Bild: Ansicht des Stiftes wenige Jahre vor der vorübergehenden Säkularisierung unter bayerischer Herrschaft. Das Aquarell fand sich in den Pfarrakten von Christkindl bei Steyr. // Innsbruck, ULB Tirol, Sign. 100.010. (Credit: ULB Tirol)
Im Zuge der großen Säkularisierungswellen Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts gingen große Teile der Bibliotheken der aufgehobenen Tiroler Stifte und Klöster in staatlichen Besitz über. Auch die Bibliothek des Augustiner Chorherrenstiftes Neustift bei Brixen in Südtirol, die damals als größte und wertvollste des Landes galt, war betroffen: Am 10. April 1809 gelangten 20 Kisten voller Bücher mit einem Gesamtgewicht von 60 Zentnern, also etwa 3000 Kilo, an die Bibliotheca publica Oenipontana in Innsbruck, die heutige Universitäts- und Landesbibliothek Tirol. In den Kisten befanden sich wohl über 150, vorwiegend im Mittelalter handgeschriebene Bücher.
100 davon mussten im Anschluss an den 1. Weltkrieg aufgrund des Friedensvertrages von St. Germain 1919 als Kulturgut an den italienischen Staat übergeben werden. Sie befinden sich heute großteils wieder an ihrem ursprünglichen Aufbewahrungsort, in der Stiftsbibliothek Neustift. Die restlichen Handschriften blieben in Innsbruck. Diese waren Gegenstand eines Pilotprojektes der ULB Tirol zur Vorbereitung der systematischen Digitalisierung ihrer gesamten wertvollen Sammlung von etwa 1.200 mittelalterlichen und neuzeitlichen Handschriften.
Im Rahmen der Digitalisierung werden sämtliche Objekte im Vorfeld auf ihren konservatorischen Zustand hin überprüft, gereinigt und bei Bedarf Sicherungs- und Restaurierungsmaßnahmen gesetzt. Innsbruck, ULB Tirol, Cod. 783. (Credit: Isabella Koranda)
Neustifter Handschriften
Die heute in Neustift befindlichen Handschriften wurden bereits 2018 aus Mitteln des Augustiner Chorherrenstiftes Neustift in Zusammenarbeit mit der Universitätsbibliothek Bozen digitalisiert. Mit dem Abschluss der Arbeiten zur Digitalisierung des Innsbrucker Komplementärbestandes 2021 als Eigenleistung der ULB Tirol ist die Grundlage einer virtuellen Wiederzusammenführung der heute physisch getrennten Handschriftenbestände geschaffen.
Die Volldigitalisate aller Handschriften (in und aus Neustift) sind durchwegs über die an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften angesiedelte Datenbank „Mittelalterliche Handschriften in Österreich – manuscripta.at“ frei zugänglich; die in Innsbruck aufbewahrten Handschriften können darüber hinaus auch direkt über das Portal ULB : Digital der Universitäts- und Landesbibliothek Tirol angesteuert werden. Vorüberlegungen zu einem überregionalen Online-Portal für das wertvolle handschriftliche Kulturgut im Tiroler Raum sind bereits angestellt.
Die Bildproduktion an der ULB Tirol erfolgt in eigens dafür adaptierten Räumen unter Einsatz eines an der Universitätsbibliothek Graz speziell für die Handschriftendigitalisierung entwickelten Kameratisches (Grazer Modell KT 6545), der eine weitgehend berührungsfreie und objektschonende Digitalisierung gewährleistet. (Credit: ULB Tirol)
Kein Digitalisat ohne Metadaten
Die in manuscripta.at verfügbaren Informationen zur äußeren Gestaltung und zu den Inhalten der Handschriften sind Ergebnis mehrerer drittmittelgeförderter Projekte: Die heute in Innsbruck befindlichen Neustifter Handschriften wurden als Teil der gesamten Handschriftensammlung der ULB Tirol in einem vom FWF geförderten Langzeitprojekt bis 2017 wissenschaftlich erschlossen (Leitung: Walter Neuhauser). Die in der Reihe der Denkschriften der Österreichischen Akademie der Wissenschaften gedruckten zehn Katalogbände sind teilweise auch online verfügbar.
Zu den heute wieder in Neustift befindlichen Handschriften ist vor wenigen Tagen ein gedruckter Katalog als Monographie in der Reihe der Denkschriften der Österreichischen Akademie der Wissenschaften erschienen und auch Open Accesszugänglich. In einem von der Autonomen Provinz Bozen-Südtirol geförderten Kooperationsprojekt zwischen der Philosophisch-Theologischen Hochschule Brixen und der ULB Tirol wurden die mittelalterlichen Handschriften in der Stiftsbibliothek Neustift tiefenerschlossen (Leitung: Ursula Stampfer, Claudia Schretter-Picker). Die intensive Zusammenarbeit zwischen Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen Disziplinen ermöglichte wertvolle Synergien und für weitere Forschungen grundlegende Erkenntnisse, u. a. im Bereich der Buch- und Bibliotheksgeschichte, der Überlieferungsgeschichte von Texten, der Buchmalerei, der Musikgeschichte oder der Wasserzeichenforschung.
Innsbruck, ULB Tirol, Cod. 21, Bl. 1r. (Credit: ULB Tirol)
Gehobene Bücherschätze
Die bis heute erhaltenen Neustifter Handschriften liefern einen Querschnitt durch die unterschiedlichen Textgattungen des Mittelalters und der frühen Neuzeit, wobei theologische Handschriften in lateinischer Sprache überwiegen. Daneben sind rare Rechtshandschriften, medizinische Werke, umfangreiches Unterrichtsmaterial für den sprach- und naturwissenschaftlichen Gebrauch. Bemerkenswert ist auch eine Gruppe von Humanistenhandschriften aus dem beginnenden 16. Jahrhundert. Neben solchen inhaltlich interessanten Codices, die zum Teil bislang unbekanntes Quellenmaterial bergen, finden sich hervorragende Zeugnisse der Buchmalerei. Diese heute ausnahmslos (wieder) in Neustift befindlichen Handschriften geben Zeugnis für die Bedeutung der spätmittelalterlichen Neustifter Malschule. Liturgische Handschriften und musiktheoretische Werke belegen die große Rolle, die die Musik und insbesondere der Chorgesang seit jeher in Neustift spielte.
Hervorgehoben seien sieben Handschriften philosophisch-theologischen Inhalts, die den Stellenwert einer virtuellen Rekonstruktion deutlich machen: Die ursprünglich voneinander unabhängigen, schlichten Papierhandschriften des 14. bzw. 15. Jahrhunderts wurden noch im 15. Jahrhundert in Neustift zu einem Sammelband vereinigt. Im Zuge der Barockisierung und der damit verbundenen Neuaufstellung der Bibliothek unter Propst Leopold von Zanna wurde die Handschrift im 18. Jahrhundert aber wieder in ihre ursprünglichen Teile zerlegt. Jeder Teil erhielt dabei den üblichen einfachen Bibliothekseinband. In dieser Gestalt wurden die Bücher 1809 bei der Aufhebung des Stiftes nach Innsbruck gebracht. Drei dieser sechs noch erhaltenen Handschriften befinden sich heute noch an der ULB Tirol (Cod. 157, 159 und 164), die anderen drei (Cod. 163, 168, 181) sind seit 1920 wieder in Neustift. Eine weitere Handschrift ist seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr auffindbar. Eine Handschrift kann als ursprünglich erstes Stück des Sammelbandes ausgemacht werden (Cod. 157): Auf dem heutigen Vorsatzblatt sind noch Spuren des ursprünglich grün gefärbten Einbandes zu sehen. Hier findet sich auch ein Inhaltsverzeichnis zum gesamten ehemaligen Sammelband, der uns dessen Inhalt und Umfang genau rekonstruieren lässt. Durch die Digitalisierung sind die sechs, eine Einheit bildenden Handschriften zumindest virtuell wiedervereint.
(Anna Pinter und Claudia Schretter-Picker)
Links
- Website der ULB Tirol zum Pilotprojekt
- Übersicht Neustifter Handschriften in manuscripta.at mit Link zum Komplementärbestand an der ULB Tirol
- Übersicht über die Bestandskataloge (tw. online)
- Handschriften im Portal ULB : Digital der Universitäts- und Landesbibliothek Tirol
- Abteilung für Sondersammlungen
- Homepage des Augustiner Chorherrenstiftes Neustift
- Die mittelalterlichen Handschriften in der Bibliothek des Augustiner Chorherrenstiftes Neustift (Open Access)
- Walter Neuhauser, Katalog der Handschriften der Universitätsbibliothek Innsbruck