Über den generellen Wert solcher Früherzeugnisse des Buchdrucks hinausgehend, kommt vor allem den Sammlungsobjekten mit großem Seltenheitswert besondere Bedeutung zu. Sieben solcher Wiegendruck-Ausgaben, die vor allem aus klösterlichem Vorbesitz an die ULB Tirol in Innsbruck gelangten, sind weltweit nur in einem einzigen Exemplar nachweisbar. Diese bedeutenden Unikate standen im Mittelpunkt von nunmehr abgeschlossenen Erschließungs- und Digitalisierungsarbeiten.
Aus dem Augustiner Chorherrenstift Neustift bei Brixen (Südtirol) gelangten im Zuge der vorübergehenden Aufhebung Anfang des 19. Jahrhunderts hunderte Inkunabeln an die ULB Tirol. Darunter waren auch die folgenden fünf unikalen Inkunabelausgaben:
- Die „Regulae grammaticales antiquorum“ (= GW 11256), die sich mit der Signatur 154 F 10 im Bestand der ULB Tirol befinden, wurden im Jahr 1500 durch Jakob Thanner in Leipzig gedruckt. Die darin überlieferten Regeln zum Kasusgebrauch wurden im Laufe der Zeit von verschiedenen Händen mit Kommentaren versehen. Der für das Augustiner Chorherrenstift Neustift bei Brixen typische Gebrauchseinband mit Goldprägung zeugt von dessen Vorbesitz.
- Das in der Inkunabel 154 F 11 überlieferte Werk „Regulae grammaticales“ des Humanisten Guarino da Verona mit dem Anhang „Carmina differentialia“ (= GW 11622) wurde um das Jahr 1476 in Rom in der Offizin „Apud Sanctum Marcum“ gedruckt und nachfolgend von Hand rubriziert. Für diese lateinische Elementargrammatik kann aufgrund des Einbandes ebenso das Augustiner Chorherrenstift Neustift als Vorbesitzer bestimmt werden.
- Das Werk „Ars minor (Rudimenta grammatices)“ des Aelius Donatus (=GW 8997), das im Frage-Antwort-Stil die Wortartenlehre bespricht, wird in 154 F 28 überliefert. Am 21. Oktober 1484 durch Erhard Ratdolt in Venedig gedruckt, besteht diese Ausgabe aus 24 Blättern. An künstlerischer Ausstattung hervorzuheben ist der in Rotdruck hergestellte aufwändige Zierrahmen auf dem ersten Blatt – eines der Charakteristika von Druckerzeugnissen der Offizin Erhard Ratdolt.
- Das in der Inkunabel 156 F 13 überlieferte Werk „El labirinto“ des Juan de Padilla (= GW M29055) wurde 1493 in Sevilla durch die Drucker Meinhard Ungut und Stanislaus Polonus gedruckt. Es handelt sich dabei um ein Ruhmesgedicht auf Don Rodrigo Ponce de León, der bei der Eroberung des Königreiches Granada (1482–1492) eine bedeutende Rolle spielte. Zudem ist es das einzige Werk in spanischer Sprache aus der Inkunabelzeit im Bestand der ULB Tirol. Der Einband dieser Inkunabel verweist auf das Stift Neustift als Vorbesitzer.
- Die Inkunabel 161 E 23/1 umfasst 20 Blätter, wurde ca. 1485 in Vicenza durch Leonhard Achates gedruckt und überliefert das Werk „Aesopus moralisatus“ (= GW 38810), eine lateinische Fassung der Fabeln des griechischen Dichters Äsop. Das Buch war ehemals im Besitz des Chorherrenstiftes Neustift, wie dem von Franz Xaver Grass erstellten und 1789 in Brixen erschienenen „Verzeichnis typographischer Denkmäler aus dem 15. Jahrhundert, welche sich in der Bibliothek des regulierten Chorherrenstiftes des heiligen Augustin zu Neustift in Tirol befinden“ zu entnehmen ist.
Weitere Unikate gelangten aus dem Jesuitenkolleg Hall in Tirol und aus dem Zisterzienserstift Stams an die ULB Tirol:
- Der erste Teil eines Sammelbandes mit der Signatur 155 E 17 ist das einzige erhaltene Exemplar der in Köln bei Ulrich Zell um 1485 bis 1490 gedruckten Abhandlung zur Grammatik „Regula Dominus quae pars (D, S)“ (= GW 11162). Der mit einem Kölner Einband versehene Band war ehemals im Besitz der dortigen Jesuitenbibliothek und lässt sich spätestens seit 1571 für die Jesuitenbibliothek in Hall nachweisen. Nach der 1773 erfolgten Aufhebung des Jesuitenordens kam das Buch schließlich 1780 in den Bestand der ULB Tirol.
- Das ca. 1494/95 in Heidelberg durch Heinrich Knoblochtzer gedruckte Werk „Es tu scholaris?“ (= GW 9401) findet sich unter der Signatur 158 E 14, Adl. 11. Der 16 Blätter umfassende Druck ist ein Lateinlehrwerk, das vor allem bei der Erweiterung des Wortschatzes unterstützen soll. Er beinhaltet drei Holzschnitte und ist Teil eines Sammelbandes, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus dem Zisterzienserstift Stams an die ULB Tirol gelangte.
Diese und weitere wertvolle Frühdrucke stehen fortan für Forschungszwecke und der interessierten Öffentlichkeit im Repositorium ULB:Digital zur Verfügung.
Abbildung 2: Ink 161 E 23/1, Ausschnitt von Bl. a2a
Die Inkunabeln sind im Gesamtkatalog der Wiegendrucke sowie im Incunabula Short Title Catalogue nachgewiesen, zudem sind sie in unterschiedlicher Erschließungstiefe im Bibliothekskatalog BibSearch verzeichnet. Aus dem Inkunabelbestand der ULB Tirol werden derzeit neben diesen Unika anlassbezogen auch Titel digitalisiert, die für aktuelle Forschungsinteressen, Projekte oder Online-Themenportale von Interesse sind, besondere regionale Bezüge aufweisen oder aufgrund ihrer Ausstattung Zimelien von unikalem Charakter darstellen. Konservatorische Betreuung, Erschließung und Digitalisierung an der Abteilung für Sondersammlungen tragen dazu bei, diese wertvollen und oft einzigartigen Zeugnisse der Buchdruckerkunst zugänglich zu machen und für kommende Generationen zu sichern.
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