Der Input und das Kommentar wurden uns in schriftlicher Form von den ReferentInnen zur Verfügung gestellt.
WuV-Diskussion:
Der gute Tod
Sterben im Zeitalter der Machbarkeit
Datum: Mittwoch, 14. Januar 2015, 19:00 Uhr
Ort: Haus der Begegnung, Rennweg12, Innsbruck
Input: Univ.-Prof. Dr. Ulrich Körtner
Kommentar: Dr.in Noelia Bueno-Gómez
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Zur Person Ulrich Körtner
Ulrich Körtner ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Wien und Vorstand des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin der Universität Wien. Er ist u.a. Mitglied des Wissenschaftlichen Ausschusses für Genanalyse und Gentherapie am Menschen der Österreichischen Bundesregierung.
Zur Person Noelia Bueno-Gomez:
Noelia Bueno-Gómez ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Instituts für Philosophie der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Sie hat ihre Doktorarbeit an der Universität Oviedo (Spanien) über Hannah Arendts Konzeption der narrativen Identität geschrieben. Nach der Promotion folgten Forschungsaufenthalte am Institut für Ethnologie (Slowakische Akademie der Wissenschaften) und an der Universitätsmedizin Göttingen. Ihre neuesten Interessen und Beiträge handeln von der zeitgenössischen Erfahrung des Todes (besonders die Medikalisierung) und der Gerechtigkeit (Transitionale Gerechtigkeit und gerechter Krieg).
DER GUTE TOD
Sterben im Zeitalter der MachbarkeitFN1
Von Ulrich H.J. Körtner
Dass Sterben und Tod zum Leben gehören, ist alles andere als trivial. Wie wir als Menschen unser Leben nicht nur einfach leben, sondern führen und uns zu ihm verhalten müssen, so auch zu unserer Endlichkeit und unserem Tod. Was der Tod selbst ist, bleibt eine offene Frage. Wie es ist, tot zu sein, kann niemand beantworten, weil wir die Toten nicht befragen können und jede Vorstellung, die wir uns von unserem künftigen Totsein machen, die Vorstellung von Lebenden bleibt. Das Vorlaufen zum Tode, von dem der Philosoph Martin Heidegger im Anschluss an Sören Kierkegaard gesprochen hat, bleibt paradox, weil man, wenn man sich den eigenen Tod vorzustellen versucht, zugleich als der eigene Hinterbliebene zu denken hat.
Wie es unterschiedliche Auffassungen vom guten Leben gibt, so gibt es auch sehr verschiedene Ansichten über das gute Sterben. Zwischen dem Sterben und dem Tod ist freilich zu unterscheiden. Ob der Tod gut oder ein Gut ist, ob er als Alternative zum Leben wünschenswert ist, soll hier offengelassen werden, ebenso die Frage, ob der Tod, den sich Menschen bisweilen ja tatsächlich wünschen oder geradezu herbeisehnen, ein Endziel und Selbstzweck oder der Übergang in einer andere Form des Seins ist; einfach gesprochen: ob mit dem Tod alles aus ist oder nicht.
Das Bild des Todes – wir sollten besser sagen: die Bilder, die es von ihm gibt – sind kulturell, religiös und weltanschaulich verschieden. Sie haben sich auch in unserem eigenen Kulturkreis im Laufe der Geschichte erheblich gewandelt. Der französische Historiker Philippe Ariès hat die abendländische Geschichte des Todes detailliert beschrieben.FN2 Sie beginnt mit der Vorstellung des gezähmten Todes, geht weiter zum Modell des eigenen Todes, mit dem sich die Dimension des Schicksals, dass wir alle sterben müssen, auf das Individuum verschiebt, und durchläuft dann mehrere Stadien, die Ariès als Verwilderung des einstmals gezähmten Tode beschreibt.
Im 19. und 20. Jahrhundert ist der Tod, wie es Ariès ausdrückt, in sein Gegenteil verkehrt worden. Er „wurde schmutzig und dann medikalisiert“FN3. Wie man den Kampf gegen die Natur der modernen Medizin überlassen hat, so auch den Kampf gegen den Tod, den man wie die Krankheit in den modernen Spitälern kaserniert hat. Losgelöst von religiösen und metaphysischen Deutungen, losgelöst auch von der Kategorie des Bösen, wird der Tod zu einem ganz natürlichen Vorgang erklärt.
Der natürliche Tod ist einerseits eine aufklärerische Idee, die das biologische Ende des Lebens von allen metaphysischen Deutungen freihalten will. Sie ist zugleich eine gesellschaftliche Utopie, nämlich die Idee einer Gesellschaft, in der niemand zur Unzeit oder frühzeitig sterben muss und in der alle Jenseitshoffnungen ins Diesseits verlagert werden. Das Leben als letzte Gelegenheit soll möglichst lange dauern.FN4 Und wenn schon der Tod selbst nicht ganz aus der Welt zu schaffen ist, wies manche Transhumanisten erträumen, so soll er sich doch erst am Ende eine langen und erfüllten Lebens als friedliches Erlöschen einstellen. Sofern sich über den Tod nicht ein dumpfes Schweigen breitet, aus dem das Eingeständnis der eigenen Ohnmacht spricht, soll er aus seiner Evakuierung herausgeholt und humanisiert werden. Man möchte den Tod als unvermeidlichen Bestandteil wieder in das Leben integrieren, ohne ihn wie in vergangenen Epochen mit dem Bösen in Verbindung zu bringen. Die moderne Idee des natürlichen Todes ist die Leitvorstellung eines „diskreten, aber würdigen Endes eines befriedigten Lebens“, des „Abschied[s] von einer hilfreichen Gesellschaft, die nicht mehr zerrissen noch allzu tief erschüttert wird von der Vorstellung eines biologischen Übergangs ohne Bedeutung, ohne Schmerz noch Leid und schließlich auch ohne Angst“FN5.
Der Philosoph Odo Marquard beschreibt die Moderne als Epoche des Machsals, das an die Stelle des Schicksals tritt.FN6 Die Hoffnung der Moderne besteht darin, die Natur und ihre Kontingenzen unter die totale Kontrolle menschlicher Technik zu bringen. Das gilt nicht nur, aber eben auch für die moderne, hochgradig technisierte Medizin. Und wenn sich der Tod schon nicht wie eine Krankheit ausrotten lässt, so soll das Sterben doch medizinisch kontrolliert verlaufen, überwacht auf Monitoren und sauber dokumentiert in der Krankenakte. Tatsächlich ist ja der heute so gern beschworene natürliche Tod in Wahrheit ein kunstvoll manipulierter Tod. Denn wer würde schon wirklich gern ganz natürlich – ohne jede medizinische Linderung und Schmerztherapie – allen denkbaren unangenehmen und nicht selten qualvollen Begleitumständen des Sterbens ausgesetzt sein?
Nun also wird selbst noch der Tod, den man in früheren Zeiten geduldig erwarten musste, zum Projekt, sei es zum technischen Projekt modernen Hochleistungsmedizin, sei es zum Projekt letzter Selbstverwirklichung. Selbst die christliche Theologie bleibt von diesem Trend nicht unberührt. So hat etwa der katholische Theologe Karl Rahner den Tod als letzte Tat des Menschen gedeutet, der in der Annahme seines Todes – Rahner denkt an die gläubige Annahme des Christenmenschen – sein Dasein in seine Ganzheit bringe, so dass sich im Tod das Leben des Menschen von innen her vollende.FN7 Der gute Tod, oder sagen wir besser das gute Sterben, als letztes Projekt: von dieser Idee ist auch die Palliativbewegung nicht frei, die sich doch als Alternative zur einseitig kurativ ausgerichteten Medizin versteht, für welche der Tod immer noch ein Scheitern und eine Niederlage bedeutet.
Die Vorstellung vom guten Tod ist heute eng mit dem Konzept der menschlichen Autonomie verbunden. Selbstbestimmung bis zuletzt, das bedeutet nun, sich jeder Fremdbestimmung im Sterben zu widersetzen. Nicht die Medizin, sondern das autonome Subjekt soll bis zum letzten Atemzug die Kontrolle über das Geschehen behalten, und sei es durch eine Patient_Innenverfügung oder eine Vorsorgevollmacht, durch welche der eigene Wille zur Geltung und durchgesetzt werden soll, wenn es dem Patienten, der Patientin aktuell nicht mehr möglich ist, seinen oder ihren Willen zu artikulieren. Selbstbestimmung bis zuletzt, das bedeutet nach Ansicht vieler aber auch, sich der Fremdbestimmung durch den Tod an sich zu widersetzen, den Tod also nicht zu erleiden, sondern ihn gewissermaßen als letzte heroische Tat aktiv herbeizuführen und den Zeitpunkt des eigenen Todes zu bestimmen, sei es dass man sich selbst tötet und dafür vielleicht die Hilfe eines anderen in Anspruch nimmt, sei es, dass man sich von einem anderen töten lässt.
Der medizinische Fortschritt ist jedoch hochgradig ambivalent. Indem Krankheit und Gesundheit, Leben und Tod der medizinisch-technischen Kontrolle unterworfen werden, entstehen zugleich neue Kontingenzen, die es vordem gar nicht gab. Intensivmedizin, Reproduktionsmedizin und medizinische Genetik haben den Spielraum ärztlichen Handelns enorm erweitert, produzieren aber zugleich völlig neue Erscheinungsformen von Schicksalhaftigkeit, mit denen die Betroffenen existentiell, psychisch und moralisch fertigwerden müssen. Je mehr der Mensch über das Leben verfügen möchte, desto unkontrollierbarer werden die Vorbedingungen und Folgen seines Handelns. „Also: nicht etwa nur die erfolglose, gerade auch die erfolgreiche Machensplanung plant sich – wenigstens partiell – um den Erfolg. Darum wird – im Zeitalter des schicksalsvernichtenden Machenseifer der Menschen – das Gutgemeinte nicht das Gute; das absolute Verfügen etabliert das Unverfügbare; die Resultate kompromittieren die Intentionen; und die absolute Weltverbesserung missrät zur Weltkonfusion.“FN8
Einige Beispiele mögen genügen: Je erfolgreicher z.B. die Transplantationsmedizin ist, desto knapper werden die ihr zur Verfügung stehenden Ressourcen. Organknappheit ist keine Naturgegebenheit, sondern ein künstlich erzeugter Zustand. Auch dank intensivmedizinischer Verfahren kann der Tod in vielen Fällen verhindert werden, um den Preis, dass neue Krankheitsbilder entstanden sind wie z.B. dasjenige der sogenannten Wachkoma-Patienten oder Wachkoma-Patientinnen. Auch die Fortschritte auf dem Gebiet der vorgeburtlichen Medizin und der Neonatologie erhöhen die Lebenschancen von Neugeborenen und immer kleineren Frühgeburten, die früher verstorben wären, heute aber zum Teil nur um den Preis fortgesetzter Gesundheitskomplikationen und für die betroffenen Eltern fast unlösbarer Konflikte am Leben erhalten werden. Wer Gesundheit und Leben um jeden Preis will, erzeugt neue Formen der Krankheit und des Leidens. So gerät auch das Sterben im Zeitalter der Machbarkeit in ethische Dilemmata.
Die Probleme des medizinisch begleiteten und manipulierten Sterbens haben keine geringere Sprengkraft als diejenigen der Biomedizin. Mit Ausnahme von Unfallopfern, Gewaltverbrechen oder unvorhersehbaren natürlichen Todesfällen befinden sich die meisten Sterbenden in ärztlicher Behandlung. Ein Großteil von ihnen stirbt im Krankenhaus. Das durch medizinische Interventionen begleitete Sterben ist also in der westlichen Welt der Regelfall. Daher wäre es völlig verfehlt, in den Debatten über Sterbehilfe und Euthanasie nur Indizien eines Verfalls kultureller Standards und moralischer Werte erblicken zu wollen. Es ist vielmehr notwendig zu prüfen, wie weit die Anwendung des heutigen Potentials medizinischer Möglichkeiten in bestimmten Situationen überhaupt sinnvoll ist, und wo die humanen Grenzen der modernen Medizin liegen. Lebensverlängerung um jeden Preis missachtet die Würde des Menschen. Eine Medizin, die unsere Endlichkeit und Sterblichkeit nicht wahrhaben will, ist inhuman.
Palliativmedizin und Palliative Care haben Gott sei Dank zu einem Umdenken geführt. Doch noch immer ist die palliativmedizinische Versorgung in Österreich unzureichend. Ob die Enquete-Kommission des Nationalrats substantielle Verbesserungen bewirkt? Es braucht nicht wohlmeinende Absichtserklärungen, sondern echte Reformen – und die kosten Geld.
Immer wieder kann es zu einem Konflikt zwischen dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten, der Patientinnen der Fürsorgepflicht des Arztes, der Ärztin und dem Menschenrecht auf Leben kommen, aus welchem das gesetzlich verankerte Verbot jeder absichtlichen Tötung folgt. Das Recht auf Selbstbestimmung ist ein Implikat der Menschenwürde. Es ist grundsätzlich auch dann zu achten, wenn die Entscheidungen eines Menschen am Ende seines Lebens von den Wertvorstellungen Dritter abweichen, soweit dabei die Grenzen des Rechts beachtet werden.
Ich halte es allerdings für problematisch, die Würde des Menschen an ein abstraktes Autonomiekonzept zu binden, das Individualität mit Autarkie und völliger Unabhängigkeit verwechselt und umgekehrt jede Form der Abhängigkeit, der Hilfsbedürftigkeit und Angewiesenheit auf andere als narzisstische Kränkung erlebt. Ein solches Autonomieverständnis führt nämlich dazu, Leiden und Schwäche als menschenunwürdig zu betrachten und nur ein abstrakt selbstbestimmtes Sterben als menschenwürdig zu akzeptieren.
Autonomie im Sinne des Philosophen Immanuel Kant lässt sich als wesentlicher Ausdruck der Menschenwürde interpretieren, diese ist aber von der Autonomie nochmals zu unterscheiden. Die biblische Tradition spricht an dieser Stelle von der Gottebenbildlichkeit des Menschen, die sich nicht auf seine Moralfähigkeit reduzieren lässt, so gewiss der Mensch seinem Wesen nach zu einem selbstbestimmten und bewussten Leben bestimmt ist. Unser Personsein ist vielmehr mit unserer leiblichen Existenz gegeben. In diesem Punkt ist nicht nur ein in der Medizinethik anzutreffender reduzierter Autonomiebegriff zu kritisieren, der Autonomie mit Selbstbestimmung gleichsetzt, die nicht, wie bei Kant, an verallgemeinerungsfähige moralische Maximen gebunden sein muss. Problematisch ist vielmehr auch Kants eigene Bindung der Menschenwürde an die Autonomie. Auch Menschen im sogenannten Wachkoma, auch Menschen mit einer fortgeschrittenen Demenz sind ebenso wie ungeborene Kinder Personen, weil auch sie dazu bestimmt sind, dass wir mit ihnen in einer von Liebe getragenen personalen Beziehung stehen und sie als Personen in unsere menschliche Kommunikationsgemeinschaft einbeziehen. Menschenwürde, die das Christentum von der Bibel her als Gottebenbildlichkeit des Menschen versteht, bleibt auch dann bestehen, wenn ein Mensch seine Fähigkeit zur Selbstbestimmung möglicherweise unwiderruflich eingebüßt hat.
„Autonomie bis zuletzt“ ist nicht selten eine Fiktion. Selbst eine noch so ausgefeilte Patient_Innenverfügung ändert nichts an dem Umstand, dass der Patient und die Patientin „der verantwortlichen Entscheidung Dritter anheimgegeben ist“FN9 Die deutsche Juristin Margot v. Renesse gibt zu bedenken:
„‚Patientenautonomie‘ ist die goldene Seite einer Medaille, deren Nachtseite die schiere Angst ist, dass niemand ‚seines Bruders Hüter‘ sein will.“FN10
Hilfreich sind in diesem Zusammenhang Überlegungen von Farideh Akashe-Böhme und Gernot Böhme zur Autonomie kranker und leidender Menschen. Gehören Krankheit und Sterben zum Leben dazu, ist nicht Autonomie, sondern Souveränität das angemessene Persönlichkeitsideal.
„Ein Mensch ist souverän, wenn er mit sich etwas geschehen lassen und Abhängigkeiten hinnehmen kann.“FN11
Dieser Gedanke berührt sich mit wesentlichen Einsichten des christlichen Glaubens und seinem Verständnis von Menschenwürde, die auch Menschen mit Behinderungen, Schwerstkranke und Sterbende nicht verlieren können.
Gegen ein individualistisches Autonomieverständnis, das letztlich abstrakt bleibt, wendet sich das Konzept der relationalen Autonomie, das in der feministischen Ethik entwickelt worden ist.FN12 Der Mensch ist ein Beziehungswesen, wie besonders die Philosophie des dialogischen Personalismus bewusst gemacht hat. Diese Sicht des Menschen entspricht auch der biblischen Tradition. Das Konzept der relationalen Autonomie stimmt in der medizinischen und pflegerischen Praxis mit dem Modell der partizipativen Entscheidungsfindung (shared decision making) überein.FN13 Auch im medizinischen Alltag treffen Patienten und Patientinnen in der Regel keine einsamen Entscheidungen, sondern sie beraten sich mit Menschen ihres Vertrauens, mit dem behandelnden Arzt oder der Ärztin ebenso wie mit Angehörigen oder ihm sonst nahestehende Personen, vielleicht auch mit einem Psychologen, einer Psychologin oder einem Seelsorger, einer Seelsorgerin.
Das Recht auf Leben ist ein unveräußerliches Menschenrecht. Das elementarste Recht des Menschen, nämlich Rechte zu haben – wie Hannah Arendt gesagt hat – setzt die physische Existenz des Menschen voraus. Darum gilt es das Recht auf Leben in allen Phasen des Lebens zu schützen – auch in der Phase des Sterbens, gehört doch das vom Tod zu unterscheidende Sterben noch zum Leben. Sterbende sind nicht Halbtote, sondern – bis zum letzten Atemzug – Lebende.
So gilt der ethische Grundsatz: Im Zweifelsfall für das Leben – in dubio pro vita. Weil aber der Tod zum Leben gehört, impliziert das Recht auf Leben recht verstanden auch das Recht auf Sterben.FN14 Weder aus rechtlicher, noch – nach meinem Verständnis – aus christlicher Sicht haben wir das Recht, andere Menschen zum Leben oder Weiterleben zu zwingen, auch wenn wir alles dafür tun sollen, ihren Lebenswillen zu stärken, und ihnen helfen sollen, die kostbare und einmalige Gabe ihres Lebens zu achten.
Das Recht auf Leben bedeutet keine Pflicht zum Leben. Das erkennt unsere Rechtsordnung dadurch an, dass es das Recht auf Verweigerung medizinischer Behandlung gibt. Eine dagegen verstoßende Therapie ist z.B. nach österreichischem Recht strafbar (§ 110 StGB). Daher ist aus ethischer Sicht einer sogenannten Reichweitenbegrenzung für Patient_Innenverfügungen auf die Sterbephase abzulehnen. Sowohl die deutsche als auch die österreichische Gesetzgebung zu Patient_Innenverfügungen und Vorsorgevollmachten tragen dem Rechnung. Eine Reichweitenbegrenzung wäre auch einigermaßen praxisfern. Häufig genug ist ein Patient, eine Patientin multimorbid, das heißt er/sie hat mehrere Grundleiden, die in Summe gegen eine weitere Therapie und gegen lebensverlängernde Maßnahmen sprechen, ohne dass die Einzeldiagnosen für sich genommen unausweichlich zum Tod führen müssen. Wer die Reichweite von Patient_Innenverfügungen begrenzen will, provoziert letztlich nur neue Rechtskonflikte darüber, was im Einzelfall unter Todesnähe zu verstehen ist.
Strittig ist aber, ob das Recht zu sterben auch das Recht einschließt, sich zu töten oder töten zu lassen. Hierzulande sind Tötung auf Verlangen und Suizidbeihilfe verboten. Und das ist gut so. Es geht nicht, wie Kritiker und Kritikerinnen der bestehenden Gesetzeslagebehaupten, um Bevormundung und Entmündigung, sondern um den Schutz der Schwachen.
Todkranke und Sterbende gehören zu den Schwächsten. Durch die Liberalisierung der Euthanasie würden jene unter Rechtfertigungsdruck geraten, die trotz schwerer Krankheit am Leben bleiben möchten, statt sich vorzeitig für das sozialverträgliche und kostensparende Ableben zu entscheiden. Wo wie in den Beneluxstaaten die aktive Sterbehilfe zugelassen wird, ist es von der freiwilligen zur nicht freiwilligen Euthanasie – zum Beispiel von Demenzkranken – nur ein kleiner Schritt.
Allerdings kann es Grenzfälle geben, bei denen sich ein moralisches oder juristisches Urteil von Außenstehenden verbietet. Die Diakonie Österreich hat darum den Vorschlag ins Spiel gebracht, rechtliche Lösungen für eine Entkriminalisierung der Suizidbeihilfe im Einzelfall zu suchen, ohne das bestehende Verbot gänzlich aufzuheben. Dieser Vorschlag verdient Unterstützung. Grenzfälle müssen aber Grenzfälle bleiben und sollten nicht auf gesetzlichem Wege zur Normalität erklärt werden. Auch sollte außer Streit gestellt werden, dass die Beihilfe zur Selbsttötung – von der gezielten Tötung ganz zu schweigen – grundsätzlich nicht zum ärztlichen Auftrag gehört.
Das geltende Euthanasieverbot in den Verfassungsrang zu heben, halte ich jedoch für keine gute Idee. Ein Verfassungsgesetz würde nur die unter Ärzten, Ärztinnen und Patienten, Patientinnen ohnehin schon bestehende Unsicherheit vergrößern, welches medizinische Tun oder Unterlassen als Verstoß gegen das Euthanasieverbot oder gegen das Verbot der Suizidbeihilfe zu beurteilen ist.
Auf diese Weise würde womöglich das seit 2006 geltende Patient_Innenverfügungsgesetz ausgehöhlt werden. In einer Patient_Innenenverfügung kann ein Patient, eine Patientin nach ärztlicher und rechtlicher Aufklärung verbindlich festlegen, dass er unter bestimmten Voraussetzungen auf Therapie und lebensverlängernde Maßnahmen verzichten möchte. Eine jüngst vom Institut für Ethik und Recht in der Medizin veröffentlichte Studie in Auftrag des Gesundheitsministeriums zeigt freilich, dass der Informationstand in der Bevölkerung, aber auch unter Angehörigen der Gesundheitsberufe immer noch zu gering ist.FN15 Hier besteht Handlungsbedarf.
Die Debatte über ein menschenwürdiges und gutes Sterben fordert uns dazu heraus, neu darüber nachzudenken, was wir für zumutbares und unzumutbares Leiden halten. In Anbetracht des biomedizinischen Fortschritts wird jede Form des Leidens sehr schnell als unzumutbar empfunden, sei es für die Betroffenen selbst, sei es für ihre Umgebung. Dass schon das Leben als solches eine Zumutung sein kann, und dass wir auch unseren Kindern, indem wir ihnen das Leben schenken, dieses zugleich zumuten, ist eine grundsätzliche Tatsache, die heute einer neuen Bewertung unterzogen wird. So zwingt uns die moderne Medizin, die Begriffe des Zumutbaren und des Unzumutbaren ethisch zu bedenken.
Die Diskussion über die unterschiedlichen Formen der Sterbehilfe und Sterbebegleitung bringt außerdem neu zu Bewusstsein, dass nicht jedes ethisch verantwortete Lassen gleichbedeutend mit einem Unterlassen ist. Die ethischen Grenzen unseres Handelns müssen in jeder Situation neu bestimmt werden. Das gilt auch an den Grenzen des Lebens. Wie das Leben selbst, kann auch jedes Bemühen um Heilung nur fragmentarisch sein. Daher gibt es eine ethisch verantwortbare Begrenzung der Verantwortung, die es ermöglicht, das Scheitern therapeutischer Bemühungen und auch das Sterben in den Lebenszusammenhang zu integrieren. Konkret bedeutet dies, dass der Therapieverzicht oder die Beendigung einer Therapie im Einzelfall nicht nur ethisch akzeptabel, sondern sogar geboten sein können.
Gegenüber der Neigung zum Aktivismus in Medizin und Pflege gilt es zu beachten, dass die aktive Intervention nicht in jedem Fall moralisch höher zu bewerten ist als der Verzicht auf sie. Die Entscheidung hat vielmehr immer vom Subjekt der Medizin auszugehen. Das aber ist der Patient oder die Patientin. Unter Umständen ist auch der Verzicht auf Diagnose und Therapie Bestandteil einer guten und humanen Medizin. Im konkreten Einzelfall kann der Verzicht das Leiden erleichtern, während die Fortführung einer nutzlosen Behandlung nur das Sterben erschwert und nicht mehr dem Wohl des Patienten, der Patientin dient.
Die Frage, wo die Grenze zwischen Lebensverlängerung und Sterbeverlängerung verläuft, stellt und freilich vor definitorische Probleme. Das gilt vor allem für die Intensivmedizin. Ob ein durch Kausaltherapie nicht mehr verbesserbarer Krankheitsverlauf zum Tode führt oder noch nicht, hängt schließlich in hohem Maße von den medizinischen Maßnahmen ab, die gesetzt werden. Daher ist es ähnlich wie beim Hirntodkriterium erforderlich, aus handlungstheoretischer Sicht eine Definition des Sterbens zu geben.
Eine Möglichkeit besteht darin, von der fehlenden Indikation für weitere kausaltherapeutische Maßnahmen auszugehen (Kriterium der Nutzlosigkeit/„futility“). Dann lässt sich folgende Definition geben: Ein Sterbender ist ein Patient, eine Sterbende ist eine Patientin, bei dem oder der lebensverlängernde Maßnahmen keinen Sinn mehr haben und unterbleiben sollen, weil sie bei nach Stand des Wissens aussichtsloser Grunderkrankung für den Patienten, die Patientin keine Hilfemehr bedeuten, sondern nur noch das Leiden verlängern und den unvermeidlichen Eintritt des Todes verhindern wollen. In der Intensivmedizin ist „Sterben“ also die Phase zwischen Abbruch der Behandlung aufgrund infauster Prognose und dem Eintritt des Todes. In dieser Phase sollten nur mehr palliative Komfort-Maßnahmen gesetzt werden.
Es bleibt rechtlich und moralisch ein Unterschied, ob jemand verfügt, dass man ihn/sie sterben lässt, oder aber, dass man ihn/sie tötet. Dennoch: auch die ausgefeiltesten Gesetze werden nicht verhindern, dass wir an den Grenzen des Lebens in ethische Dilemmata geraten, in denen das Urteil, ob es sich um ein Sterbenlassen oder eine aktive Herbeiführung des Todes handelt, eine Frage des Blickwinkels ist.
„Ein ethisch verantwortungsvoller Umgang mit Sterben und Tod läßt sich nicht durch Präzisierung von Gesetzesformulierungen erreichen, sondern setzt eine Reflexion und Integration des Sterbens in unser alltägliches Leben voraus.“FN16
Die Diskussion über Sterbehilfe, auch über Suizid und Suizidbeihilfe ist, schon allein vor dem Hintergrund der unterschiedlichen rechtlichen Regelungen in Europa, weiter fortzuführen. Sie wird auch durch ein verbessertes Angebot an Palliative Care nicht zum Verstummen zu bringen sein. Was wir aber unbedingt brauchen, ist eine Kultur der Solidarität mit den Sterbenden und denen, die sie versorgen und begleiten. Das größte gesellschaftliche Problem ist nicht die medizinische Überversorgung, sondern in vielen Fällen immer noch die Einsamkeit der Sterbenden, die der Soziologe Norbert Elias vor Jahrzehnten eindrücklich beschrieben hat.FN17
Was Sterbende brauchen, ist unsere Solidarität, nicht die todbringende Spritze. nach oben
Fußnoten
FN1) Vortrag auf Einladung des Arbeitskreises Wissenschaft und Verantwortlichkeit am 14.01.2015 in Innsbruck zurück
FN2) Vgl. Philippe Ariés, Geschichte des Todes, München 1980. zurück
FN3) A.a.O. (Anm. 2), S. 786. zurück
FN4) Vgl. Marianne Gronemeyer, Das Leben als letzte Gelegenheit. Sicherheitsbedürfnisse und Zeitknappheit, Darmstadt 1996.zurück
FN5) A.a.O. (Anm. 2), S. 789.zurück
FN6) Vgl. Odo Marquard, Ende des Schicksals? Einige Bemerkungen über die Unvermeidlichkeit des Unverfügbaren, in: ders., Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgard 1981, S. 67-90. zurück
FN7) Vgl. Karl Rahner, Zur Theologie des Todes (QD 2), Freiburg i. B. 1958, S.36ff. zurück
FN8) Marquard, a.a.O. (Anm. 6), S. 81. zurück
FN9) Margot v. Renesse, Die Patientenverfügung - "Autonomie bis zuletzt?", ZEE 49, 2005, S. 144-146, hier S. 146. zurück
FN10) Ebd. zurück
FN11) Farideh Akashe-Böhme/Gernot Böhme, Mit Krankheit leben. Von der Kunst, mit Schmerz und Leid umzugehen (Beck'sche Reihe 1620), München 2005, 62 u. 85. zurück
FN12) Vgl. Catriona Mackenzie/Natalie Stoljar (Hg.), Relational Autonomy. Reminist Perspectives on Autonomy, Agency, and the Social Self, Oxford 2000. Das Konzept der relationalen Autonomie wurde laut Mackenzie und Stoljar erstmals von Jennifer Nedelsky aus feministischer Sicht formuliert. Vgl. Catriona Mackenzie/Natalie Stoljar, Introduction: Autonomy Refigured, in: dies. (Hg.), a.a.O., S. 3-34, hier S. 26, Anm. 1. zurück
FN13) Vgl. Martin Butzlaff/Bettina Floer/Jana Isfort, "Shared Decision Making": Der Patient im Mittelpunkt von Gesundheitswesen und Praxisalltag, in: Jan Böcken/Bernard Braun/Melanie Schnee (Hg.), zurück
FN14) Vgl. auch Ulrich H.J. Körtner, Recht auf Leben - Recht auf Sterben. Autonomie am Lebensende und ihre Grenzen, in: Michael Frieß (Hg.), Wie sterben? Zur Selbstbestimmung am Lebensende. Eine Debattte, Gütersloh 2012, S. 120-139. zurück
FN15) Vgl. Ulrich H.J. Körtner/Christian Kopetzki/Maria Kletečka-Pulker/Lukas Kaelin/Stefan Dinges/Katharina Leitner, Rechtliche Rahmenbedingungen und Erfahrungen bei der Umsetzung von Patientenverfügungen. Folgeprojekt zur Evaluierung des Patientenverfügungsgesetzes (PatVG), unter Mitarbeit von Christine Rebernig. Wien 2015 (online abrufbar unter http://www.bmg.gv.at/cms/home/attachments/4/0/1/CH1464/CMS1418680524597/studie_patientenverfuegung_patvgii_15.12.2014.pdf). zurück
FN16) Gerhard Ehninger, Wer stirbt wann? Soviel gilt der Patientenwille, FAZ, 31.1.2005, S. 33. zurück
FN17) Vgl. Norber Elias, Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen, Frankfurt a.M. 1991. zurück
Kommentar: Dr.in Noelia Bueno Gómez
In meinem Kommentar möchte ich nicht „einen guten Tod“ beschreiben, sondern erklären welches Todesmodell in den zeitgenössischen westlichen Gesellschaften heutzutage vorherrscht.
Wenn wir die Charakteristik verstehen und genauer wissen was am Lebensende gestaltbar ist und was nicht, können wir leichter und besser Kritik daran üben.
Man kann den grundsätzlichen historischen Wandel des Managements des Todes auf vier Ebenen klassifizieren:
a. Materielle Ebene: Experten, Expertinnen und Pfleger, Pflegerinnenpflegen mehrheitlich die Sterbenden in Hospizen und Krankenhäuser. Man benutzt technologische Mittel um das Leben zu verlängern und den Schmerz zu lindern. Diese materiellen Bedingungen um sterbende Menschen zu behandeln sind relativ neu. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts war die Medizin nicht sehr weit entwickelt, es gab fast keine effektiven technologischen Mittel, um Krankheiten zu behandeln und den Schmerz zu lindern. Die Mehrheit der Leute starb zu Hause: die Krankenhäuser waren normalerweise Plätze für Arme oder Personen ohne Familie. Die Veränderungen auf der materiellen Ebene sind eindeutig: es gibt neue und bessere technologische Mittel, neue Experten und Expertinnen, sowie andere Räume und Orte für den Tod. Dazu zählen mittlerweile Krankenhäuser und Hospize, sowie auch Leichenhallen und nicht zuletzt virtuelle Friedhöfe Letztere sind Internetseiten auf denen die Familien und Freunde der Verstorbenen ihre Geschichte erzählen und sich an sie erinnern können.
b. Epistemologische Ebene: auf der epistemologischen Ebene kann man feststellen, dass neue Kenntnisse über den Prozess des Todes gesammelt wurden. Die Experten und Expertinnen (Biologen, Biologinnen, Neurobiologen, Neurobiologinnen und Ärzte sowie Ärztinnen) haben mehr Informationen darüber wie man stirbt, wie man den Prozess besser kontrollieren und den Schmerz lindern kann. Die neue Kenntnis über den Tod hat eine Debatte über die Definition von Tod bzw. den tatsächlichen Todeszeitpunkt eröffnet. Diese Definition ist entscheidend auf mehreren Ebenen, beispielsweise für die Organspende. Man hat bewiesen, dass der Tod mit dem Gehirntod einhergeht. Aber am Anfang der Debatte war es sehr schwierig zu akzeptieren, dass jemand der noch atmet tot sein kann. Das ist nur einen Beispiel wie die neuen Kenntnisse über den Tod neue Herausforderungen und neue moralische Fragen mit sich bringen. Die neuen technologischen Mittel helfen das Leben zu verlängern. Aber ein verlängertes Leben bringt manchmal Leiden, chirurgischen Eingriffe, Behandlungen mit Nebeneffekte und so weiter mit sich.
c. Symbolische Ebene: auf der symbolischen Ebene finden wir auch Veränderungen. Ein gemeinsames Charakteristikum der prämodernen Gesellschaften ist, dass sie den Tod als einen Übergang zu einem anderen Leben verstehen. Trotzdem verstehen viele Personen heutzutage den Tod als das Ende an sich, ohne Fortbestand. Diese Veränderung determiniert natürlich die Gesinnung des Todes.
d. Bioethische und politische Ebene: auf der bioethischen und politischen Ebene sind neue Probleme und Dilemmata aufgetreten. Es ist Tatsache, dass viele Experten und Expertinnen im Sterbeprozess intervenieren. In dieser Situation müssen verschiedene Personen nun unterschiedliche Entscheidungen fällen. Wir finden neue Machtbeziehungen, Gewissensfragen, moralische Konflikte…
Die Kenntnis über den Tod und die Verfügbarkeit der medizinischen Mittel bringt neue Machtbeziehungen mit sich, weil Experten und Expertinnen die Prozesse besser verstehen und leichter intervenieren können. Der Tod hat nicht nur neue Räume, sondern auch eine neue Sprache. Die Patienten und Patientinnen beherrschen aber weder diese Räume noch die entsprechende Sprache (sofern sie nicht selbst Experten bzw. Expertinnen sind), was sie in eine verletzbare Position bringen kann. Gleichzeitig haben Experten und Expertinnen die Möglichkeit weitreichende Entscheidungen zu fällen, was ihre Verantwortung vergrößert.
Dies sind also die neuen Bedingungen des Todes. Mit allen Vor- und Nachteilen sind Technologie und Wissenschaft die modernen, aktuellen Antworten auf die Frage nach dem guten Tod.
Nun zur nächsten Frage: „Welche ethischen Perspektiven gibt es hierzu und können uns diese dabei helfen, das Lebensende zu gestalten?“
Meiner Meinung nach bietet eine pragmatische Perspektive viele Vorteile um die neuen bioethischen Herausforderungen zu meistern. Diese pragmatische Perspektive beinhaltet, dass für jede problematische Situation eine andere Lösung gültig sein kann. In jedem Fall sollten die relevanten Personen am Ende des Lebens gemeinsam die beste Entscheidung fällen. In diesem Prozess ist es wichtig die Interessen, Bedürfnisse, Werte, Ziele und Prioritäten der relevanten Personen zu identifizieren. Die Autonomie der Patienten und Patientinnen spielt natürlich hier eine sehr wichtige Rolle. In diesem Sinne finde ich die pragmatische Perspektive besser als die Durchsetzung der Standardnormen. Beispielweise denkt Norbert Elias, dass die sterbenden Menschen in modernen Gesellschaften in Krankenhäusern oder Hospizen einsam und isoliert sind. Viele Denker und Denkerinnen stimmen dem zu und fordern, dass die Sterbenden nicht alleine sein sollten. Ich bin jedoch der Ansicht, dass die Behandlung sterbender Menschen in Krankenhäusern und Hospizen eine Konsequenz des techno-wissenschaftlichen Managements des Todes ist. Es ist die Reaktion unserer Gesellschaft auf den Tod. Die Behandlung Sterbender in Krankenhäusern und Hospizen beinhalt nicht notwendigerweise, dass sie alleine und einsam sind. In vielen Fällen ist die Krankenhauseinweisung die beste Alternative (im Krankenhaus kann man zum Beispiel Schmerzen besser kontrollieren), besonders wenn sie zu Hause alleine sind. Außerdem könnte es durchaus der Fall sein, dass Sterbende alleine sein wollen. Mit Aussagen wie „sterbende Menschen sollten nicht alleine sein“, „man muss immer mit sterbenden Personen offen über die Situation sprechen“, „man muss Sterbenden immer die Wahrheit über ihre Lebensperspektive sagen“ muss man vorsichtig sein. Aus einer pragmatischen Perspektive heraus sollten die relevanten Personen in jeder Situation die Freiheit haben, die besten Entscheidungen für sich zu fällen. Nicht nur Experten und Expertinnen, auch den Sterbende und ihre Angehörigen spielen eine bedeutende Rolle in Entscheidungsprozessen am Lebensende. Experten, Expertinnen haben Kenntnis über die biologischen und psychologischen Prozesse; die betroffenen Menschen aber haben Kenntnis über sich selbst. Die Aufgabe der Geistes- und Sozialwissenschaften ist es, nicht allgemeingültige Prinzipien aufzustellen, sondern die Machtbeziehungen in den konkreten Situationen in verschiedene Kulturen, sozialen Gruppen und Kontexten zu beschreiben, um dabei zu helfen, gerechte Entscheidungen zu fällen. nach oben
Beziehungsprobleme? Der Staat und seine Bürger_innen, 2. Teil