em. o. Univ.-Prof. Dr. Karlheinz Töchterle
Philologisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät
Dem latinistischen Insider ist Karlheinz Töchterle in erster Linie wegen seiner Arbeiten zu Seneca dem Jüngeren bekannt. Als er sich Mitte der 1980er-Jahre in seiner Habilitationsschrift diesem Autor zugewandt hat, standen besonders seine philosophischen Werke hoch in Kurs. Seine Dramen hingegen waren als manieristisch und unspielbar verschrien. Töchterle hielt es da schon eher mit Shakespeare, der sie begeistert imitiert hat, und hat mit seinem großen Kommentar zum Oedipus einen willkommenen Beitrag nicht nur zur Erforschung, sondern auch zur Rehabilitierung des Seneca tragicus geleistet. Heute sind alle seine Stücke kommentiert, Töchterle gehörte damals aber zu den ersten, die sich an eines gewagt haben. So hat er hier also durchaus einen Trend gesetzt – im Übrigen nicht zuletzt deshalb, weil seine Arbeit so reich an philologischer Substanz ist. Wie sehr sie von den Kollegen anerkannt wird, zeigt ein Urteil, das eine der bedeutendsten Latinistinnen unserer Zeit, die kürzlich verstorbene Elaine Fantham aus Princeton, über das Buch gefällt hat. Ihr „The Oedipus has found its patron“ bescheinigt Töchterle wissenschaftliche Exzellenz und fordert andere dazu auf, es ihm gleichzutun.
Töchterles Publikationen verschaffen ihren Lesern nach dem horazischen Motto prodesse et delectare nicht nur einen großen inhaltlichen Gewinn, sondern sind auch ein sprachliches Erlebnis. Das geschliffene Deutsch, das viele seiner Kollegen bewundern, verdankt sich nicht nur dem Germanistik-Studium, das er neben dem der Klassischen Philologie absolviert hat, sondern verweist durch den effektvollen Gebrauch kräftiger Metaphern und pointierter Formulierungen auch auf den durch das Prinzip der Kürze und der überraschenden Wendung geprägten Stil „seines“ Seneca.
Eine wichtige Rolle in Töchterles Forscherleben spielte auch die Fachdidaktik, womit wir uns an den Anfang seines akademischen Werdegangs, nämlich zu seiner Dissertation, zurückbegeben. Sie analysiert die Rolle, die Ciceros De re publica im altsprachlichen Unterricht in Deutschland und Österreich gespielt hat, und ist in zweifacher Hinsicht bemerkenswert. Der erste Grund ist ein inhaltlicher und methodischer. Viele Arbeiten zur Didaktik des altsprachlichen Lektüreunterrichts gingen und gehen davon aus, dass der pädagogische Gewinn in der Beschäftigung mit der Antike darin liegt, den Schülern zu zeigen, dass es bei den Griechen und Römern nicht viel anders zuging als bei uns heute. Töchterle hat genau das Umgekehrte getan. Der in der ciceronianischen Staatschrift enthaltene Fundus an antiken politischen Vorstellungen liefert ihm den in einigen späteren Publikationen noch weiter vertieften Beweis dafür, dass unsere Welt heute in vieler Hinsicht ganz anderen Mechanismen folgt. Ein verkürztes Rekurrieren auf die Antike ist also nicht nur sachlich falsch, sondern – das hat uns die Geschichte gelehrt – geradezu gefährlich. Dies bedeutet für Töchterle jedoch nicht, dass unsere jungen Menschen ohne die Antike auskommen sollen, im Gegenteil: Ein von kritischem historischem Bewusstsein geprägter Zugang ganz im Sinne von Uvo Hölschers Verständnis der Antike als „nächstem Fremden“ birgt ein großes pädagogisches Potential. – Zur zweiten Beziehung, in der diese Arbeit so innovativ war: In den 1970er Jahren, als sie entstand, war eine Dissertation mit fachdidaktischer Ausrichtung ihrer Zeit weit voraus. In der Klassischen Philologie mag die Kluft zwischen Fachwissenschaft und Fachdidaktik zwar weniger tief sein als in anderen, dennoch bedurfte es schon einigen Mutes, eine Promotion mit einem fachdidaktischen Thema anzustreben. Heute ist die Situation zwar noch nicht gut, aber immerhin etwas besser als früher – hier in Österreich auch dank der von Töchterle als Minister angestoßenen Reform der Lehrerausbildung: Endlich kommen unsere zukünftigen Pädagogen auch in jenen Disziplinen, die sie spezifisch auf ihren Beruf vorbereiten, in den Genuss einer akademisch und wissenschaftlich fundierten Ausbildung.
Die Fachdidaktik bemüht sich, eine Brücke zwischen der Antike und den jungen Menschen von heute zu schlagen. Ein weiteres Gebiet, das eine ähnliche Brückenfunktion erfüllt, ist die Rezeptionsgeschichte. Auch sie hat vor Töchterle in Innsbruck kaum jemand professionell betrieben, mittlerweile ist sie aber zu einem Markenzeichen der hiesigen Philologie geworden. Die wichtigste Initiative, die Töchterle hier gesetzt hat, waren zweifellos die PONTES. Zunächst allerdings erschien die Idee, eine Tagung zum Nachleben der Klassischen Antike zu etablieren – eine seiner ersten Initiativen nach der Berufung auf den Innsbrucker latinistischen Lehrstuhl –, durchaus als ein kleines Wagnis. Als 1998 gemeinsam an der ersten Einladung gefeilt wurde und diese dann (damals noch auf Papier) verschickt wurde, hatten wir schon ein etwas mulmiges Gefühl: Würde das wohl jemanden interessieren, und würden potentielle Interessenten den Weg nach Innsbruck finden? Schlussendlich taten das dann aber mehr als dreißig Referenten. Seitdem hatten wir bezüglich der PONTES eigentlich immer nur die eine Sorge, ob wir auch alle Bewerber im Programm unterbringen und ob die Tagungsbände nicht zu dick werden würden – und das, obwohl wir nach der ersten, thematisch offenen Tagung gleich auf Spezialthemen umgestiegen sind. Auf die Rezeption der klassischen Antike im Allgemeinen folgten Antike im Film, in der Rhetorik und in der Alltagskultur, Übersetzung, Altsprachlicher Unterricht, Fälschung, Supplemente antiker Literatur und zuletzt antikes Heldentum in der Moderne. Nebenbei wurden die PONTES auch zu einer Art wissenschaftlichem Exportschlager – sie sind mit einigen von Töchterles Schülern schon dreimal nach Bern und Freiburg i.B. emigriert, aber natürlich immer wieder in die Heimat zurückgekehrt.
Zur Rezeptionsgeschichte gehört schließlich auch die neulateinische Literatur. Ihre Erforschung hat sich unter Töchterles Initiativen als die wissenschaftlich innovativste und folgenreichste überhaupt erwiesen. Mittellatein war in Innsbruck schon seit längerem gut vertreten und ist es nach wie vor (wie es generell schon seit dem 19. Jahrhundert ein respektables wissenschaftliches Fach darstellt) – aber das Latein der Neuzeit? Sich damit zu beschäftigen, galt in den 1990ern, zumindest im deutschen Sprachraum, noch bestenfalls als exotisch und schlimmstenfalls als ketzerisch. Töchterle hat das aber nicht abgeschreckt, sondern eher gereizt. Schon als Thema für den Vortrag, den er 1996 bei der Bewerbung um seine Innsbrucker Professur halten musste, hat er sich die Tirolgedichte des größten lateinischen Poeten des 17. Jahrhunderts, des Jesuiten Jakob Balde, ausgesucht – eine mutige Wahl, aber eine erfolgreiche! Vielleicht hat Töchterle der Schwung, den er aus diesem Erfolg mitgenommen hat, bald darauf die Idee eingegeben, es einmal mit einem einschlägigen Drittmittelprojekt zu versuchen. Auch das Einwerben von Drittmitteln in größerem Stil war damals, zumindest unter Geisteswissenschaftlern, noch eine große Ausnahme, aber Töchterle hast auch das fertiggebracht: Der FWF hat tatsächlich zwei Nachwuchsstellen bewilligt, um die lateinische – und das heißt fast ausschließlich: die neulateinische – Literatur auf dem Boden des historischen Tirol aufzuarbeiten. Am Ende, zwölf Jahre nach Projektbeginn, standen eine Datenbank mit 8000 Werken von 2000 Autoren, eine Tyrolis Latina betitelte Literaturgeschichte von 1400 Seiten – und ein verschworener Haufen von Philologen, die immer noch nicht genug hatten, sondern dem Zauber des Neulatein rettungslos verfallen waren und unbedingt weitermachen wollten. Verwirklichen ließ sich dieser Wunsch durch die Gründung eines Ludwig-Boltzmann-Instituts für Neulatein. Sie ging ebenfalls unter Töchterles Ägide über die Bühne, obwohl er sich seit 2007 nicht mehr ausschließlich der Latinistik widmen konnte, sondern als Rektor die Universität Innsbruck zu leiten hatte. Mittlerweile hat dieses Institut, das in Innsbruck parallel zur universitären Klassischen Philologie aufgebaut worden ist, seine ursprünglich vorgesehene Laufzeit von sieben Jahren schon fast hinter sich, Anfang 2018 wird es nach einem Verlängerungsantrag in sein zweites Septennium eintreten.
Wichtig war Karlheinz Töchterle auch immer, was im akademischen Jargon Nachwuchsförderung heißt. Diese Förderung haben seine Schüler von ihm in einem Ausmaß erfahren, wie es sonst nur ganz wenigen jungen Forschern vergönnt ist. Damit ist nicht nur die Unterstützung für jede Idee und jeden Plan, mit dem man zu ihm kam, gemeint. Schon das ist ein großes Geschenk. Aber etwas anderes ist noch wichtiger: Töchterle hat seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vom ersten Tag der Zusammenarbeit an nicht als Untergebene behandelt, sondern mit völliger Selbstverständlichkeit als jüngere Kolleginnen und Kollegen, und dann sehr bald als Freunde. Von ihm konnte man lernen, dass ein Universitätsinstitut mehr sein kann als eine wissenschaftliche Organisationseinheit ist: ein Ort, wo man voneinander lernt, sich gegenseitig hilft und sich miteinander freut.
(adaptierte Form einer Laudatio, die Martin Korenjak und Wolfgang Kofler, beide Institut für Sprachen und Literaturen, im Rahmen einer Feier für Karlheinz Töchterle am 29. September 2017 gehalten haben)