Die größere Krise

Roland Psenner

 

Wenn du wissen willst, wie ein System funktioniert, bring es an seine Grenzen! Das gilt für naturwissen­schaftliche Versuche ebenso wie für Ökosysteme oder – wie das gerade laufende Pandemie-Experiment zeigt – für menschliche Gemeinschaften und soziale Systeme. Nach der COVID-19-Epidemie werden wir wissen, wie weit wir gehen können, ohne politische, wirtschaftliche und soziale Strukturen auf lange Zeit oder sogar permanent zu verändern oder gar zu zerstören.

Auf der Suche nach dramatischen Beispielen braucht man – obwohl es naheliegend wäre – nicht auf die Spanische Grippe[1] zurückzugreifen, sondern nur auf die Finanzkrise 2008, in der es nicht einmal einen „äußeren Feind“ gab, der unsere Sozialsysteme auf Jahre in Turbulenzen stürzte und Länder am Bankrott vorbei­taumeln ließ. Das Neue in der Corona-Krise ist, dass nicht nur Fallzahlen, sondern auch Lern­kurven exponentiell ansteigen, während es in der Finanzkrise immer nur um more of the same ging, koste es was es wolle. Selbst politische Hard­liner zeigen sich im Verlauf der Corona-Krise begrenzt lern­fähig, was jedoch die Gefahr heraufbeschwört, dass frisch erworbenes Wissen in Panik umschlägt oder zu dikta­to­ri­schen Maßnahmen führt. Die ersten Reaktionen („Billionen für die Wirtschaft“) lassen vermuten, dass es eher nicht um die Rettung der Welt geht, sondern um möglichst rasche Rückkehr zu business as usual.

Die Erde, so scheint es, ist ungeeignet für unser Wirtschaftssystem, und nicht zuletzt die Corona-Pan­demie zeigt uns, wie fragil politische Gemeinschaften sind: die Kontinente driften auch politisch auseinan­der, die Europäische Union zerfällt in Nationalstaaten und selbst unab­lässig beschwo­renen Ein­hei­ten wie der Euregio werden ihre Grenzen im wahrsten Sinn des Wortes vor Augen geführt. Dem gegen­über stand und steht die Solidarität zwischen Jungen und Alten, Einheimi­schen und Fremden sowie zwischen Staats­bürgern ver­schiedener Nationen. Die Zerfallserscheinungen auf der einen und die Welle der Hilfs­bereit­schaft und Solidarität auf der anderen Ebene liefern vielleicht einen Hinweis, wie wir „die größere Krise“ meistern können, denn sie ist nicht verschwunden, sondern nur für einige Zeit aus dem Bewusstsein verdrängt worden: der Klimawandel geht so unaufhaltsam weiter wie das Arten­sterben, der Meeresspiegel steigt, Millionen Menschen verlieren ihre Lebens­grundlage …

Ja, es gibt offensichtliche Zusammenhänge zwischen Corona- und Klimakrise. Auf der Suche nach positiven Aspekten der Pandemie verweisen Wissenschaftler auf den signifikanten Rückgang an Stick­oxid-Emissionen in Hubei oder in der Poebene. Natürlich werden sich einige über leere Straßen und gerin­gere Emissionen freuen, man könnte sich sogar fragen, ob saubere Luft, reduzierter Autoverkehr usw. welt­weit mehr Menschenleben retten werden als dem Corona-Virus zum Opfer fallen. Trotzdem, wirt­schaft­­licher Stillstand wird die notwendige Transforma­tion von einer Verbrauchs- zu einer Kreislauf­wirtschaft („Green Economy“) nicht befördern.

Die größere Krise steht uns also noch bevor, nein, sie ist schon da, wir haben sie nur verdrängt. Schlimmer: wir vergrößern sie mit jedem Tag der Verdrängung. Das Zeitfenster für die Halbie­rung der Treibhausgas-Emissionen wird enger: 2010 blieben uns noch 30 Jahre, heute sind es nur mehr 10 Jahre, um das Ziel von 1,5°C zu erreichen. Die Abkommen von Kopenhagen 2009, Cancun 2010 oder Paris 2015 haben daran wenig geändert, die jährlichen Emissionen an Treibhausgasen stiegen im Gegenteil von 2008 auf 2018 um 14%.  Die Analysen des Welt­klimarates zeigen eine Differenz von 25%, wenn wir das 2°C Ziel bis 2030 erreichen wollen, oder von 55%, wenn wir die Erwärmung auf Werte unter 1,5°C begrenzen möchten. Da wir inzwischen davon ausgehen müssen, dass bei einer Erwärmung von 2°C eine nicht beherrschbare Kettenreaktion einsetzen wird, wird es langsam, allzu langsam, auch unbedarften Politikern klar, dass unsere natürlichen und sozio-ökonomischen Systeme überlastet sind.   

Prominente Kritiker befürchten in der Corona-Krise nicht nur die Zunahme der staatlichen Über­wachung, sondern dass es „danach“ möglicherweise keine Rücknahme der im Angesicht der Pandemie geduldeten Maßnahmen geben könnte. Wie China die Eindämmung der Epidemie gemeistert hat, ist für viele Bürger aus demokratischen Staaten wegen der Aufhebung der Freiheitsrechte nicht annehmbar, andere wiederum sehen das Hauptproblem in Massenarbeitslosigkeit und wirtschaftlichem Niedergang mit allen zu erwartenden Folgen, wenn der shutdown länger anhält. Dafür müssen Freiheitsrechte (für eine bestimmte Zeit) geopfert werden. Selbst die Apologeten der (Finanz-)Märkte schweigen – nach 2008 schon wieder – zum neuen Krisen­modus, in dem der Staat nicht nur die Wirtschaft retten muss, während die härtesten Kritiker der EU nach verpflich­tenden gemeinsamen Regeln aus Brüssel schreien. Übrigens: Frauen sind, wie Hans Heiss feststellte, aus dem öffentlichen Leben verschwunden, die starken Männer geben wieder den Ton an.

Welche Lehren wird man aus der COVID-19 Krise ziehen? Dass die richtigen Schritte nicht gesetzt wur­den, weil die meisten Regierungen (bis auf wenige Ausnahmen wie z.B. Korea oder Japan) zu spät reagiert und alle ausnahmslos in Quarantäne geschickt haben? Oder dass rasches, überlegtes, konsequen­tes und wissenschaftlich begleitetes Handeln uns vor dem Schlimmsten bewahrt hat?

So schrecklich die Corona-Pandemie auch sein wird, vor allem für jene, die bisher schon benachteiligt sind, sie wird vorbeigehen, während in der Klimakrise kein Ende in Sicht ist. Sie wird sich im Gegenteil verstärken und wir werden lernen müssen, dass es neben einer exponentiellen Zunahme (diese Mathematik haben wir inzwischen verstanden) eine positive Rückkopplung gibt: durch Erwär­mung aus­gelöste Verän­de­rungen führen zu weiterer Erwärmung.

Im Verlauf der Pandemie haben wir kapiert, dass Zeit die ent­scheidende Rolle spielt: wenn ich heute 10 Infizierte habe und sich deren Zahl täglich verdoppelt, werden es in einer Woche mehr als 1000 sein. Auch in der Klimakrise kommt es darauf an, rasch zu handeln, weil der Aufwand zur Erreichung der Ziele unablässig steigt. Wenn ich die Emissionen an Treibhausgasen jährlich nicht um 1 oder 2, sondern um 5 oder 8 Prozent reduzieren muss, habe ich kein mathematisches, son­dern ein gigantisches sozio-ökonomi­sches Problem – von den Auswir­kun­gen auf die Natur einmal abgesehen.

Es gibt aber eine Zeitskala, die von der Trägheit des globalen Klimasystems bestimmt wird. Sie ist für die meisten noch schwerer zu begreifen als das exponentielle Wachstum einer viralen Epidemie. Selbst wenn ich die Konzentration der Treibhaus­gase in der Atmosphäre von heute auf morgen konstant halten könnte, würde das globale Klima­system erst in Jahr­zehn­ten in ein neues Gleichgewicht geraten, der Meeresspiegel würde sogar über Jahrhunderte ansteigen. Was ich heute tue oder unter­lasse, wirkt sich höchstwahrscheinlich auf mich selbst, sicher aber auf meine Nachkommen aus.

Wir dürfen nach dem Ende der Pandemie deshalb nicht in den Vorkrisenmodus zurückfallen, sondern auf eine positive Erfahrung setzen: die allermeisten Menschen sind bereit, ihr Verhalten zu ändern, voraus­gesetzt, das Bedrohungsszenario ist drastisch und glaubwürdig. In der Erwartung, dass die Pandemie vorbeigehen wird, fällt die Anpassung klarerweise leichter als bei einer Krise, die uns Jahre und Jahrzehnte beschäfti­gen wird und nach deren Ende die Welt eine definitiv andere sein wird. Doch auch diese Transformation kann gelingen, wenn (inter-)nationale Regelungen die individuelle Verhaltensänderung nicht konter­karieren, sondern befördern und unsolidarisches Verhalten sanktionieren.

Roland Psenner, in Zeiten der Pandemie, März 2020

 

[1] Dass im Winter 2018/19 in Deutschland 25.000 Menschen naheuz unbemerkt an Influenza starben, beschäftigt bisher nur Virolog*innen. Jedes Jahr sterben 500.000 Menschen an Malaria, ich warte immer noch auf die globale Panik!

 

Roland Psenner ist Ökologe-Limnologe mit Schwerpunkt Alpine Seen und Klimageschichte. Seit den 1980er Jahren Beschäftigung mit Umweltproblemen zunehmender Dimension: Eutrophierung von Seen, Saurer Regen, Klimawandel. Prof. emeritus der Uni Innsbruck, Präsident von Eurac Research, Südtirol, Obmann des Vereins Wissenschaft und Verantwortlichkeit

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