Nach der Krise: Überwindung oder Bändigung des Kapitalismus?
Stephan Schulmeister
Vortrag und Diskussion
Donnerstag, 7. Mai 2020, 19:00 Uhr
Onlineveranstaltung via Zoom
Eigennutz, Konkurrenzfähigkeit, Selbst-Optimierung, „mehr privat, weniger Staat“– das war gestern. Heute zählen Solidarität, Zusammenstehen, Mitverantwortung und viel mehr Staat, egal, ob durch Beschränkung individueller Freiheit oder schrankenlose Staatsausgaben. Diese plötzliche „Wertewende“ spiegelt den gewaltigen Frust über das neoliberal-finanzkapitalistische Gesellschaftsmodell wider, der sich über Jahre aufgestaut und durch Corona entladen hat. Plötzlich ist klar: Wir können nicht mehr weiter machen wie bisher! Diese Überzeugung vereint europafeindliche Nationalpopulisten, europafreundliche Sozialstaats-Anhänger, Umweltschützer aller Art und unzählige vereinzelt Verbitterte.
Ob allerdings ein Kurswechsel in Richtung auf ein sozial und ökologisch nachhaltiges sowie stärker integriertes Europa gelingt oder ob die anti-neoliberale Rhetorik von Nationalpopulisten genutzt wird, um eine „Orbanisierung“ Europas voranzutreiben, hängt von vielen Faktoren ab: Einer empirisch fundierten Erklärung, warum sich in Europa eine umfassende Krise seit fast 50 Jahren langsam ausbreitete, ein daraus abgeleitetes Programm für eine ökonomische, soziale und ökologische Erneuerung des „Europäischen Modells“, das auch von einer Mehrheit der Unternehmen, insbesondere der Klein- und Mittelbetriebe unterstützt wird. Einfacher werden es die Nationalpopulisten haben, ihre Vorstellungen von zunehmend autoritär geführten Nationalstaaten durchzusetzen, sollte nach der Krise versucht werden, die dramatisch gestiegene Staatsverschuldung durch Erhöhung von Massensteuern und Sozialabbau zu bekämpfen.
Das sind also die beiden möglichen Alternativen: Ein sozial und ökologisch gebändigter (Real)Kapitalismus („zähmen“ lässt er sich nicht) als Basis für einen verstärkten europäischen Zusammenhalt oder zunehmende „Zentrifugaltendenzen“ auf Basis von Nationalismus und Populismus. Eine Überwindung des Kapitalismus steht (derzeit) nicht auf der Tagesordnung der Geschichte.
Stephan Schulmeister, geboren 1947, forschte von 1972 bis 2012 am von Friedrich A. von Hayek gegründeten Wirtschaftsforschungsinstitut WIFO in Wien und gehört zu den bekanntesten Ökonomen Österreichs. Seine Forschungsschwerpunkte sind die längerfristige Wirtschaftsentwicklung und das Verhältnis von Real- zur Finanzwirtschaft.