in-chief von Sociological Research Online. Seine langjährigen Forschungsschwerpunkte und die daraus resultierenden Publikationen behandeln die Themenfelder Nationalismus (insbesondere in Österreich), Ethnizität, Globalisierung, Stadtsoziologie, und Erinnerungspolitik. Seine jüngst erschienenen Bücher waren Nationalism Revisited: Austrian Social Closure from Romanticism to the Digital Age (Berghahn, 2020) und Sociology in Times of Glocalization (Anthem, 2022). Zu seinen Herausgeberschaften zählen The Use and Abuse of Memory (mit Bram Mertens, 2013), mit Dr. Bernhard Weicht The Commonalities of Global Crises (2016) und jüngst The Sociology of Globalization (mit Dirk Hofäcker, 2023). Dieser Vortrag beruht auf einem Buch, an dem Christian derzeit arbeitet und das in der Routledge- und British Sociological Association Reihe zu "Sociological Futures" erscheinen wird.