4. Herlinde-Pissarek-Hudelist-Vorlesung
Gerechtigkeit als Orientierungsgröße menschlichen Seins und die Gestaltung von Geschlechterverhältnissen
PD Dr. Dr. Andrea Günter, Freiburg i. Br.
Dienstag, 20. November 2018, 18.00 Uhr
Hörsaal 1, Sowi-Gebäude, Universitätsstraße 15
Die (kirchen)öffentliche Diskussion über Geschlechterfragen scheint derzeit vermint. Fundamentalistischer Druck scheint feministische Ambitionen als universitäre Hirngespinste von gender-Theoretikerinnen torpedieren zu können. Das Extrem zwischen Frauenfreiheitsbewegungen und Blaustrumpffeinden des 18. und 19. Jahrhunderts scheint wiederbelebbar.
Hierauf kann (erkenntnis)theoretisch-metaphysikkritisch und politisch geantwortet werden. Denn folgt man Platon, kann Gerechtigkeit als Paradigma entwickelt werden, in dem Epistemologie und Politik miteinander verbunden werden, und zwar gerade mit der Absicht, Extreme zu überwinden. Es lässt sich zeigen: Nicht nur Gerechtigkeit, Erkenntnisweisen und Politik haben ein gemeinsames Schicksal, sondern zugleich Gerechtigkeit, Erkenntnisweisen und die Gestaltung von Geschlechterverhältnissen.
Zur Person: PD Dr. phil., Dr. theol. Andrea Günter, geb. 1963, lebt in Freiburg im Breisgau. Sie ist Privatdozentin für Philosophie und unterrichtet Ethik und Philosophie an verschiedenen Hochschulen und in verschiedenen Fachbereichen. Außerdem ist sie als Systemische Beraterin und Organisationsentwicklerin tätig.
Wichtige Veröffentlichungen: Denkwerkstatt Gerechtigkeit. Gerechtigkeitskonzepte rekonstruieren, Geschlechterverhältnisse neu diskutieren, Ulrike-Helmer-Verlag: Rossbach 2018 (zus. m. Claudia Conrady u.a.); Wertekulturen, Fundamentalismus und Autorität. Zur Ethik des Politischen, Passagen Verlag: Wien 2017; Sonne der Gerechtigkeit. Genealogische Anthropologie, Epistemologie und Geschlechterverhältnisse, in: Thomas Weisser (Hg.), Gender – Theorie oder Ideologie? Streit um das christliche Menschenbild, Herder: Freiburg, Basel, Wien 2017, 215-231; Konzepte der Ethik – Konzepte der Geschlechterverhältnisse, Passagen Verlag: Wien 2014; Geist schwebt über Wasser: Postmoderne und Schöpfungstheologie, Passagen Verlag: Wien 2008; Maria liest. Das heilige Fest der Geburt, Rüsselsheim 2004.
Einladung als PDF (nicht barrierefrei)
Gerechtigkeit für alle? – müssen wir immer neu herausfinden
Geschlechter und Gerechtigkeit
Gibt es „Gerechtigkeit schlechthin“? Existiert „absolute Gerechtigkeit“? Die Freiburger Philosophin PD DDr.in Andrea Günter hielt am Dienstag, 20.11.2018, die mittlerweile 4. Herlinde-Pissarek-Hudelist-Vorlesung an der Universität Innsbruck. Rund 40 Hörerinnen und Hörer folgten Günters Ausführungen. Günter begann ihren Vortrag illustrierend mit einem Zitat des Wiener Erzbischofs Christoph Schönborn: „Wir sind nach wie vor überzeugt, dass Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln ist. Und dass eben eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft, die ihre zivilrechtlichen Absicherungen haben mag und zum Teil ja auch schon hat, eben etwas wesentlich Ungleiches gegenüber der Ehe ist und daher auch ungleich zu behandeln ist.“ (kathpress)
GLEICHES GLEICH UND UNGLEICHES UNGLEICH BEHANDELN – DAS ARISTOTELES-PRINZIP
Ein Gerechtigkeitsdenken, wie es der griechische Philosoph Aristoteles ausarbeitet, mache Menschen zu Dingen, so Günter. Die Philosophin wies dies anhand einer detaillierten Analyse der Nikomachischen Ethik auf. Sie untersuchte hierfür die Gesamtkonstellation Gleichheit-Differenz. Der Dualismus bildet laut Günter eine den Text durchziehende Logik und müsse deshalb gewissermaßen „im Verbund“ beobachtet werden. Es ergeben sich daher für diesen Text mehr als 10 verschiedene Weisen, Gleichheit-Differenz und damit Gerechtigkeit zu verstehen. Die verdinglichende Situation entsteht in Aristoteles Denkraum durch die Einführung des intermediären Gleichen (Nahrung, Geld, Land). Mit der aristotelischen Herangehensweise könne „höchstens Billigkeit“ erreicht werden. Dieses Bewusstsein ist schon in der Nikomachischen Ethik selbst zu finden.
EINE GENEALOGISCHE KRITIK: GERECHTIGKEIT BEDEUTET MEHR ALS „BILLIGKEIT“
Dass auf einer ersten Ebene Gesetze die Materialisierung von Gleichheit und Differenz ausgestalten, auf einer zweiten Ebene immer wieder neu zu erreichende „Billigkeit“ und ein Ausgleich von Ungerechtigkeiten anstehen, zeigt jedoch, dass absolute Gerechtigkeit, „Gerechtigkeit an sich“, „Gerechtigkeit schlechthin“ von diesem Aristotelischen Denken nicht erreicht wird. Günter sprach sich nun gegen ein verdinglichendes Gerechtigkeitsdenken und für eine „zukunftsorientierte“ Gerechtigkeitstheorie aus. „Gerechtigkeit ist ein Streben, das in den Menschen wohnt. Sie ist immer personenbezogen, konkret, situativ, relativ und berücksichtigt das Nicht-Definierbare!“
REKONSTRUKTION VON GERECHTIGKEIT ALS ORIENTIERUNGSGRÖSSE DES SEINS
Günter meint: „Wir können Unrecht beklagen, aber bestimmen, was Gerechtigkeit letztlich inhaltlich ist, können wir nicht.“ Menschen nicht als isolierte Individuen zu sehen, sondern immer als „gemeinschaftliche“ Wesen (Platon) zu verstehen, ist - so meint Günter - unabdingbar. In ihrer Theorie, die an Platon und Arendt anknüpft, wirkt die Zukunft auf das Heute herein. „Gerechtigkeit denkt zwei Dimensionen menschlicher Zeitlichkeit zugleich und ordnet sie moralisch ein: die zu verändernde ungerechte Vergangenheit und die zu gestaltende gerechtere Zukunft.“ Für ihre Rekonstruktion ist es der Freiburger Philosophin wichtig, die individuumszentrierte Sichtweise aufzubrechen und den Reflexionshorizont der Polis, der grundsätzlich auf Gemeinschaft angelegten und angewiesenen Wesen einzuführen.
GESCHLECHTERGERECHTIGKEIT MUSS IMMER WIEDER NEU AUSGEHANDELT WERDEN
„Wir müssen von solchen Versprechen ausgehen, die wir auch morgen noch halten können“, konstatiert Günter. Ein Beispiel, das zum Eingangszitat zurückführt: Zwei Menschen schließen miteinander einen Vertrag und übernehmen gegenseitig Pflichten und Verantwortung. Nun klagen gleichgeschlechtlich Liebende, dass ihrer verbindlichen Pflichtgemeinschaft Anerkennung verwehrt bleibe. Durch so eine Kritik kann ein Dialog, der zu mehr Gerechtigkeit führt, in Gang kommen. Hier zeigt sich das Wesen des Prozesscharakters, den Gerechtigkeit in Günters Konzeption erlangt. „Gerechtigkeit ist eine Orientierungsgröße des menschlichen Seins. Dies betrifft auch Geschlechterfragen.“ (Günter)
Im Anschluss an die 4. Herlinde-Pissarek-Hudelist-Vorlesung diskutierte das Publikum den Vortrag bei
einem Glas Wein.
(Irmgard Klein)