Nachruf auf Victor Franz Hess

von Rudolf Steinmaurer
Almanach der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 116. Jahrgang (1966)

Mit V. F. Hess ist am 17. Dezember 1964 in Mt. Vernon bei New York einer jener letzten österreichischen Physiker dahingegangen, die den Umbruch, der sich vor etwa einem halben Jahrhundert in der Physik vollzogen hatte, in voller Schaffenskraft stehend, tätig miterlebten. Hess' Lehrer gehörten noch der ,,alten Schule" an, er selbst aber ist durch seine Entdeckung der kosmischen Strahlung einer der Begründer der modernen Physik geworden. Denn die Entdeckung der kosmischen Strahlung kann sich in ihrer Bedeutung beinahe mit der der Radioaktivität am Ende des vorigen Jahrhunderts messen, ging doch von ihr eine Fülle von Anregungen für alle Gebiete der Naturwissenschaften aus, und wurde doch ihre Erforschung zu einer Quelle neuer Erkenntnisse, die bis heute nicht versiegt ist.

Hess wurde am 24. Juni 1883 auf Schloß Waldstein bei Deutsch-Feistritz in der Mittelsteiermark als Sohn eines Forstrates geboren. Nach Absolvierung des Gymnasiums studierte er 1901 bis 1905 an der Universität Graz bei Leopold v. Pfaundler Physik. In seiner Dissertation behandelte Hess das Brechungsvermögen von Mischungen zweier Flüssigkeiten unter Berücksichtigung der beim Mischen eintretenden Volumsänderung. Am 16. Juni 1906 wurde er sub auspiciis Imperatoris zum Dr. phil. promoviert. Hess hatte ursprünglich die Absicht, sich bei Drude in Berlin weiter optischen Studien zu widmen, aber durch den plötzlichen Tod Drudes kam dieser Plan nicht zur Ausführung. Pfaundler verschaffte ihm nun einen Arbeitsplatz bei Franz Exner am 2. Physikalischen Institut der Universität Wien.

Victor F. Hess an seinem Schreibtisch im Wiener Radiuminstitut

An seinem Schreibtisch im Wiener Radiuminstitut wertet Victor F. Hess die Daten der Ballonfahrten aus und verfasst jene Publikation, die ihn später weltberühmt macht.

Institut für Radiumforschung, Wien, 1916

Der Eintritt in das Wiener Institut wurde für Hess' weitere wissenschaftliche Entwicklung entscheidend, denn er wurde nun in die Radioaktivität und Luftelektrizität eingeführt, Fachgebiete, denen er sein Leben lang treu blieb und in denen er seinen großen Erfolg errang. Exner hatte einen Kreis von hochbegabten Mitarbeitern und Schülern um sich geschart, von denen nur die Namen Benndorf, Hasenöhrl, Hevesy, Kohlrausch, Lecher, Mache, St. Meyer, Paneth Przibram, v. Schweidler genannt seien. Auch Schrödinger und H. Thirring gehörten später diesem Kreis an, der sozusagen eine Familie bildete und in dem jeder Gelegenheit hatte, seine Fähigkeiten voll zu entfalten. In dieser Zeit veröffentlichte Hess seine ersten Untersuchungen über Strahlung und Zerfallskonstante verschiedener radioaktiver Stoffe. Mit der Arbeit ,,Absolutbestimmungen des Gehaltes der Atmosphäre an Radiuminduktion" habilitierte sich Hess 1910 und erhielt im gleichen Jahre die Stelle eines Ersten Assistenten am neugegründeten Institut für Radiumforschung in Wien, dessen Direktor St. Meyer war. Hess fand in ihm einen Freund und großzügigen Förderer seiner Arbeiten. An diesem Institut eröffnete sich für Hess ein weites Betätigungsfeld. Die Erforschung der Radioaktivität stand damals erst in den Anfängen, und die zur Verfügung stehenden Mittel ermöglichten die Bearbeitung einer Fülle von Problemen. Von Exner zu luftelektrischen Studien angeregt, widmete Hess sich besonders der Untersuchung der in der Atmosphäre enthaltenen radioaktiven Stoffe, bestimmte den Ionengehalt der Atmosphäre unter verschiedenen Bedingungen usw. Die glückliche Kombination seiner Erfahrungen sowohl auf dem Gebiete der Radioaktivität als auch der Luftelektrizität führte schließlich zur Entdeckung der kosmischen Strahlung, die Hess selbst wie folgt schilderte 1):

,,... Nachdem ich im Frühjahr 1911 einen Bericht über P. Wulfs Eiffelturm-Experimente gelesen hatte, war ich geneigt anzunehmen, daß bei all diesen Experimenten ein bisher noch unbekannter Ionisator in Erscheinung getreten sei, und ich beschloß, das Problem durch unmittelbare Experimente selbst in Angriff zu nehmen. Es erschien mir notwendig, genau die Absorption der Gammastrahlen des Radiums in Luft zu bestimmen, um zu finden, bis in welche Entfernungen über dem Erdboden Gammastrahlen noch als ein ionisierendes Agens wirken können. Ich führte diese Messungen in Wien aus, wobei ich eine größere MengeRadium (1500 mg) als Gammastrahlenquelle benutzte und die Ionisation in einem geschlossenen Gefäß beobachtete, das im Freien in verschiedenen Entfernungen bis zu 90 m von der Strahlenquelle aufgestellt war. Der aus diesen Messungen für Luft berechnete Absorptionskoeffizient war von der erwarteten Größe, und so konnte mit Sicherheit ausgesagt werden, daß die Gammastrahlung, die vom Boden ausgeht, fast vollständig in den ersten 500 Metern über dem Erdboden absorbiert wird.

Der nächste Schritt war die Konstruktion einer luftdichten Ionisationskammer, die bei Freiballonaufstiegen verwendet werden konnte und die mit einem empfindlichen Elektrometersystem ausgestattet war, das durch die starken Temperaturschwankungen während dieser Flüge nicht beeinflußt wurde. ... Mit solchen Instrumenten unternahm ich zehn Ballonaufstiege. Zwei im Jahre 1911, sieben im Jahre 1912 und einen im Jahre 1913. ... Durch rasch aufeinanderfolgende Messungen der Ionisation mit zwei oder mehr Instrumenten konnten recht zuverlässige Daten gewonnen werden. Ich fand, daß in 500 m über dem Boden die Ionisation im Mittel ungefähr 2 I niedriger als auf dem Boden war und daß von ungefähr 1800 m aufwärts eine Zunahme der Ionisation unzweifelhaft in Erscheinung trat. In 1500 m war die Ionisation wieder auf den gleichen Wert angestiegen, der auf dem Erdboden gefunden wurde. In 3500 m betrug die Zunahme nicht weniger als 4 I, in 5000 m war sie 16 I über dem Bodenwert. Ein Unterschied zwischen Tag- und Nachtbeobachtungen wurde nicht bemerkt.

Ballonfahrt

Mit Wehmut erinnert sich Victor F. Hess während des Kriegs an seine Ballonfahrten der Jahre 1911 und 1912. In seinen Briefen bezeichnet er diese als „wunderbar beruhigend“.

Victor F. Hess inmitten von Schaulustigen und Helfern, Aussig an der Elbe (heute: Ústí nad Labem, Nordböhmen), 7. August 1912

Es war unmöglich, diese Zunahme der Ionisation mit wachsender Höhe der Wirkung radioaktiver Substanzen zuzuschreiben. Ich berechnete, daß die bekannten Mengen von Radium-Emanation und anderen Substanzen in der Atmosphäre nicht mehr als ein Zwanzigstel jenes Effektes erzeugen konnten, der in einer Höhe von ein bis zwei Kilometern beobachtet wurde. Der einzig mögliche Weg, meine experimentellen Befunde zu erklären, war, auf die Existenz einer bisher unbekannten, sehr durchdringenden Strahlung zu schließen, die hauptsächlich von oben kommt und wahrscheinlich außerterrestrischen (kosmischen) Ursprungs ist. Das außerordentlich große Durchdringungsvermögen dieser Strahlung konnte aus der Tatsache erschlossen werden, daß ihre Wirkung nach Durchdringen der gesamten Atmosphäre noch im Meeresniveau nachweisbar ist ..."

Diese Beobachtungen von Hess wurden im darauffolgenden Jahr von W. Kolhörster glänzend bestätigt. Aber trotzdem wurden anfangs Bedenken gegen die Hess'schen Messungen erhoben. Man beargwöhnte die Apparaturen, diskutierte die Möglichkeit, daß sich auf dem Ballon radioaktive Induktionen angehäuft hatten, daß sich ein radioaktives Gas oder radioaktive Induktionen in der Tropopause angesammelt hatten, Einwände, die aber alle im Laufe der Zeit entkräftet werden konnten. Auf Grund eigener - wie sich nachträglich herausstellte, mit untauglichen Mitteln unternommener - Versuche bezweifelten noch in den zwanziger Jahren Millikan und Mitarbeiter ,,die Existenz einer Strahlung, die die angenommenen Eigenschaften besitze". In Europa gehörte vor allem G. Hoffmann zu den Skeptikern. Nach Wiederholung ihrer Messungen mußten aber alle ihre Ansicht revidieren.

Auch Prioritätsstreitigkeiten blieben Hess nicht erspart, vor allem mit Millikan, aber auch mit Kolhörster. Erst die Zuerkennung verschiedener wissenschaftlicher Preise, vor allem die des Nobel-Preises, schuf eine klare Entscheidung.

Aber versetzen wir uns zurück in die Jahre um 1910. Das physikalische Weltbild war damals im Umbruch. Neben die klassische Physik war die neue Quantenphysik getreten. Die Entdeckung der Radioaktivität hatte die These von der Unteilbarkeit der Atome zerstört, eine neue Disziplin, die Atomphysik, begann sich zu entwickeln. Aber das damalige Wissen reichte kaum über die Kenntnis der Gesetze des radioaktiven Zerfalls, über die Natur der radioaktiven Strahlungen hinaus, und weder die Nebelkammer noch das Zählrohr waren zu diesem Zeitpunkt schon erfunden. Von Kern und Hülle wußte man nichts, und die Worte Kernphysik, geschweige denn Hochenergiephysik existierten noch nicht im Wortschatz der Physiker.

Dies war die Situation, in die Hess' Entdeckung fiel: Die Zeit war für das Verständnis der kosmischen Strahlung noch nicht reif. Rückblickend begreifen wir daher, daß die Entdeckung vorerst nur bei einem kleinen Forscherkreis Beachtung fand, und Hess selbst konnte damals noch nicht ahnen, welch ungeheure Bedeutung der kosmischen Strahlung in der Physik einmal zukommen werde. Aber er war sich dessen bewußt, etwas grundlegend Neues gefunden zu haben, und er entwickelte ein Programm, in dem die zeitlichen Schwankungen der Strahlung, die man, den Kenntnissen der damaligen Zeit entsprechend, für eine sehr harte Gammastrahlung hielt, in internationaler Zusammenarbeit verfolgt werden sollten, ein Programm, das wesentlich erweitert und in moderner Form, vier Jahrzehnte später im Rahmen des Internationalen Geophysikalischen Jahres verwirklicht wurde. Hess gelang es nur, 1913 für ein Jahr Dauerbeobachtungen auf dem Hochobir in Kärnten einzurichten. Allen weiteren Arbeiten über die Strahlung setzte der Beginn des ersten Weltkrieges ein Ende. Hess wandte sich nun wiederum dem Gebiete der Radioaktivität zu, aus dem er in der Zeit zwischen 1910 und 1914 neun Arbeiten veröffentlicht hatte. So stammt von ihm eine Verbesserung der Gammastrahlen-Methode zur Radium-Bestimmung, er maß die Wärmeproduktion des von seinen Zerfallsprodukten befreiten Radiums und führte neue Reichweitemessungen an Polonium-, Thorium- und Aktinium-Präparaten aus. Im Kriege war Hess Leiter der Röntgenabteilung eines Reservelazarettes, daneben führte er mit Lawson, einem Engländer, der in Wien vom Kriegsausbruch überrascht worden war, eine international anerkannte Präzisionsbestimmung der Zahl der von 1 g Radium sekundlich ausgesandten α-Teilchen aus und wendete als erster die Rutherford-Geiger'sche Zählkammer auf die Zählung von Gammastrahlen an.

Bereits im Jahre 1908 hat Hess einen Lehrauftrag für Physik an der Tierärztlichen Hochschule in Wien erhalten. Im Herbst 1920 wurde er zum Extraordinarius an der Grazer Universität ernannt. Fast gleichzeitig erhielt er als einer der ersten Ausländer nach dem ersten Weltkrieg eine Berufung nach den USA, und zwar als Chefphysiker der US Radium Corporation in Orange, N.Y. Damit aber war seiner Tätigkeit in Wien ein Ende gesetzt. Hess schrieb hierüber 1950: ,,Der Abschied vom Radiuminstitut im Oktober 1920 war nicht leicht. Mein Nachfolger war Karl Przibram. Die zehn Jahre im Radiuminstitut waren, wie ich heute bekenne, die schönsten Jahre meines Lebens."

Hess richtete in der genannten Radiumfabrik ein Forschungslaboratorium ein, daneben hielt er Vorträge an Universitäten und auf Kongressen. Bald wurde er auch zum ,,Consulting physicist" im US Bureau of Mines im Ministerium des Inneren ernannt, eine für einen Ausländer seltene Ehre. Aus dieser Zeit stammen vor allem Arbeiten über medizinische Anwendungen des Radiums und über neue und verbesserte Methoden zur Bestimmung des Radiumgehaltes von Erzen. Auch eine Apparatur zur Reinigung der Radiumemanation wurde in Amerika entwickelt.

Trotz günstiger Angebote seitens der amerikanischen Industrie zog es Hess vor, nach zweijähriger Beurlaubung wieder an seine Grazer Lehrkanzel zurückzukehren, wo er 1925 zum Ordinarius ernannt wurde. Da in Graz jedoch keine Radium-Präparate und auch sonst nur sehr beschränkte Mittel zur Verfügung standen, setzte Hess mit Unterstützung der Akademie in Wien und der Notgemeinschaft in Berlin seine seinerzeit begonnenen luftelektrischen Forschungen fort. In diese Zeit fällt auch die Abfassung des Buches ,,Die Leitfähigkeit der Atmosphäre und ihre Ursachen", das in der Sammlung Vieweg erschienen ist und ins Englische übersetzt wurde, sowie die mit Benndorf gemeinsame Bearbeitung des Abschnittes ,,Luftelektrizität" in Müller-Pouillets Lehrbuch der Physik, 11. Auflage. In zahlreichen Messungen in reiner Landluft und während zweier Sommer auf Helgoland untersuchte er die Frage, ob die bekannten Ionisatoren der Atmosphäre quantitativ ausreichend seien, um den beobachteten Ionisationszustand der Luft hervorzurufen. Hess konnte durch seine Messungen die Ionisierungsbilanz über dem Meere völlig befriedigend erklären. Auch in der späteren Innsbrucker Zeit hat sich Hess zusammen mit seinen Schülern mit Ionenzählungen, Kondensations- und Staubkernen beschäftigt. Seine Erfahrungen legte er in der Monographie ,,Ionisierungsbilanz der Atmosphäre" (Gerlands Ergebnisse der kosmischen Physik, 1933) nieder.

In der Grazer Zeit begann Hess wieder über kosmische Strahlung zu arbeiten, an der das Interesse vor allem durch die Beobachtungen von Millikan in den USA (ab 1922) und Hoffmann in Königsberg (1925) wieder wachgerufen worden war. Hess organisierte zwei Expeditionen auf den Sonnblick (3100m) und veranlaßte dort eine Registrierung der zeitlichen Schwankungen der Strahlung für die Dauer eines Jahres.

Baubaracke am Hafelekar

Lange ist Victor F. Hess auf der Suche nach einem sicheren, mühelos erreichbaren Ort in großer Höhe. All das bietet ihm die ehemalige Baubaracke am Hafelekar.

Messstation Hafelekar (erbaut 1931), um 1960

Als Hess im Jahre 1931 eine Berufung nach Innsbruck erhielt, leistete er dieser um so lieber Folge, als sich ihm dort die Gelegenheit bot, mit Unterstützung in- und ausländischer Stellen auf dem mit der Seilbahn leicht erreichbaren Hafelekar (2300 m) ein Laboratorium einzurichten. Im Herbst 1931 begann er eine Dauerregistrierung der kosmischen Strahlung, die, von zeitbedingten Unterbrechungen abgesehen, mit modernen Apparaten noch heute geführt wird. Auch Untersuchungen mit einer Nebelkammer über schwere Teilchen in der Strahlung, Absorptionsmessungen in Blei und Eisen mit Zählrohren, Parallelmessungen der Strahlung am Hafelekar und in Innsbruck, Wasserversenkmessungen im Lanser See, Untersuchungen über biologische Wirkungen der Strahlung an Kaninchen, Taufliegen und Samenkörnern (gemeinsam mit J. Eugster) fielen in die Innsbrucker Zeit. Hess hatte sich eine Reihe von Mitarbeitern und Schülern herangezogen, die er auch in Fortsetzung seiner Arbeiten an luftelektrischen Problemen arbeiten ließ. Hess stand in diesen Jahren wohl auf dem Gipfel seiner Schaffenskraft. Er schrieb über seine Tätigkeit in Innsbruck: ,,Die Arbeiten daselbst kann ich wohl zusammen mit jenen des Jahres 1912, die zur Auffindung dieser neuen Strahlung geführt haben, als mein Lebenswerk bezeichnen."

Leider wurde die Innsbrucker Zeit durch die nach einer schweren, in Wien zugezogenen Radiumverbrennung notwendig gewordene Amputation eines Daumens sowie durch eine Kehlkopfoperation im Jahre 1934 getrübt und auch durch Wolken verdüstert, die sich damals am politischen Himmel zusammenzogen. Im Jahre 1937 nahm Hess eine Berufung nach Graz an als Nachfolger Benndorfs. Aber bereits im darauffolgenden Jahre, nach der Besetzung Österreichs, wurde er in den Ruhestand versetzt und hierauf ohne Pension entlassen. Auch der Nobelpreis, der ihm 1936 gemeinsam mit C. D. Anderson verliehen worden war, ging verloren, denn Hess wurde gezwungen, das Kapital gegen deutsche Reichsschatzscheine umzutauschen. Hess hatte aus seiner kosmopolitischen Einstellung, die er auf Grund vieler Auslandsaufenthalte gewonnen hatte und zu der er sich trotz seiner Liebe zu seiner Heimat bekannte, nie ein Hehl gemacht, und er war überzeugter Katholik. Da seinem konzilianten Wesen widersprechend, lehnte er Gewaltmethoden strikte ab. Da aber sein Interesse stets nur der Wissenschaft gegolten und er sich nie aktiv politisch betätigt hatte, empfand er die Behandlung durch die neuen Machthaber um so schmerzlicher. Aus vollem Schaffen herausgerissen - ein schwerer Verlust für Österreichs Wissenschaft -, verließ Hess im Herbst 1938 seine Heimat, um in New York an der Fordham University seine Arbeiten fortzusetzen, wo sich ihm ein neues Wirkungsfeld eröffnet hatte, dem er bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1956 treu geblieben ist.

An eine Weiterführung der experimentellen Arbeiten über kosmische Strahlung war zunächst nicht zu denken. Auch später, als die USA in den Krieg eintraten, flossen die Mittel für Arbeiten über kosmische Strahlung nicht allzu reichlich. Trotzdem blieb Hess in den Kriegs- und Nachkriegsjahren auf diesem Gebiet nicht untätig. Etwa 50 Veröffentlichungen, die zum Teil auch Fragen der Ionisierungsbilanz der Atmosphäre, der Radioaktivität von Gesteinen, später auch Fragen des Strahlenschutzes und der Radiobiologie betrafen, waren die Früchte der Arbeit dieser Jahre. Wieder in die erste Reihe auf dem Gebiet der Strahlenforschung vorzudringen, gelang Hess allerdings nicht mehr. Denn Mittel, wie sie für den Bau einer großen Nebelkammer, für Registrierballon-Aufstiege in die Stratosphäre, fur Großversuche mit Kernspurplatten erforderlich gewesen wären, standen ihm in den USA nicht zur Verfügung. Das Positron, die verschiedenen Mesonen und Hyperonen in der kosmischen Strahlung wurden daher von anderen gefunden, und die Natur und das Energiespektrum der Primärstrahlung und die Wechselwirkung der energiereichen Teilchen mit der Materie wurden ebenfalls von anderen erforscht. Hess freute sich aber über die Fülle der Anregungen, die aus seiner Entdeckung entsprangen, und neidlos erkannte er die Verdienste eines jeden an.

Victor F. Hess, New York, 1950

Victor F. Hess bleibt in Amerika, wo er an der Fordham University forscht und unterrichtet. Ein Student erinnert sich, dass Hess ihm einst geraten habe, er solle anfangen, Zigarren zu rauchen, falls es ihm ernst damit sei, Physiker zu werden. Der Grund? Zigarrenkisten eignen sich hervorragend zur Aufbewahrung wissenschaftlicher Gerätschaften.

Victor F. Hess, New York, 1950

Obgleich sich Hess rasch in den USA eingelebt hatte, blieb er in seinem Inneren wohl stets Österreicher. Zu wiederholten Malen besuchte er nach Kriegsende seine alte Heimat. Im Sommer 1948 konnte ihn die Universität Innsbruck für ein Semester als Gastprofessor  begrüßen. Auch seinen 75. Geburtstag feierte Hess in seiner Heimat. Der wiederholt an ihn ergangenen Einladung, wieder ganz nach Österreich zurückzukehren und wieder eine Lehrkanzel zu übernehmen, Folge zu leisten, konnte er sich allerdings nicht entschließen. Er sagte einmal: ,,In Österreich verringert sich die Zahl meiner lieben alten Freunde von Jahr zu Jahr, drüben aber finde ich jedes Jahr neue." Vielleicht aber mag auch die Erinnerung an die ihm seinerzeit zugefügte Kränkung bei der Ablehnung eine Rolle gespielt haben.

Hess war eine liebenswürdige Persönlichkeit, aufgeschlossen und hilfsbereit gegen jedermann. In seiner Gattin Berta hatte er eine Gefährtin, die in guten wie in schweren Zeiten bis zu ihrem Ableben treu zu ihm stand und jene Atmosphäre schuf, die er für seine wissenschaftliche Arbeit benötigte. Auch seine zweite Gattin, Elizabeth, war ihm stets eine liebevolle Kameradin. Die wissenschaftliche Arbeit ging Hess über alIes. Aber daneben widmete er sich mit der ihm eigenen Gründlichkeit auch der Lehrtätigkeit nach dem Grundsatz, daß Lehre und Forschung Hand in Hand gehen müßten. Er war nicht nur für die wissenschaftliche Ausbildung und das spätere Fortkommen seiner Schüler eifrig besorgt, er war ihnen auch in persönlichen Angelegenheiten ein wohlwollender Berater und Helfer. Seine Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft erstreckte sich aber nicht nur auf Akademiker. Jeder, der ihm höflich und freundlich entgegenkam, fand bei ihm Rat und Hilfe. Vielen hat er auch in den USA geholfen, und viele sind in Europa von ihm in den Nachkriegsjahren unterstützt worden.

Den wissenschaftlichen Leistungen, die Hess vollbracht hatte, wurde auch die gebührende Anerkennung zuteil. Es gereicht der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zur Ehre, daß sie als erste die Bedeutung der Hess'schen Arbeiten erkannte und ihn 1919 durch Verleihung des Lieben-Preises auszeichnete. 1932 folgte die Verleihung des Ernst-Abbe-Gedächtnispreises mit der Abbe-Medaille durch die Carl-Zeiß-Stiftung in Jena, und 1936 wurde ihm gemeinsam mit C. D. Anderson der Nobelpreis für Physik verliehen. Seit 1933 war Hess korrespondierendes Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Er war ferner Mitglied der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften; Ehrendoktor der Universität Innsbruck, der Tierärztlichen Hochschule in Wien, der Fordham University in New York, der Loyola University in Chikago und Fellow der American Physical Society. 1959 wurde Hess das Österreichische Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst verliehen.

Hess war noch verhältnismäßig jung, als ihm der große Wurf gelang. Es war ihm - wie nicht allzuvielen - beschieden, verfolgen und erleben zu können, wie mächtig seine Entdeckung auf die Entwicklung der modernen Physik einwirkte. Die Erforschung der kosmischen Strahlung hat zur Entdeckung neuer Elementarteilchen geführt, hat die Entwicklung der Hochenergiephysik veranlaßt, und sie geht heute Hand in Hand mit der geophysikalischen, astrophysikalischen, biophysikalischen Forschung und nicht zuletzt mit der Weltraumforschung. Die kosmische Strahlung ist bis in unsere Tage ein hochinteressantes, ja sensationelles Forschungsobjekt geblieben.

So führt heute ein roter Faden von jener denkwürdigen Freiballonfahrt, die Hess am 7. August 1912 unternommen hatte, zu den Forschungssatelliten und Raumsonden, von der einfachen Beobachtungshütte auf dem Hochobir zu den Forschungslaboratorien für Hochenergiephysik.

Der Name Hess wird in der Geschichte der Physik unvergessen bleiben.

Ehrendoktorwürde der Universität Innsbruck

Das letzte Mal kehrt Victor F. Hess im Sommer 1958 nach Österreich zurück, als ihm dort die Ehrendoktorwürde der Universität Innsbruck verliehen wird.

Victor F. Hess, Verleihung der Ehrendoktorwürde, Universität Innsbruck, Juni 1958

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