Bild einer Burg und eines Inventars

Tru­hen, Spo­ren und die Gol­dene Gei­ßel

Anhand von Inventarlisten machen sich Forscher:innen des Instituts für Sprachwissenschaft der Universität Innsbruck und des Instituts für Geschichtswissenschaften der Universität Salzburg daran, das Alltagsleben im Mittelalter zu entschlüsseln und sichtbar zu machen.

Zu den sichtbarsten Spuren, die das Mittelalter hinterlassen hat, gehören Burgen. An vielen Orten Europas prägen sie das Stadt- oder Landschaftsbild, mal als kaum erkennbare Ruine, mal als vollkommen restaurierter Prachtbau. Wie so viele Orte aus der Vergangenheit laden sie zum Tagträumen ein. Wie sah es hier wohl vor genau 500 Jahren aus? Was haben die Menschen gedacht, die sich durch diese Räume und Gänge bewegt haben, wie haben sie gelebt? Aus wissenschaftlicher Sicht ist diese Frage schwer zu beantworten, weil die damaligen Chronisten sich hauptsächlich für das Leben und Wirken von Männern interessiert haben. Außerdem schrieben sie eher über Ritter und den Adel und nicht unbedingt über das Leben der einfachen Leute, schon gar nicht auf Burgen. Das Bild von kämpfenden Rittern als Inbegriff des Mittelalters hat sich durch Filme, Romane, Kinderbücher und nicht zuletzt Spielzeug in der Popkultur festgesetzt. Eine Forschungskooperation der Universität Salzburg und der Universität Innsbruck versucht nun auf sehr originellem Weg, dieses Bild zu hinterfragen. Dafür analysieren die Wissenschaftler:innen Dokumente, die nicht weiter entfernt sein könnten von einer verklärten Mittelalterromantik. Nämlich Inventare. Sichtbare Beziehungen Burginventare sind, wie der Name bereits vermuten lässt, Listen, die alle vorhandenen Möbel und Gerätschaften auf Burgen dokumentieren. Im Tiroler Landesarchiv sind rund 240 solcher Inventare aus dem Mittelalter erhalten geblieben. Diese Listen sind aber mehr als eine bloße Aufzählung von Objekten. Denn sie liefern auch Information über Beziehungen, über Besitzverhältnisse und die Menschen, denen die Objekte gehörten oder die sie nutzten. Um dieses komplizierte Geflecht übersichtlich und analysierbar zu machen, bedarf es zunächst einer fachkundigen Aufbereitung der Daten aus den Tiroler Burgen. Diese Aufgabe fällt einem Team der Universität Innsbruck zu, unter der Leitung von Claudia Posch und Gerhard Rampl vom Institut für Sprachwissenschaft und Gerald Hiebel vom Institut für Archäologie und dem Digital Science Center.

Diese haben gemeinsam schon mehrere interdisziplinäre Digital-Humanities-Projekte erfolgreich abgeschlossen und forschen zu linguistischen und semantischen Verfahren der Textaufbereitung und -analyse. „In den Inventaren finden sich oft Handlungen, die mit Dingen in Verbindung stehen“, erzählt Posch. „Zum Beispiel, dass ein bestimmter Gegenstand von einer Person an eine andere verschenkt wurde. Dann kann darüber eine Beziehung eingesehen werden. Oder ein Werkzeug, dass gerade nicht da ist, weil es jemand auf die Alm mitgenommen oder der Schmied es gebraucht hat. Wenn man den Fokus auf solche Details legt, kann man das Alltagsleben auf der Burg gut rekonstruieren.“ Als erster Schritt steht hierbei die Transkription der mittelalterlichen Dokumente an. Dafür wird unter anderem die an der Universität Innsbruck mitentwickelte Software Transkribus verwendet, die durch künstliche Intelligenz Handschriften erkennen und digitalisieren kann. „Anschließend werden die digitalen Texte als Daten weiterverarbeitet“, erklärt Posch. „Dazu weisen wir den Textbausteinen semantische Informationen zu – zum Beispiel, ob etwas eine Person, ein Gegenstand, ein Tier oder eine Handlung ist. Dann können diese Begriffe mit Mindmaps visualisiert und miteinander in Beziehung gesetzt werden. Wenn ich dann anfrage, wo es auf einer Burg überall Truhen gab, kann mir ein Diagramm zeigen, in welchem Raum Truhen standen und wer mit ihnen zu tun hatte. Anschließend könnte ich mich zu jeder Person weiterklicken und ihr eigenes Beziehungsgeflecht einsehen.“ Der Himmel sorgt für Verwirrung Zu der Textverarbeitung gehört auch die Erstellung eines sogenannten Thesaurus, einer Datenbank, in der einzelne Begriffe definiert werden – zum Beispiel der Gegenstand „Truhe“. Alle anderen Truhen, seien sie anders geschrieben oder spezieller definiert, werden diesem „Überbegriff“ zugewiesen, sodass bei der Suche nach „Truhe“ auch wirklich alle gefunden werden können. Die dafür notwendige Vereinheitlichung ist mitunter sehr kompliziert. Die Projektleiterin an der Universität Salzburg, Christina Antenhofer, verweist dabei gerne auf den in den Inventaren häufiger vorkommenden Begriff „Himmel“. Gemeint ist damit ein Baldachin, wie er oft über Betten aufgespannt wurde. „Neben dem Betthimmel gab es allerdings auch einen Himmel für Tische und einen für Altäre, der während Prozessionen genutzt wurde. Um was für einen Himmel es sich also tatsächlich handelt, muss erst aus dem Kontext herausgearbeitet werden. Das hat uns oft verrückt gemacht“, sagt Antenhofer und muss lachen. Zu Antenhofers und Poschs besonderem Interesse zählt vor allem das Alltagsleben von Frauen auf der Burg, über das nicht viel überliefert ist. Obwohl das Projekt erst im Oktober 2022 startete, hat die Vorarbeit dazu bereits interessante Erkenntnisse zutage gefördert. „Zunächst kann man mit der Vorstellung aufräumen, dass es bestimmte Objekte gibt, die sich klar Frauen zuordnen lassen“, erklärt Antenhofer. „Dadurch wurden früher Räume oft falsch bestimmt und als exklusive Frauenräume definiert, weil sie zum Beispiel Kochgeschirr enthielten. Das ist absurd, weil auch Männer gekocht haben. Ein anderes Beispiel sind Reitersporen, die in der Forschung nur Männern zugewiesen werden. Wir konnten aber über Inventare nachweisen, dass auch Frauen Sporen besessen haben und diese so wie Männer zum Reiten benutzt haben. Generell muss man verstehen, dass Frauen im Mittelalter nicht abgeschlossen von der Männerwelt existierten, sondern viele Tätigkeiten sich mit denen von Männern überschnitten. Es gibt natürlich auch Frauen, die selbst Burgherrinnen waren, wenn ihnen Burgen etwa als Mitgift überschrieben wurden.“ Aus dem Projekt sollen noch viel mehr Anwendungen entstehen, die auch für die Öffentlichkeit interessant und zugänglich sind. Dazu gehört eine 3D-Visualisierung ausgewählter Burgen unter der Leitung von Ingrid Matschinegg am Institut für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit der Universität Salzburg. In diese 3D-Burgenmodelle werden die Daten aus der Inventarforschung eingearbeitet und beleben damit das Innere der Burg. Auch der bereits erwähnte Thesaurus ist Teil eines viel größeren Vorhabens namens CIDOC CRM. Dieses Vorhaben der Digital Humanities wird von vielen verschiedenen Forschungsgruppen weltweit betreut und soll zu einem Thesaurus wachsen, der die gesamte Welt erfasst – nicht nur alle Dinge, die existieren, sondern alle Dinge, die jemals existiert haben, versehen mit einer eindeutigen ID, die unabhängig von Sprachen funktioniert. Eine Truhe aus einer englischen Burg könnte somit sofort auf eine Truhe in einer Tiroler Burg verweisen. Noch ein Nachtrag zu Truhen: Dass diese so oft in Inventaren erwähnt werden, liegt daran, dass Truhen im Mittelalter das Multifunktionsobjekt schlechthin waren. Sie wurden als Reisekoffer, Schrank, Tisch und Sitzgelegenheit genutzt. Hin und wieder tauchen in den Listen aber auch deutlich ausgefallenere Gegenstände auf. „Im Brautschatzinventar einer Fürstin habe ich einmal eine Geißel gefunden, die aus Silber und Gold bestand und mit Perlen besetzt war“, sagt Antenhofer. „Da frage ich mich immer noch, was genau damit gemacht wurde.“ 

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