Verhaltensbiologie
Die Modellierung biologischer Organismen stellt sowohl für die Physik als auch für die Biologie eine Herausforderung dar, da es schwierig ist, ein gutes Gleichgewicht zwischen dem Abstraktionsgrad, mit dem die Individuen beschrieben werden, und der Erklärungskraft des Modells zu finden. Das Paradigma der künstlichen Intelligenz (KI) - oder des künstlichen Handelns - eröffnet neue Möglichkeiten, die Beschreibung der einzelnen Organismen zu bereichern und so komplexe Prozesse wie die Evolution aus einer völlig anderen Perspektive zu modellieren. Wir verwenden die projektive Simulation (PS), um biologische Einheiten als künstliche Lernagenten zu modellieren, die untereinander und mit der Umwelt im Rahmen eines Verstärkungslernens interagieren. Dieser neue Ansatz ermöglicht es uns, faszinierende Phänomene wie die kollektive Bewegung [1, 2] von Tieren bei der Nahrungssuche, z. B. von Heuschreckenschwärmen, oder die kollektive Verteidigung von Honigbienenvölkern [3] zu untersuchen. Der evolutionäre Druck, der sich aus der Knappheit der Nahrung oder dem Angriff eines Raubtiers ergibt, kann in der Belohnungsfunktion kodiert werden, so dass die iterative Interaktion des Ensembles von Agenten mit der Umwelt als evolutionärer Prozess interpretiert werden kann.
Kollektive Bewegung bei der Futtersuche
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Das bekannte Phänomen der kollektiven Bewegung, das beispielsweise bei Heuschreckenschwärmen, Fischschwärmen und vielen anderen Tieren zu beobachten ist, wird seit Jahrzehnten eingehend untersucht. Moderne Verfolgungstechnologien haben dazu beigetragen, unser Verständnis dafür zu verbessern, wie individuelle Interaktionen zu kollektivem Verhalten führen können [*]. In unserer Gruppe haben wir PS angewandt, um Verhaltensexperimente zu modellieren, z. B. marschierende Heuschrecken in einer ringförmigen Arena [1] oder allgemeinere Szenarien, in denen Gruppen von Agenten in ressourcenreichen oder ressourcenknappen Umgebungen nach Nahrung suchen [2].
Kollektive Verteidigung von Honigbienenvölkern
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Stechen oder nicht stechen, das ist hier die Frage. In einer spannenden Zusammenarbeit mit Biologen der Universität Konstanz haben wir die individuellen Reaktionen von Honigbienen auf das so genannte Alarmpheromon untersucht, eine Substanz, die freigesetzt wird, wenn die Biene sticht, und die das Bienenvolk vor möglichen Eindringlingen warnt [3]. Wir modellieren das Bienenvolk als ein Ensemble von PS-Agenten, die wiederholt auf Räuber treffen und deren Erfolg als Volk von den verbleibenden lebenden Bienen abhängt, da eine Biene sowohl beim Stechen als auch beim Tod durch den Räuber stirbt. Die kollektive Verteidigung setzt sich aus einer Reihe von Einzelentscheidungen zusammen, bei denen jede Biene entscheidet, ob sie sticht oder nicht.
Quantenbiologie
Die Frage, inwieweit Quantenkohärenz in biologischen Systemen ausgenutzt wird, um z. B. deren Effizienz zu steigern, hat in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit erregt. Beispiele für das Interesse sind der Prozess der Lichtsammlung in der Photosynthese oder der Radikalpaar-Mechanismus als Modell für die Magnetrezeption von Vögeln. In unserer Forschung untersuchen wir die allgemeinen Bedingungen für das Vorhandensein von Quantenkohärenz und Verschränkung in biologischen Systemen sowie deren mögliche Rolle für biologische Funktionen.
- Wir untersuchen die Modelle von Nicht-Gleichgewichts-Quantensystemen, die in der Lage sind, Verschränkung in einer verrauschten Umgebung zu erzeugen und aufrechtzuerhalten. Wir interessieren uns für solche Modelle sowohl unter dem Gesichtspunkt des Aufbaus eines rauschresistenten Quantencomputers, der unter Raumtemperaturbedingungen arbeiten könnte, als auch unter dem Gesichtspunkt der Identifizierung von verschränkungserhaltenden Mechanismen auf molekularer Ebene in biologischen Systemen.
- Wir untersuchen den radialen Paar-Mechanismus in der Spin-Chemie, von dem man annimmt, dass er eine zentrale Rolle bei der Magneto-Rezeption von Vögeln spielt. Wir untersuchen die Auswirkungen von Mehrfachbegegnungen und anderen Quellen der Dekohärenz im Radialpaar-Mechanismus, wobei wir sowohl ein stochastisches Kollisionsmodell als auch einen Master-Gleichungsansatz verwenden.
- Wir erforschen den Einsatz von molekularen Fotoschaltern, um die Radikalpaarreaktionen optisch zu steuern und die derzeitige Theorie zur Beschreibung von Spin-Rekombinationen zu testen.
- [1] K. Ried, T. Müller, and H. J. Briegel, Modelling collective motion based on the principle of agency: general framework and the case of marching locusts, PLoS ONE 14(2), e0212044 (2019) [arXiv:1712.01334].
- [2] A. López-Incera, K. Ried, T. Müller und H. J. Briegel, Entwicklung des Schwarmverhaltens bei künstlichen Lernagenten, die sich an verschiedene Futterumgebungen anpassen, PLoS ONE 15(12), e0243628 (2020) [arXiv:2004.00552].
- [3] A. López-Incera, M. Nouvian, K. Ried, T. Müller, and H. J. Briegel, Honeybee communication during collective defence is shaped by predation, BMC Biologie 19, 106 (2021) [arXiv:2010.07326].
- [*] (extern) A. I. Dell et al., Automated imaging-based tracking and its application to ecology, Trends in Ecology and Evolution 29, 417-428 (2014).
- [4] H. J. Briegel und S. Popescu, A perspective on possible manifestations of entanglement in biological systems, in Quantum Effects in Biology, eds. M. Mohseni, Y. Omar, G. S. Engel, M. B. Plenio, Cambridge University Press (2014).
- [5] J. Clausen, G. G. Guerreschi, M. Tiersch, and H. J. Briegel, Multiple re-encounter approach to radical pair reactions and the role of nonlinear master equations, J. Chem. Phys. 141, 054107 (2014) [arXiv:1310.6194].
- [6] G. G. Guerreschi, M. Tiersch, U. Steiner, and H. J. Briegel, Optical switching of radical pair conformation enhances magnetic sensitivity, Chem. Phys. Lett. 572, 106 (2013) [arXiv:1206.1280].
- [7] M. Tiersch, S. Popescu, and H. J. Briegel, A critical view on transport and entanglement in models of photosynthesis, Phil. Trans. R. Soc. A 370, 3771 (2012)[arXiv:1104.3883].
- [8] J. M. Cai, S. Popescu und H. J. Briegel, Dynamic entanglement in oscillating molecules and potential biological implications, Phys. Rev. E 82, 021921 (2010)[arXiv:0809.4906].